Gabriele Dietze, Sabine Hark (Hrsg.): Gender kontrovers. Genealogien und Grenzen einer Kategorie
Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 01.03.2007
Gabriele Dietze, Sabine Hark (Hrsg.): Gender kontrovers. Genealogien und Grenzen einer Kategorie. Ulrike Helmer Verlag (Sulzbach/Taunus) 2006. 262 Seiten. ISBN 978-3-89741-215-6. 20,00 EUR. CH: 36,10 sFr.
Thema
Das vorliegende Buch, eine Aufsatzsammlung, thematisiert die wissenschaftliche Leitkategorie "Gender". Es fragt, wie sie sich entwickelt hat, wovon sie sich abgrenzt, wodurch sie strukturiert ist, wo ihre Fehler bzw. Schwachpunkte liegen und was wir von ihr erwarten können. Erkenntnistragend ist die Ansicht, dass es sich bei der Kategorie "Gender" um Dynamiken handelt, um "problematische Erbschaften", deren Konsequenzen bis in unser intimes Alltagsleben reichen und in ihren Wirkungen nahezu nicht vorherzusagen sind.
Entstehungshintergrund und Aufbau
"Gender kontrovers" - und damit übernehme ich einen Text aus der Einleitung zu diesem Buch - "... geht auf das wissenschaftliche Colloquium "Gender Reconsidered" zurück, das im Juli 2003 anlässlich der Emeritierung einer der renommiertesten deutschen Gender-Forscherinnen, der Amerikanistin Renate Hof, an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Ihr ist dieses Buch gewidmet" (S. 17).
Neben der Einleitung, die von den Herausgeberinnen Gabriele Dietze (Amerikanistin, Berlin) und Sabine Hark (Soziologin, Berlin) verfasst wurde, enthält "Gender kontrovers" insgesamt acht Artikel.
Inhalt
- In Artikel eins (S. 19-45) untersucht Sabine Hark "rhetorische Phänomene". Dies sind stilistische (Metaphern, Ironie, Sarkasmus) und syntaktische Mittel (Antithesen, Umkehrungen, Wiederholungen), die sie in wissenschaftlichen Texten findet. In diesem gegenüber der eigenen Zunft kritisch eingestellten Beitrag plädiert Frau Hark dafür, die "Geschichte feministischer Theorie als Geschichte eines zu jedem gegebenen Zeitpunkt komplexen Feldes widerstreitender und inkommensurabler theoretischer Positionen zu rekonstruieren" (S. 38).
- Gabriele Dietze bearbeitet im zweiten Artikel (S. 46-68) die Genealogie
des Begriffs "Gender Studies" aus Sicht der feministischen
Theorie. Ihre Befürchtung ist,
dass die "Ankunft der Kategorie Gender auf dem Feld der
feministischen Studien" (S. 47) zunächst zwar mit Freude begrüßt
wurde, im darauffolgenden Aneignungsprozeß jedoch ihre Gestalt verloren
hat.
Anhand der These des "Nestors der Intersexualitätsforschung", John Money, sowie empirisch durch den Fall Agnes (wie bringt Agnes es fertig, trotz männlicher Sozialisation eine überzeugende Gender Role-Schauspielerin zu sein?, S. 56), der von Harold Garfinkel in den 60«er Jahren diskutiert wurde, und unter Rückgriff auf das von Michel Foucault wiedergegebene Schicksal der Lehrerin Alexina/Abel Barbin, deren Körper während der Pubertät keine weibliche Gestalt annahm, werden Perspektiven/Menschen beschrieben, die dem "Regime der Zweigeschlechtlichkeit" widersprechen. Agnes und Alexina widersprechen durch ihren Körper - dennoch werden sie gewaltsam in das Regime eingeordnet: Ein "drittes Geschlecht" hätte ihren sozialen Tod bedeutet. Die Verfasserin schlussfolgert: "Eine Problematisierung von Zweigeschlechtlichkeit würde die Norm der Geschlechterpolarität selber zum Gegenstand der Kritik machen" (S. 66). Und damit stünde nicht nur das Ordnungssystem der geschlechtlich definierten Binarität selbst zur Diskussion, sondern auch ein zentrales Machtzuordnungsschema unserer Gesellschaft.
Ohne die Bedeutung der folgenden Artikel schmälern zu wollen, sollen diese im Folgenden auf knappere Weise als die beiden erstgenannten wiedergegeben werden.
- Gayle Rubin (University of Michigan in Ann Arbor) greift in dem ausführlichsten Artikel des Bandes (S. 69-123) (Erstveröffentlichung 1975!!) die Frage nach dem Wesen und Ursprung der Unterdrückung von Frauen und ihrer sozialen Unterordnung auf: Sie kommt zu dem Resultat, dass diese Frage nur anhand einer umfassenden, ökonomischen und politischen Analyse der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse beantwortet werden kann.
