Tilman Allert: Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste
Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 22.02.2007

Tilman Allert: Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste. Eichborn (Frankfurt) 2005. 156 Seiten. ISBN 978-3-8218-5761-9. D: 14,90 EUR, A: 15,40 EUR, CH: 25,90 sFr.
Georg Simmels Philosophie des Geldes als Modell
Im Vorwort zur "Philosophie des Geldes" expliziert Georg Simmel die Methode seiner berühmten Untersuchung. Vom Oberflächlichsten und Kältesten im menschlichen Verkehr, dem Geld, wolle er eine Linie bis zu seinem Tiefsten und Bestimmtesten, bis in die letzten Werte und die "innere Substanz des Lebens" (Georg Simmel) hinab ziehen. Simmels methodisches Vorgehen zielt auf die Demonstration der Möglichkeit ab, "an jeder Einzelheit des Lebens die Ganzheit seines Sinnes zu finden."(Simmel 1977:VIII) Am Inbegriff des Materiellen und Ungeistigen, an der Affinität des Geldes zur Sachlichkeit des Intellektualismus und zum Formalismus des Rechts, zur oft geschmähten Rechenhaftigkeit und zur häufig beklagten Arbeitsteilung verdeutlicht Simmel die institutionelle Fundamentalmechanik des modernen Lebens, welche den okzidentalen Rationalismus in den modernen Kulturmenschen einpflanzt und als rationalistische Mentalität aus ihm hervor treibt. Einer anderen Wirkspur des Geldes folgend, zeichnet Simmel aber auch seine vergesellschaftende Bedeutung nach. Als Mammon verehrt und als Schmutz verachtet, verbindet das Tauschmittel, das jedem durch die Finger rinnt, Myriaden sich fremder Individuen mit seinen flüchtigen und abstrakten Fäden. Das Geld ist das unpersönlichste und gerade deshalb unentbehrlichste Mittel, welches das vielmaschige und verschiedenartige, das weit reichende und dynamische Gebilde der Moderne zu seiner fragilen Einheit verwebt.
Thema
In dieser kulturanalytischen Tradition steht die Untersuchung des Frankfurter Soziologen Tilman Allert über den "Deutschen Gruß". Simmel paraphrasierend lässt sich Allerts Essay über den Gruß als eine Fortschreibung des Projektes lesen, an der alltäglichen Einzelheit des Grüßens, an der "Sinnstruktur des Grußes"(Allert: 11) den Sinn von Gesellschaft als einer Ganzheit zu entwickeln. Jedoch ist diese Elementaranalyse über den hermetischen Bezirk einer rein soziologischen Verhaltenshermeneutik hinaus orientiert. Analog zu Simmels Studie über das Geld und die Moderne dient Allert die nationalsozialistische Form des so genannten "Deutschen Grußes" als leiblich-seelische Verhaltenschiffre, kraft derer nicht nur die "Geschichte einer unheilvollen Geste" geschrieben, sondern auch ein Sinn des Ganzen der nationalsozialistischen Führerdiktatur entschlüsselt werden soll.
Inhalt
Allerts hermeneutische Analyse des Grußrituals verfährt zunächst wie eine Art anthropologischer Anatomie, die das Grüßen aus seiner alltäglichen Selbstverständlichkeit löst, in seinen typischen Abläufen rekonstruiert und in seinen sozialen Sinnfacetten präpariert. Wer grüßt, macht sich dem anderen als personales und soziales Selbst zugänglich, gibt von sich etwas zugleich Privates und Öffentliches preis und tritt in einen Formenkreis der Reziprozitäten ein. Der Gruß ermöglicht recht eigentlich die Entfaltung des Menschen als eines sozialen und geselligen Wesens. Er ist der initiatorische Akt aller Interaktionen, der Impulsgeber für das Spinnrad der Vergesellschaftung. Ohne ihn gibt es keine Gesellschaft, die Bestand hat. Der Gruß enthüllt das Gesellschaftliche am Individuum und verhilft so mit einer bewusst adressierten Mimik und Körperbewegung, mit einem Wink oder einem Wort eine erste Orientierung darüber, mit wem Ego und auch Alter es zu tun haben, wie Ego und Alter zueinander stehen und ihr öffentlicher Austausch sich gestalten wird: "Eine Trias von Geben, Annehmen und Erwidern ist untrennbar mit dem Grüßen verbunden. Als das kürzeste Stück Gesellschaft, das Menschen in der unendlich reichhaltigen Choreographie ihrer Begegnungen miteinander aufführen können, schließt der Gruß die Tür zum Anderen auf, verteilt die Rollen, stellt Gegenwärtigkeit her und öffnet den Raum für Geschichte und Innovation. In jedem Gruß - selbst im verweigerten - spiegeln sich die Selbstbilder der Beteiligten und die Art und Weise, wie sie ihre Beziehung untereinander wahrnehmen." (Allert:10f)
Aber mit dieser Bestimmung ist noch nicht die Tiefendimension erreicht, auf die Allerts Analyse des Grüßens führt. Der Gruß als gesprochene oder signalisierte, sprachliche oder leibliche Manifestation ist eine der vielen sozialen Formen, die unsere gattungsmäßige "Diskontinuität" (Georges Bataille) und Selbstverstrickung aufhebt. Im Unterschied zur Erotik, die Bataille als Macht der Entgrenzung beschreibt, welche im Medium von Lust und Ekstase der Körper jenes konstitutionelle Für-sich-sein aufsprengt, flechtet das Grüßen uns Monaden in die leiblich-seelische Mitweltlichkeit nicht nur einer Person, sondern einer ganzen Personengruppe ein oder entlässt uns wieder in das Für-Uns-Selbst-Sein aus dem kollektiven Miteinander. Das Erlebnis des Nebeneinanders und existentiellen Für-sich-Seins, das Kinder und Denker aller Zeiten bei ihrem Innewerden schockt und philosophisch stimmt, kann durch den Gruß in die Gemeinsamkeit der Begegnung überführt werden.
