Rudolf Welter, Matthias Hürlimann et al.: Gestaltung von Betreuungseinrichtungen für Menschen mit Demenzerkrankungen
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 19.08.2007

Rudolf Welter, Matthias Hürlimann, Katharina Hürlimann-Siebke: Gestaltung von Betreuungseinrichtungen für Menschen mit Demenzerkrankungen.
Demenzplus Hürlimann + Welter
(Zürich) 2006.
136 Seiten.
ISBN 978-3-033-00964-6.
43,00 EUR.
CH: 73,00 sFr.
(Inkl. CD).
Thema
Die Lebenswelt Demenzkranker in den Heimen wird einerseits durch ihre Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit innerer und äußerer Reizkonstellationen und andererseits durch die physischen und sozialen Gegebenheiten ihrer Umwelt bestimmt. Je stärker diese Umwelteinflüsse an das Bewältigungsvermögen der Betroffenen angepasst sind, desto geringer gestaltet sich das Ausmaß an Stress und Überforderung. Diese angestrebte Passung von Person und Umwelt lässt sich an einer Reihe von Faktoren ablesen: u. a. Orientierung (Wird das eigene Zimmer oder der Gemeinschaftsbereich gefunden?), Geborgenheit und Heimeligkeit (Ist der Bewohner in soziale Kontakte eingebunden?), Bewegungsflächen (Besteht Gelegenheit zu Hindernisfreiem Wandern?) und Schutzfunktionen (u. a. Vermeidung des unbeaufsichtigten Verlassens des Wohnbereiches). Diese Aspekte sind in den letzten Jahrzehnten bereits in vielen Ländern eingehend u. a. im Kontext einer Demenzarchitektur bearbeitet worden und wurden schon in vielen Einrichtungen in konkrete Raum- und Milieuelemente umgesetzt.
Die vorliegende Veröffentlichung wird dem Anspruch nach als ein Arbeitsbuch mit Empfehlungen zur räumlichen und organisatorischen Gestaltung der stationären Einrichtungen bezüglich der Pflege und Betreuung Demenzkranker bezeichnet, das sich u. a. an Behörden, Träger, Heimleitungen und Architekten als Zielgruppen wendet. Bei den Autoren handelt es sich um zwei Architekten, die gemeinsam ein Beratungsbüro ("Demenzplus") in der Schweiz betreiben, und eine Wirtschaftswissenschaftlerin, zu deren Tätigkeitsbereich u. a. Projekte über Wohnformen für ältere und behinderte Menschen gehören.
Inhalt
In den ersten drei einführenden Kapiteln erläutern die Autoren neben den schon obligatorischen Hinweisen auf die demografische Entwicklung und die Grundlagen der Demenzen (u. a. Krankheitsverlauf und Symptomatik) ihre Grundeinstellung zu dieser Thematik: Normalisierungsprinzip, Gemeindenähe und Dezentralisierung. Diese "ganzheitliche, systematische und ressourcenorientierte Sichtweise" wird in ein "Viersäulenmodell" (Architektur, Organisation, Kommunikation und psychosoziale Bedingungen) als Leitkonzept für das Arbeitsbuch zusammengefasst.
Das Kernstück des Buches (Kapitel 4 - Empfehlungen für die Projektentwicklung und die Gestaltung von Einrichtungen, Seite 33 - 79) enthält zu Beginn die neun Stationen einer Projektentwicklung (vom Anstoß zu einer Projektentwicklung bis hin zur Evaluation einer bestehenden Betreuungseinrichtung). Hieran anschließend werden eingehend die kontroversen Versorgungsstrategien ("gemischte Betreuung" und "spezialisierte Betreuung") und die Organisations- und Raumkonzepte einer Demenzwohngruppe innerhalb der stationären Einrichtung (Typ integriert, Typ Annex, Typ Teilautonom und Typ Autonom) hinsichtlich ihrer Potenziale und Grenzen beschrieben. Es folgt die Erarbeitung einer Projektskizze und die Ausarbeitung eines Grobkonzeptes unter Nutzung der Gestaltungsempfehlungen: Raumgestaltung innen und außen, Sicherheit und Orientierung, Farbgestaltung und Materialien, Ausstattung und Möblierung, technische Hilfsmittel und Sanitärtechnik. Diese Empfehlungen werden wie folgt strukturiert dargeboten: Aussage - Begründung - Kommentare und Beispiele (u. a. Fotos und Skizzen).
Das abschließende Kapitel 5 (Arbeitsinstrumente für die Projektentwicklung, Seite 83 - 91) zeigt die verschiedenen Schritte und Strategien bei der Entwicklung eines Projektes im Bereich Demenzwohngruppe auf: Besuche beispielhafter Einrichtungen, Planspiele (Innengestaltung eines Doppelzimmers), Möblierungsübungen, Modellarbeit (Entwicklung von Nutzungsvarianten einer Einrichtung), Verwendung von Lösungen aktueller Projekte und die Einbeziehung von Fachleuten und Herstellern.
