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Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands

Rezensiert von Prof. Dr. Dieter Rink, 06.02.2007

Cover Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands ISBN 978-3-531-42923-6

Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2006. 4. Auflage. 428 Seiten. ISBN 978-3-531-42923-6. 16,90 EUR.
Mit einem Beitrag von Thomas Meyer.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-531-18629-0 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Thema

Die Erforschung der Sozialstruktur gehört zu den zentralen Themen der Soziologie, Gesamtdarstellungen ihrer Entwicklung sind allerdings rar. Das Werk von Rainer Geißler "Die Sozialstruktur Deutschlands" ist zum Zeitpunkt der 1. Auflage kurz nach der Vereinigung (1992) in eine Lücke gestoßen, die mit der mittlerweile vorliegenden vierten überarbeiteten und aktualisierten Nachauflage eindrucksvoll geschlossen werden konnte.

Inhalt

Das Buch trägt lehrbuchhaften Charakter und zeichnet sich durch einen übersichtlichen Aufbau aus. Einer Einführung in die Begrifflichkeit sozialer Ungleichheit folgt eine breite Beschreibung der historischen Entwicklung der Gesamtstruktur seit dem 19. Jahrhundert, die durch einen demographischen Überblick (Kapitel 3) und die Entwicklung der materiellen Lebensbedingungen (Kapitel 4) abgerundet wird. Im Kapitel 5 werden ausführlich die bekannten soziologischen Konzepte zur Erfassung sozialer Ungleichheit diskutiert: Klasse, Schicht und Milieu (S. 93 ff.). Geißler zeichnet hier die Abfolge der Großparadigmen in der deutschen Ungleichheitsforschung von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart gut nachvollziehbar nach. Die theoretische Debatte bleibt allerdings etwas folgenlos für das Buch, man kann zwar den Weg der deutschen Sozialstrukturdebatte in die gegenwärtige Paradigmenpluralität verfolgen und der Autor verortet sich auch klar in dieser Debatte, warum er allerdings das "Dahrendorfsche Haus" aus den 1960er Jahren in einer leicht modernisierten Variante als Grundlage für seine Darstellung nimmt, erfährt man nicht.

Die Struktur des Dahrendorfschen Hauses gibt dann das Gliederungsschema für die weiteren Kapitel ab, wobei die Darstellung der einzelnen sozialen Gruppen - Eliten, Selbständige, Dienstleistungsschichten, Arbeiterschichten, Randschichten und ethnische Minderheiten (Kapitel 6-11) - der Vorgehensweise von Theodor Geiger folgt und jeweils die soziale Lage sowie die Mentalität der jeweiligen Gruppe im Zeitverlauf skizziert. Dazu werden jeweils vielfältige Informationen über die Tätigkeits- und Qualifikationsstruktur, innere Differenzierungen der Gruppen, den rechtlichen Status und die Einkommen gegeben. Geißler greift dabei auf umfangreiches Material aus Statistiken, Umfragen und Sekundäranalysen zurück. Ein Mangel ist freilich, dass in diesen Teilen wenig auf geschlechtsspezifische Unterschiede eingegangen wird. Dem ist zwar ein eigenständiges Kapitel gewidmet (Kap. 14), allerdings gelingt es hier nicht, den Facettenreichtum der vorangegangenen Kapitel einzufangen, die den einzelnen sozialen Gruppen gewidmet sind. Ost-West-Unterschiede werden demgegenüber durchgängig verfolgt, dies verdient besondere Würdigung, da derartige Vergleiche bzw. Gegenüberstellungen keineswegs üblich sind. Allerdings entsteht so kaum ein Gesamtbild der Sozialstruktur Deutschlands, vielmehr werden die beiden Teilgesellschaften quasi parallel verfolgt. Sehr begrüßenswert ist auch die eigenständige Berücksichtigung ethnischer Gruppen in der Systematik sowie im Kapitel 11. Vergleiche mit anderen europäischen Gesellschaften sind in den Text eingestreut, werden aber nicht systematisch verfolgt.