Auf dieser Ebene der phänomenologischen Betrachtung erscheint der Gruß wegen der Abstraktheit und inhaltlichen Unterbestimmtheit seiner Gestaltung als ritualisierte Lösung des kritischen Ereignisses, der Krise der menschlichen Begegnung. Die kurze Geste kann Zugänglichkeit herstellen, die entweder gegenseitigen Respekt, Kooperation und Unversehrtheit verspricht oder aber Verletzung, Aggression und Feindseligkeit entfesselt. (Allert:28ff) Diese Ambivalenzen direkter Begegnungen wollen die Grußformeln und -formen zu Gunsten von Assoziation und Gemeinschaftlichkeit vorentscheiden, um den Ordnungsaufbau der Systeme direkter Interaktion nicht zu blockieren. Sie tun das, indem sie "Symmetrie zwischen den Beteiligten herstellen" (Allert: 33), die Grüßenden in eine "sozialräumliche und sozialzeitliche Gemeinsamkeit"(ebd.) einstellen und sie veranlassen, sich auf eine "gemeinsame Zukunft hin zu definieren" (ebd.).
Auf dieser elementaren Folie des Grußes analysiert Allert den so genannten "Hitlergruß" unter drei Gesichtspunkten: als sprachliche Formel, Geste und Schwur.
- Als sprachliche Formel bricht das "Heil Hitler" radikal mit tradierten Grußkonventionen, indem sie die Grüßenden zwingt, nicht je sich selbst, sondern einen "gedachten und nicht anwesenden Dritten zu vergegenwärtigen" (Allert:61), der zudem nicht wie beim "Grüß Gott" aus dem Bereich der Religion sondern aus dem der Politik stammt. In der Sinnstruktur des "Hitlergrußes" sind intentionale Unstimmigkeiten zusammen gespannt. Zum einen enthält er den Sinn von "Dir, Hitler, wünsche ich Heil", was der Präsenz zweier Personen widerspricht, die offensichtlich zwei "Nicht-Hitlers" sind und sich ihre interaktive Zugänglichkeit füreinander durch Referenz auf einen abwesenden dritten Menschen signalisieren. Zum anderen kann das "Heil Hitler" bedeuten: "Hitler heile dich!" (Allert:64), was wie eine hoffnungslose Überforderung, also auch komisch klingt, aber von den fanatischen und humorlosen Nazipropagandisten ˆ la Goebbels gewiss ernst genommen wurde und von der breiten Bevölkerung ernst genommen werden sollte. In Allerts Deutung lösen sich diese unmenschlichen Bizarrerien auf, "wenn man Hitler die Fähigkeit unterstellt, geltende Normalitätsstandards der Kommunikation außer Kraft setzen zu können. Das Charisma (Hitlers; R.U.) vermittelt und überbrückt die menschliche Begegnung schlechthin und ermöglicht einen Wechsel der Bezugsebenen von Wirklichkeit und Göttlichkeit - das „Grüß Gott“ wird durchgestrichen und durch „Heil Hitler“ ersetztÉIn der sprachlichen Substitution erfolgt die Sakralisierung der weltlichen Ordnung. Hitler wird als Schutz für die Begegnung angerufen, aber mehr noch: die sakrale Substanz, in die er transponiert wurde, lebt in den Beziehungen untereinander auf, sie wird ein die Wirklichkeit transzendierendes Medium." (Allert: 65)
- Als Geste, als leibliche Bewegung besteht der "Hitlergruß" aus flach und geschlossen ausgestreckter Hand und auf Augenhöhe ausgestrecktem Arm. In ihr kündigt sich ein soldatischer Gestus der unbedingten "Handlungsbereitschaft" (Allert) an, die alle personalen Befindlichkeiten dem organisierten Anankasmus militärischer Hierarchie und Disziplin unterwirft. Diese Anteile an Versteifung und eigenartiger Distanziertheit, oft auch an Hitlers persönlichem Auftreten bemerkt (Joachim Fest dixit), verdankt sich letztlich der Orientierung auf die Omnipräsenz der Nazizumutung, in jedem Augenblick das eigene Leben dem ultimativem Ziel von "Hitlers Weltanschauung" (Eberhard Jaeckel), der welthistorischen Aufgabe einer planetarischen Arisierung und Nazifizierung der Menschheit zu opfern.