Ein umfangreicher Anhang (Seite 96 - 135) mit folgenden Abschnitten enthält weitere Informationen und Hinweise: u. a. weitere Anwendungsbeispiele und Kommentare (überwiegend Fotos und Skizzen), Checklisten und Gesprächsleitfaden, Glossar, Adress- und Literaturverzeichnis.
Kritische Würdigung
Die vorliegende Arbeit zielt vorrangig auf die Altenhilfestrukturen der Schweiz, die sich in verschiedenen Bereichen (Zuständigkeit, Finanzierung und Ausstattung) von den entsprechenden Verhältnissen in Deutschland unterscheiden. Abgesehen von den länderspezifischen Aspekten der Altenpflege lassen sich einige kritische Anmerkungen über die allgemeinen Grundeinstellungen der Autoren machen.
- Fehlendes Strukturprinzip für die Raumgestaltung. Untersuchungen und auch Beobachtungen in den Heimen haben das Bedürfnis Demenzkranker nach sozialer Eingebundenheit und Nähe bestätigt. Raum- und Milieukonzepte tragen dem Rechnung, indem eine Verdichtung und Verstetigung aktiver und passiver sozialer Kontakte durch verschiedene Ansätze (Präsenzmilieu, Verknüpfung von Bewegungsflächen mit Gemeinschaftsbereichen, Wohnzimmermilieus u. a.) angestrebt wird. Die Raumelemente werden dementsprechend gemäß dem Primat des sozialen Zusammenseins geplant und gebaut, denn Räumlichkeiten ohne Sozialbezüge (Gruppenräume, weitere Gemeinschaftsräume etc.) sind meist "tote Flächen", das heißt, sie werden von den Bewohnern nicht aufgesucht und somit auch nicht genutzt. Dieses Strukturprinzip gilt es als Grundlage für jede Planung in stationären Einrichtungen zu berücksichtigen.
- Fehlender Stand der Forschung . Bezüglich der Raum- und Milieustruktur für Demenzkranke in den Heimen liegen zwischenzeitlich Erkenntnisse vor, die eindeutig die Homogenisierung der Bewohnergruppen als optimale Lebenswelt belegen. Demenzkranke gesellen sich vorrangig mit Demenzkranken und kognitiv nicht beeinträchtigte Bewohner favorisieren Kontakte mit ihresgleichen. Jede Form einer gemeinsamen Lebenswelt ("gemischte Betreuung") ist in der Regel mit erhöhtem Stress für beide Bewohnergruppen verbunden und somit suboptimal. Dieser Wissensstand wird in dem Arbeitsbuch wiederum nicht vermittelt.
- Normalitätsbegriff. Eine äußerst unklare Begrifflichkeit eines "Normalisierungsprinzips" wird von den Autoren als Argumentationsrahmen für die Einschätzung verschiedener Raum- und Milieuelemente verwendet, die auf eine Alltagsbezogenheit kognitiv nicht beeinträchtiger Personen rekurriert. In den Modellen demenzspezifischer Lebenswelten hingegen wird der Normalitätsbegriff verwendet, um die Einbeziehung lebensgeschichtlich bedeutsamer Umweltkomponenten angemessen zu berücksichtigen (Tagesstruktur, Beschäftigung, Möblierung und Mahlzeitengestaltung), die letztlich Schlüsselreizfunktionen für das Gelingen einer krankheitsangemessenen Person-Umwelt-Passsung besitzen.
- Gruppengröße. Die Autoren favorisieren eine Gruppengröße von 8 - 12 Bewohnern für einen Demenzwohnbereich. Dies mag vielleicht für die Verhältnisse in der Schweiz angemessen erscheinen, bezogen auf die Personalbesetzung in deutschen Heimen jedoch ist die Platzzahl zu niedrig, will man die Versorgung eines Wohnbereiches durch nur eine Pflegende pro Schicht vermeiden. Da die Demenzpflege aus Gründen der Stressbewältigung nur gemeinschaftlich durchgeführt werden kann, sollte ein Demenzwohnbereich in Deutschland somit mindestens 18 Plätze vorhalten.
Neben diesen Mängeln enthält die Veröffentlichung auch eine Reihe von positiven Faktoren im Bereich der Raum- und Milieugestaltung, die es anzumerken gilt:
- Ca. 120 Fotos aus ca. 10 Einrichtungen aus der Schweiz und Süddeutschland mit konkreten Beispielen zu Raum- und Milieuaspekten
- Überschaubare Grundrisse und Entwurfsskizzen
- Viele praktische Hinweise (z. B. zur Schallisolation, Bodenbelag, Möblierung und Wandgestaltung)
- Innovative Elemente wie z. B. ein künstlich geschaffener Rundlauf am Ende eines Korridors und Zusammenlegen von Einbettzimmern zu einem Doppelzimmer mittels Türen.
Fazit
Das vorliegende Arbeitsbuch wird dem Anspruch nicht gerecht, Leitkonzepte und allgemeine Empfehlungen für die Planung von Demenzwohnbereichen anzubieten.
Auf der Ebene der kleinräumigen Konkretisierung vermag es jedoch aufgrund der vielen Beispiele Anregungen für die Ausgestaltung der Räume und Flächen zu vermitteln.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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