Norbert Groeben, Bettina Hurrelmann (Hrsg.): Medienkompetenz: Voraussetzungen, Dimensionen, Funktionen
Rezensiert von Prof. Dr. Lothar Mikos, 07.01.2003

Norbert Groeben, Bettina Hurrelmann (Hrsg.): Medienkompetenz: Voraussetzungen, Dimensionen, Funktionen. Juventa Verlag (Weinheim) 2002. 318 Seiten. ISBN 978-3-7799-1350-4. 25,00 EUR. CH: 45,00 sFr.
Einführung in die Themenstellung
Medienkompetenz ist ein Begriff, der bisher vor allem als heuristisches Konzept entwickelt ist. Er beschreibt die Fähigkeiten, die ein Subjekt haben soll, um kompetent mit Medien umgehen zu können. In der kultur- und bildungspolitischen Diskussion ist er zu einem Schlagwort geworden. "Der Begriff Medienkompetenz stellt im Prinzip lediglich einen Reflex davon dar, dass die wichtigste Dimension des sozialen Wandels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Entwicklung zur sog. Mediengesellschaft war" (S. 11). Ziel des vorliegenden Buches ist es, eine interdisziplinäre und präzise Ausarbeitung des Begriffs zu leisten. Hervorgegangen sind die Beiträge aus der interdisziplinären Kooperation im Rahemn des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Schwerpunktprogramms "Lesesozialisation in der Mediengesellschaft".
Inhalt
Der Band gliedert sich in 5 Teile.
Im ersten Teil stellt der Psychologe Norbert Groeben die Anforderungen an eine theoretische Konzeptualisierung des Begriffs Medienkompetenz dar. Die fünf Beiträge im zweiten Teil zeichnen die historische Entwicklung von der Lese- zur Medienkompetenz nach. Gabriele Müller-Oberhäuser beschreibt die Lesesozialisation im Viktorianischen England. Gisela Wilkending setzt sich mit den pädagogischen Implikationen der Mädchenlektüre in der Kaiserzeit auseinander. Bettina Hurrelmann, Susanne Becker und Sabine Elias behandeln die Rolle von Erziehungsratgebern in der Biedermeier- und der Kaiserzeit bei der Subjektbildung. Petra Heyer und Gerhard Rupp loten die Möglichkeiten der Interaktivität als Chance kultureller Praxis im Umgang mit den neuen Medien aus. Abschließend stellt Bettina Hurrelmann die normative Leitidee des "gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts" als Rahmen für Medienkompetenz dar.
Im dritten Teil setzten sich drei Beiträge mit Geschichte und Struktur von Medienkompetenz auseinander. Tilmann Sutter und Michael Charlton zeigen die Möglichkeiten und Grenzen des Begriffs Medienkompetenz auf, wobei sie sich auf die Explikation von Kompetenz konzentrieren. Cornelia Rosebrock und Olga Zitzelsberger stellen den Begriff als Zielperspektive im Diskurs von Pädagogik und Didaktik vor. Norbert Groeben setzt schließlich den theoretischen Rahmen, in dem er die Dimensionen des Medienkompetenz mit ihren deskriptiven und normativen Aspekten darstellt.
Die fünf Beiträge im vierten Teil zeigen die empirischen Möglichkeiten auf, die mit dem Begriff Medienkompetenz und seinen Dimensionen gegeben sind. Jürgen Flender und Ursula Christmann setzen sich mit Lernstrategien bei linearen Texten und Hypertexten auseinander. Margit Schreier und Markus Appel zeigen am Beispiel eines Films und seiner Präsentation sowie Diskussion im Internet, welche Rolle Realitäts-Fiktions-Unterscheidungen für die Medienkompetenz spielen. Gerlind Schulte Berge, Silja Schoett und Christine Garbe stellen anhand der biographischen Entwicklung zweier Jugendlicher den Zusammenhang von familialer Gewalterfahrung und der Rezeption von Gewaltdarstellungen im Fernsehen dar. Günther Rager und Petra Werner überprüfen anhand von acht Thesen die Nutzung der Tageszeitung. Kathrin Schiffer, Marco Ennemoser und Wolfgang Schneider untersuchen die Mediennutzung von Kindern und Zusammenhänge mit der Entwicklung von Sprach- und Lesekompetenz.
Im fünften Teil fasst Bettina Hurrelmann die Ergebnisse der einzelnen Beiträge noch einmal zusammen und zeigt so die Chancen eines multidimensionalen Medienkompetenz-Begriffs auf, der sich an der normativen Leitidee des gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts orientiert.
Kritische Würdigung
Wie in allen Sammelbänden gibt es mehr oder weniger gute Beiträge. Insgesamt ist das Niveau jedoch recht hoch. Der Band wird vor allem dadurch interessant, dass die Entwicklung eines Konzepts von Medienkompetenz hier nicht direkt für eine medienpädagogische oder bildungspolitische Praxis instrumentalisiert wird. In einer Fortführung der an der kommunikativen Kompetenz orientierten normativen Leitidee der Medienkompetenz, wie sie von Dieter Baacke in den siebziger Jahren formuliert worden war und dessen in der Folge in der Medienpädagogik benutzten heuristischen Bestimmung des Begriffs, bilden sowohl die historischen als auch die theoretischen Beiträge dieses Bandes den bisher überzeugendsten Versuch einer theoretischen Weiterentwicklung des Konzept.