- Deutlicher als in der Geste tritt im Schwurhaften des "Hitlergrußes" diese "Aufgabe" des mörderischen Nazikampfes zu Tage. Er "reproduziert die alltägliche Inszenierung eines wechselseitigen Appells, bereit zu sein für den Einsatz in einer bevorstehenden Ernstsituation des Kampfes." (Allert: 72) Der Schwurcharakter stiftet Zugehörigkeit zur ideologisch konstruierten Volksgemeinschaft und schließt jüdische Deutsche aus, die nicht "deutsch" grüßen durften. Sozialpsychologisch gesehen kommt in der Schwurzumutung ein "Akt der Demontage des Selbst" (Allert: 76) zum Ausdruck. Weil dieses Konnotationsmonstrum "Hitler" sich im Mittelpunkt des Grüßens breit macht und alle persönliche Anrede daraus verdrängt, "nähern sich (die Akteure) nicht, sondern distanzieren sich in dem Moment der Begegnung voneinander und geraten unter die Wirkung einer selbst erzeugten magischen Bannkraft, die sie als Fremde an einem Ort der Erhabenheit zusammen führt."(ebd.)
Mit diesem "Fremden" ist das Hitlersche Herrschaftscharisma und seine totalitären Geltungsansprüche angesprochen, die sich wegen ihrer charismatischen Traditionalitäts- und Rationalitäts-Fremdheit stets aufs neue im Bewusstsein der Herrschaftsunterworfenen erinnern und so aktualisieren müssen: "Der Charismaträger erhält auf diese Weise eine Sinnpräsenz in der Alltagswelt, wird zur zentralen Bezugsfolie für den Austausch schlechthin, aber in einer nur gedachten Idealität der Erreichbarkeit, unendlich entrückt."(ebd.) Der "Hitlergruß" ist daher kein Gruß im eigentlichen Sinne, sondern eine als Gruß maskierte Charismatisierung und Selbstcharismatisierung der Grußakteure zum Zwecke der Einbindung in die idealisierte "Führer"-Communitas (Victor Turner) der Nazis und ihres "deutschen Volkes". Doch, so konstatiert Allert, ein als Gruß kaschierter Schwur verkümmert die durch ihn bezweckte Verpflichtung zur Verbindlichkeit eines bloßen Appells. Der "Hitlergruß" dementiert die Geltung der eingeforderten Treue und grußhaft bezeugten Loyalität dadurch selbst, dass er sie im Alltag milliardenfach wiederholen muss und dadurch letztlich entwertet. Denn ein Schwur im echten Sinne ist nichts Alltägliches. Er wird nicht beliebig oft wiederholt. Er wird geleistet und gilt, und im Fest, in der außeralltäglichen Zusammenkunft erinnern sich die Schwurgenossen seiner Geltung und ihrer Verpflichtung.