Den Kapiteln zu den einzelnen sozialen Gruppen folgen systematische Kapitel über Mobilität (Kap. 12), Bildung (Kap. 13), geschlechtsspezifische Unterschiede (Kap. 14) und den Wandel privater Lebensformen (Kap. 15). Diese ebenfalls empirisch wie theoretisch gehaltvollen Darstellungen heben sich wohltuend von derzeit gängigen Deutungen ab. So kommt Geißler etwa im Kapitel zur Mobilität zu dem Befund, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik in den vergangenen 50 Jahren nur geringfügig mobiler geworden (S. 256) - das korrigiert erheblich etwa Becks These vom Fahrstuhleffekt, wonach praktisch die gesamte deutsche Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten mobil gewesen ist. Das Kapitel zur Bildungsentwicklung mündet im Befund von "mehr Bildungschancen - aber wenig Bildungsgerechtigkeit" und in einer starken Kritik an der Sozialstrukturforschung. Die "neue Theorie der Klassenlosigkeit, die den Mainstream der deutschen Sozialstrukturanalyse lange Zeit dominiert" hätte, habe fortexistierende schichttypische Bildungschancen sowie deren Ursachen aus dem Blick geraten lassen (S. 297). Geißler stellt sich engagiert in die Tradition kritischer Ungleichheitsforschung und schreibt nicht nur gegen den Mainstream der Sozialstrukturanalyse an, sondern übt selbst an vielen Stellen Kritik an zunehmender sozialer Ungleichheit, insbesondere in den Kapiteln zur Elite (S. 121 ff.), zu sozialen Randgruppen (S. 201 ff.) und zur Ungleichheit zwischen Männern und Frauen (S. 301 ff.). Freilich steht diese Kritik auch etwas unvermittelt neben seiner strukturfunktionalistisch eingefärbten These von der effizienzsteigernden Wirkung der sozialen Ungleichheit.

Die Modernisierungstheorie dient schließlich im Schlusskapitel als übergreifendes Erklärungskonzept für die Entwicklung der deutschen Sozialstruktur. Dies gestattet eine durchgängige Sicht auf beide deutsche Staaten bzw. auf die Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands seit der Vereinigung. Während sich die sozialstrukturelle Entwicklung im Westen durch eine "relative Kontinuität" auszeichne (S. 359), sei sie im Osten durch starke Umbrüche geprägt. Geißler interpretiert die Entwicklung im Osten seit der Vereinigung als "nachholende Modernisierung mit Widersprüchen" (S. 367 ff.) und Ostdeutschland wird als "Ausnahmezustand" (S. 355) bzw. als Übergangsphänomen gedeutet. An dieser Stelle fragt sich aber, ob die derzeitige Sozialstruktur in Ostdeutschland immer noch nur rückständig ist oder nicht vielmehr Zustände vorweg nimmt, wie sie bald auch in Westdeutschland bzw. in ganz Europa anzutreffen sein werden. Hier wie auch an anderen Stellen zeigt sich das Buch der Sozialstrukturdiskussion der 1990er Jahre verhaftet, die neuere Demographie- und Schrumpfungsdebatte hat darin kaum Eingang gefunden.

Fazit

Die benannten - wenigen - Kritikpunkte schmälern indes nicht den Wert der Arbeit, seine Stärken bestehen in anschaulichen Darstellungen, in Argumentationen, die nach Möglichkeit an empirischen Daten überprüft werden und eingängigen Erklärungen zentraler Begriffe.

Das macht es für seine Zielgruppe - Studenten sozialwissenschaftlicher Studiengänge - in idealer Weise geeignet. Die Deutungen heben sich wohltuend von Dramatisierungen ab und zeichnen sich vielmehr durch ihre Differenziertheit aus, zudem beruhen sie stets auf der Analyse von Daten oder wenigstens auf informierten Schätzungen. Rainer Geißler bemüht sich, nicht nur Bekanntes zusammenzufassen sondern den jeweils neuesten Forschungsstand aufzuarbeiten. Im Ergebnis der Überarbeitungen und Aktualisierungen ist eine umfassende Gesamtdarstellung der Sozialstruktur Deutschlands entstanden und man kann sagen, dass sich das Buch über die Auflagen hinweg zu dem Standardwerk über die Sozialstruktur und soziale Ungleichheit in Deutschland entwickelt hat.

Rezension von
Prof. Dr. Dieter Rink
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ, Department Stadt- und Umweltsoziologie
Zugleich Honorarprofessor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Mittweida, Fachbereich Soziale Arbeit
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Es gibt 5 Rezensionen von Dieter Rink.

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ISSN 2190-9245