- Wendy Browns Artikel (S. 123-151) (Erstveröffentlichung: 1997) reflektiert über die wissenschaftliche Tragweite der Women«s Studies. Diese leisteten nach Ansicht der Verfasserin einen umfangreichen und spannenden Beitrag zum amerikanischen Wissenschaftsbetrieb in den 1970«er und 1980«er Jahren, gerieten aber in den 1990«er Jahren in eine Krise, von der sie sich bislang nicht erholt haben. "Vielleicht" - so Brown«s Schlusssatz - "ist dies ein Moment des Nachdenkens".
- Sabine Broecks Beitrag (S. 152-180) befindet sich im Schnittfeld von Gender Studies, African-American Studies und Postcolonial Studies. Hier wird die In-Frage-Stellung der epistemologischen Herrschaft des weißen Subjekts aufgegriffen und als Frage um die Anerkennung zwischen Subjekt und seinem Anderen charakterisiert.
- Judith Butler ist mit ihrem Aufsatz "Uneigentliche Subjekte" ("Against Proper Objects" aus dem Jahre 1994) vertreten (S. 181-213). Hier wird das Verhältnis von feministischer Theorie und Queer Theory thematisiert. Dabei fordert Frau Butler femistische ForscherInnen dazu auf, "genauer zu untersuchen, wie heterosexuelle Vorannahmen einige der Urszenen feministischer Forschung strukturieren" (S. 207). Queer-DenkerInnen hingegen "sollen versuchen, die Verbindung zu einem komplexen Kritikkonzept aufrecht zu erhalten" (S. 207). Es geht der Verfasserin um "Komplexität und Komplizenschaft" (S. 207) beim Nachdenken über Sexualität, es geht um Widerstand gegen die institutionelle Domestizierung des Queer-Denkens (S. 208).
- Annette Schlichters Aufsatz (S. 214-242) befasst sich ebenfalls mit der Queer-Theory. Unter Berufung auf Butler diskutiert sie das Paradox heterosexueller Subjektivierung, welches die Aufmerksamkeit u.a. auf die Kosten der Heteronormativität lenkt. Diese bestehen darin, dass "É(auch) Heterosexuelle den unterschiedlichsten Formen psychischer und physischer Selbstdisziplinierung ausgesetzt sind" (S. 236).
- Den Abschluss des Bandes bildet ein Artikel, der von vier Promovierenden Renate Hofs verfasst wurde, von Carsten Juncker, Julie Miess, Susann Neuenfeldt und Julia Roth (S. 243-266). Hier geht es um Bartleby, eine "der faszinierendsten Figuren der amerikanischen Literatur- und Kulturgeschichte" (S. 243), eine Figur, die für den Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus steht, oder (aus theologischer Perspektive für den wieder auferstandenen Jesus, und die von Renate Hof als "paradigmatisch für die Asymmetrie von Geschlechterpositionen" vorgestellt wurde. Der Artikel demonstriert die epistemologische Unmöglichkeit, aber auch die Sprengkraft eines imaginierten "Tausches" der Geschlechtszugehörigkeit: "Eine Mrs. Bartleby würde allein durch ihr vermeintliches „Frausein“ eine noch größere Provokation sein. Sie würde die Allgemeingültigkeit des heterosexuellen, weißen Männlichen, dem Mr. Bartleby trotz allem noch zugerechnet wird, und die damit verbundene Geschlechterhierarchie hinterfragen, die sie immer schon als unterlegen und abgeleitet vom Allgemeingültigen verorten würde" (S. 259).
Zielgruppe und Fazit
Der Band "Gender kontrovers" ist gleichermassen für Studierende, die sich in das Thema einarbeiten wollen, wie auch für Professionelle geschrieben. Die Beiträge sind (für diejenigen, die den wissenschaftlichen Fachjargon einigermaßen beherrschen) gut lesbar, gut übersetzt (auch wenn die Übersetzerinnen des Artikels von Frau Butler sicherlich ihre Mühe mit der komplexen Vorlage hatten) und von fachlich qualifizierten WissenschaftlerInnen geschrieben. Insgesamt ein sehr empfehlenswertes Buch.
Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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Zitiervorschlag
Joachim Thönnessen. Rezension vom 01.03.2007 zu:
Gabriele Dietze, Sabine Hark (Hrsg.): Gender kontrovers. Genealogien und Grenzen einer Kategorie. Ulrike Helmer Verlag
(Sulzbach/Taunus) 2006.
ISBN 978-3-89741-215-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4343.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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