In dieser "veralltäglichten Außeralltäglichkeit" (Allert: 78) des "Deutschen Grußes" sieht der Autor denn auch den Sinn des Ganzen des nationalsozialistischen Charismatismus eingekapselt. Und in der Tat ist dieser Widerspruch in sich, diese Paradoxie des "Hitlergrußes" in seiner Sinnstruktur den von Hitler verfolgten Verhaltensstrategien auf solchen Feldern strukturanalog, wo der weltpolitische Ruinierer und Vabanquier sich mit den Institutionen der Staatspolitik arrangieren musste. In den durchcharismatisierten Gemeinschaftskontexten der Partei und ihrer Gliederungen war das Charisma des Parteiführers, des Demagogen und des monomanen Tischredners bis kurz vor seinem Tod optimal mit den herrschaftstechnischen Effizienzinteressen kompatibilisiert und eine Veralltäglichung des Charisma nicht erforderlich und auch nicht möglich. In der Sphäre des Verfassungsrechts oder der Militärführung freilich bedurfte es schon spezieller Konstruktionen wie des "Hitlergrußes", um dem genuinen Charisma des "Führers" Geltung zu verschaffen. So sollte die Verfassung als Legitimationsquelle einerseits erhalten bleiben, andererseits aber sollte ihrer Rechtlichkeit keinerlei charismatische Willkürspielräume geopfert werden müssen; einerseits sollte zwar die Effizienz des Militärapparates voll ausgenutzt werden können, andererseits aber sollten die charismatischen Eingebungen des "Gröfaz" durch die militärisch-generalstabsmäßige Fachlichkeit gerade nicht versachlicht und eingeschränkt werden. So wurde die Weimarer Verfassung zwar suspendiert, aber niemals durch eine NS-Verfassung ersetzt, die Hitlers Charisma verrechtlicht, also an Gesetze gebunden und so veralltäglicht hätte. Die Einrichtung des OKW nach dem Sturz Blombergs und Fritschs 1938 und ihre Besetzung mit Jodl und Keitel sind ein weiteres Musterbeispiel einer solchen Doppelstruktur der "veralltäglichten Außeralltäglichkeit". Die beiden militärbürokratischen und militärstrategischen Experten waren charismatisch auf Hitler eingeschworen und bildeten das organisatorische Transmissionsstück, das seinen charismatischen Willen in die rationale Befehls- und Regelstruktur der Militärmaschine ohne Abstriche und Verluste übersetzte.
Allerts virtuose Hermeneutik des Nazi-Grußes schließt mit der interessanten Deutung, dass die massenhafte und bereitwillige Übung des nazistischen Grußrituals als eines zum Schwur entstellten Grußes eine entscheidende Erschütterung alltagsweltlicher Sittlichkeit bewirkte. Die im "Hitlergruß" ausgesprochene und zugleich sakralisierte Einsatzbereitschaft für das Fremde, für das ganz Andere mit Namen "Hitler", lief auf den selbst verantworteten "Verzicht auf Achtung" (Allert: 137) der je anwesenden Grußakteure hinaus. Durch diesen freiwillig geleisteten Verzicht haben die Deutschen nach Allert den Respekt vor der eigenen und vor der Humanität der Anderen zu allererst verlernt. Die massenhafte Bereitschaft, sich mit "Heil Hitler" zu grüßen, ließ im Fundament der gesellschaftlichen Sittlichkeit fatale Haarrisse der Inhumanität entstehen, die sich in den stets umfassenderen Zugriffen auf persönliche, politische und kulturelle Autonomie fortsetzten. Hier, so Allert, in der Selbstaufgabe der Grußsouveränität zu Gunsten des vergotteten "Führers" nahm das seinen Anfang, was schließlich zur kalten Raserei der organisierten Massenmorde eskalierte, den Begriff der Menschlichkeit zerstörte und in der nackten Barbarei der "absoluten Macht" (Wolfgang Sofsky) im Konzentrationslager gipfelte: "Wir kommen zu dem Ergebnis, dass kollektive moralische Perversionen nicht dem Durchbruch eines nationalen Habitus geschuldet sind, nicht der internalisierte Antisemitismus einer Nation, nicht die historische Einmaligkeit eines Verfolgungswahns oder autoritäre Dispositionen, vielmehr geraten das gebrochene Verhältnis zu sich selbst und der damit einhergehende Antizipationsverlust in eine stimulierende Eigendynamik, die den Austausch mit anderen spezifisch hemmt und in einer ritualistisch verzerrten Unmittelbarkeit gleichgültig machtÉ. Die Anstrengung des Sozialen hinter sich zu lassen, dem Geschenk des Anderen die Aufmerksamkeit zu verweigern bedeutet, ein Zerfallspotential sozialer Ordnung zuzulassen und in die zivilisatorische Regression, in den Verzicht auf die Anerkennung der Offenheit und Ambivalenz sozialer Austauschbeziehungen zu versinken."(Allert: 143)
Fazit
Tilman Allert ist mit seinem Essay ein Meisterstück soziologischer Hermeneutik gelungen, das das von Simmel initiierte Projekt, an der Einzelheit den Sinn des Ganzen zu erweisen, in überzeugender Weise fortführt. Allerts hermeneutische Virtuosität legt die objektive Sinnstruktur frei, an der sich der Verzicht auf Selbstachtung und auf Respektierung des Anderen in der Einzelheit des Grüßens als Voraussetzung derjenigen Inhumanität nachvollziehen lässt, die den Sinn des Ganzen der nationalsozialistischen Barbarei ausmachte.
Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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