Das zeigt sich vor allem in den Beiträgen der beiden Herausgeber. Während Bettina Hurrelmann eindruckvoll die Leitidee des "gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts", die als Rahmen den Dimensionen der Medienkompetenz vorgelagert ist, entwickelt, legt Groeben ein multidimensionales Modell von Medienkompetenz vor. Ein medienkompetenter Mensch muss sich in den verschiedenen Handlungsdimensionen, dem instrumentellen, strategischen, normengeleiteten, expressiven und genussorientierten Handeln, als kompetent erweisen, so Hurrelmann. Dabei muss die gesellschaftliche Einbettung nicht nur der Medienkompetenz, sondern der Menschen generell berücksichtigt werden. Sie können nicht außerhalb der gesellschaftlichen Strukturen handeln, in denen sie leben Ð und diese Strukturen sind dem sozialen Wandel ausgesetzt. In der Gegenwart heißt dies, dass ein handlungsfähiges Subjekt sich der Pluralisierung von Wirklichkeitsbildern, der Individualisierung von Lebensgeschichten und der Mediatisierung der Weltbezüge bewusst sein muss. "Gesellschaftlich handlungsfähig ist das Subjekt unter diesen Bedingungen vermutlich aufgrund eines flexiblen, toleranten und dialogischen Umgangs mit Alterität in sich selbst und anderen in der unmittelbaren sozialen Interaktion und aufgrund eines kritisch-konstruktiven, aber auch distanzierten bis spielerischen-ironischen Umgangs mit den anonymen Anforderungen von Institutionen und Systemen" (S. 122). Allerdings, das muss hier kritisch angemerkt werden, ist damit lediglich ein normatives Konzept vorgestellt. Eine empirische Überprüfung würde zeigen, dass kaum ein Mensch in der Bundesrepublik diesem normativen Anspruch genügen würde. Auf der anderen Seite zeigt sich darin die Notwendigkeit, des lebenslangen Lernens, das unablässlich für die Herausbildung eines kompetenten Subjekts ist Ð egal unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen.
Sieben integrative Dimensionen zeigen nach Groeben die Spannbreite dessen auf, was unter Medienkompetenz zu fassen ist: Medienwissen/Medialitätsbewusstsein, medienspezifische Rezeptionsmuster, medienbezogene Genussfähigkeit, medienbezogene Kritikfähigkeit, Selektion/Kombination von Mediennutzung, (produkive) Partizipationsmuster und Anschlusskommunikation. Die Anschlusskommunikation steht im Prozess der Verarbeitung von Medienangeboten am Schluss, ist aber strukturell zugleich eine Voraussetzung für die Entwicklung der übrigen Teildimensionen der Medienkompetenz. "Diese Multifunktionalität der medialen Kommunikation/Anschlusskommunikation innerhalb und zwischen Medien macht nicht nur die mediale Vernetztheit der Mediengesellschaft deutlich, sondern ist auch ein Indikator für die grundlegende Funktion der Anschlusskommunikation in Richtung auf Entwicklung des Individuums zum gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt: indem nämlich die persönliche Identität ganz grundsätzlich in der sozialen Kommunikation konstruiert wird als partielle Übereinstimmung mit bzw. Abweichung von sozial (und das heißt auch medial) durch die Gesellschaft angebotenen bzw. vorgegebenen Identitätsmustern" (S. 179). Zugleich zeigt sich in den Dimensionen der Medienkompetenz, dass nur eine interdisziplinäre theoretische und empirische Zusammenarbeit die bisherigen Forschungsdefizite beheben kann.
Besonders hervorzuheben sind die Beiträge von Sutter/Charlton und Rosebrock/Zitlelsberger, die sich mit der Geschichte des Begriffs Medienkompetenz und seiner Verwendung im Diskurs der Pädagogik auseinandersetzen. Deutlich wird dabei die teilweise mangelnde theoretische Ausdifferenzierung und die Instrumentalisierung des Begriffs. Während die empirischen Beiträge von Schulte Berge/Schoett/Garbe und Schiffer/Ennemoser/Schneider zu wichtigen neuen Einsichten verhelfen, sind die Beiträge von Flender/Christmann und Schreier/Appel dadurch gekennzeichnet, dass sie in ihren theoretischen bzw. heuristischen Implikation teilweise weit hinter den derzeitigen Erkenntnisstand in der Medien- und Kommunikationswissenschaft zurückfallen.
Fazit
Insgesamt bietet der Band einen umfassenden Einblick in die Diskussion um Medienkompetenz und leistet zu dem eine theoretische Weiterentwicklung des Konzepts. Die geforderte interdisziplinäre Zusammenarbeit sollte sich jedoch nicht nur auf Psychologie, Erziehungswissenschaft und Soziologie beschränken, sondern auch die Medien- und Kommunikationswissenschaft einbeziehen, um die Teildimensionen der Medienkompetenz angemessen füllen zu können. Das Buch ist das derzeit umfassendste zum Thema, das durch theoretisches und empirisches Niveau besticht.
Rezension von
Prof. Dr. Lothar Mikos
Professor für Fernsehwissenschaft
Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf", AV-Medienwissenschaft
Es gibt 16 Rezensionen von Lothar Mikos.