Michael Stürmer: Welt ohne Weltordnung. Wer wird die Erde erben?
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 31.10.2006
Michael Stürmer: Welt ohne Weltordnung. Wer wird die Erde erben? Murmann Verlag (Hamburg) 2006. 265 Seiten. ISBN 978-3-938017-61-6. D: 22,50 EUR, A: 23,20 EUR, CH: 39,50 sFr.
Die Ungewissheiten der Welt - zwischen Skepsis und Hoffnung
Die kürzliche Meldung in den Zeitungen, dass die neueste Liste der reichsten Menschen der Erde nur noch, weil es sonst zu viele wären, die Multimilliardäre aufführt; und als Gag die Information, dass einer derjenigen, die im oberen Drittel dieser Liste stehen, ein Amerikaner natürlich, in der Stunde etwa drei Millionen US-Dollar verdient, könnte als ein Witz der Weltgeschichte aufgefasst werden - wenn er nicht so ernst und real wäre. Die Liste der Habenichtse allerdings wird, weil sie viel länger und skandalträchtiger wäre, meist nicht in der Tagespresse veröffentlicht, sondern eher in den alternativen Medien - oder in Büchern wie dem hier zu besprechenden: Der Historiker für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Erlangen und seit 1998 auch Chefkorrespondent für Die Welt, Michael Stürmer, stellt in seinem Buch die Frage danach, wer denn, in den Zeiten der sich immer interdependenter (und chaotischer, zumindest aber unüberschaubarer?) entwickelnden Welt dieses Lebensgebilde der Menschen erben wird (oder will?). Es sind die hegemonialen, fundamentalistisch sich aufbauenden oder fatalistisch-depressiv sich gebenden Ordnungsvorstellungen, die das Dasein der Menschen Hier und Heute bestimmen.
Inhalt
- Wie auf einer Stufenleiter (oder einer Treppe ins Nichts?) analysiert der Autor die Entwicklung der weltpolitischen Lage vom Kalten Krieg bis zu den neuen nuklearen Drohgebärden eines agitatorisch geschulten Teheraner Präsidenten. Sein Denkspagat, den er dabei als quergelegtes globales Messinstrument benutzt, pendelt zwischen den Wirklichkeiten der traditionellen und neuen Weltordnern, den USA, dem niedergehenden Russland, den aufstrebenden asiatischen Mächten und den Möglichkeiten des (zu) langsam zusammen wachsenden Europas.
- Nach diesem historischen Parforceritt im ersten Teil des Buches folgt im zweiten die Auseinandersetzung mit den von den Europäern in solidarischer, gelegentlich euphorischer, meist aber von Misstrauen und Egozentrismen getragenen Motiven zur Bildung des "gemeinsamen Hauses Europa"; gefolgt von den vom Westen nicht immer zureichend verstandenen Ansprüchen der chinesischen Führer, sich im Konzert der Weltmächte als "Status-quo-Macht" aufzubauen; bis hin zu den heute unbestreitbar agierenden, wiederum von den Europäern oftmals sprach- und machtlos verfolgten hegemonialen Weltmachtselbstverständlichkeiten Amerikas, mit dem irritierenden, aber wirklich ernst gemeinten Selbstbewusstsein George W. Bushs, "the greatest force for good on this earth" zu sein.
- Im dritten Teil schließlich geht es um die "Potenzen der Zukunft", der Frage also nach den Mächten, die die zukünftige Weltordnung bestimmen könnten. Der (unaufhaltsame?) Aufstieg des Iran zur Atommacht, das "Hornissennest" im Irak, das lauernde und parat stehende Ägypten, der Vordere Orient - also das, was der Autor den "islamischen Krisenbogen" bezeichnet. Was aber würde geschehen, wenn die Amerikaner, die Vereinten Nationen und die europäischen Staaten sich als Puffer- und Schutzmächte aus dieser brodelnden Region zurück zögen? Die bereits in den USA sich darstellende Situation eines "imperial overstretch", also einer Überanstrengung und möglicherweise Überforderung der eigenen, von den jeweiligen Gesellschaften akzeptierten und mit getragenen Kräften, steht auch drohend vor den anderen aktuellen Ordnungsmächten. Die Szenarien in diesem "fünfdimensionalen Schachspiel mit 22 Mitspielern von Mauretanien bis Iran" malt sich Michael Stürmer offensichtlich nur widerwillig aus: Konflikte, konventionelle Kriege, terroristische Aktivitäten, bis hin zu nuklearen Bedrohungen. Dazu kommen die Abhängigkeiten der Industriestaaten vom Öl, Erdgas - und des Autors sicherlich unpopulärer Rat, zu einer "Entwöhnung vom Öl" zu kommen. Dann die Auseinandersetzung mit dem "asymmetrischen Krieg" des Terrorismus. Sein Bekenntnis dazu: "In diesem Krieg geht es nicht mehr darum, die Streitkräfte zur Verteidigung des Territoriums einzusetzen, sondern darum, Leben und Freiheit zu sichern und unsere Lebensform". Der während des Kalten Krieges sorgsam ausbalancierte Status quo zwischen den Nuklearbesitzern und den nuklearen Habenichtsen ist aus dem Gleichgewicht geraten. Diese eine "Säule der Weltordnung" ist also ins Wanken geraten. "Der Partisan mit der schmutzigen Waffe" hat die Weltbühne betreten, in der Gestalt von Staaten, wie Nordkorea, Iran… "Weltordnung ohne Eindämmung der Macht, die aus dem Atom kommt, ist nicht denkbar und wahrscheinlich nicht möglich", so das Fazit des Autors bei seinen Balance-Übungen.
- Nicht als Wahrsager oder Visionist, sondern mit dem Anspruch, die realen Asymmetrien auf der Erde zu erkennen und zu berücksichtigen, macht sich Michael Stürmer in seinem Schlussteil des Buches endlich daran, die Frage zu beantworten: "Wer wird die Erde erben?" Die vordergründigen Antworten, etwa diejenigen, die es verstehen, die weltweiten Märkte offen zu halten, über Informationstechnologien zu verfügen und sich ihrer zu bedienen, genug Energie sein Eigen zu nennen…, reichen nicht aus. Für den Autor müssen zu aller erst Freiheit und Sicherheit der Menschen gewährleistet sein. Diese unverzichtbaren Menschengüter allerdings müssen von allen Menschen beansprucht werden können. Dazu bedarf es der Lebenskunst des Einzelnen und der Staatskunst der Regierungen.
- Wenn auch nur auf zehn Seiten, stellt der Autor doch im Anhang des Buches neueste Karten und Grafiken zu geo-, sicherheitspolitischen, bevölkerungsgeographischen, religionsglobalen, technologischen und rohstofforientierten Daten zur Verfügung.
Fazit
Zahlreiche Fragen werden in der Querschnittarbeit zwar nur angedeutet, und etwa die Fragen der globalen Wohlfahrts- und Ernährungssituation gar nicht behandelt; aber in diesem "Tour d'Horizon" sind die Pfeiler der Welt(un)ordnung markiert. Sie einzuschlagen bedarf es anderer!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1667 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 31.10.2006 zu:
Michael Stürmer: Welt ohne Weltordnung. Wer wird die Erde erben? Murmann Verlag
(Hamburg) 2006.
ISBN 978-3-938017-61-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4094.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.