Elisabeth Höwler: Interaktionsprozesse zwischen Pflegenden und Personen mit Demenz
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 03.08.2007

Elisabeth Höwler: Interaktionsprozesse zwischen Pflegenden und Personen mit Demenz. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2006. 172 Seiten. ISBN 978-3-17-019399-4. 26,00 EUR.
Thema
Die Pflege und Betreuung demenzkranker Bewohner ist in den letzten Jahren das Kernelement der Versorgung in den Einrichtungen der stationären Altenhilfe geworden. Konzepte der Tagesstrukturierung, Pflege- und Betreuungsmodelle, Aktivierungs- und Stimulierungsansätze und einiges mehr sind gezielt für diese Bewohnergruppe entwickelt worden, die sich in ihren Grundzügen teils ergänzen und teils auch widersprechen. Bei den Betreuungskonzepten dominieren gegenwärtig in Deutschland Ansätze der so genannten "personenzentrierten" Pflege Demenzkranker wie Validation, Mäeutik und die Modelle von Tom Kitwood und Erwin Böhm. Diesen Ansätzen ist der Sachverhalt gemein, dass es sich hierbei um deduktiv konstruierte Konzepte handelt, die auf Theoremen bereits veralteter und widerlegter Gedankengebäude wie der Psychoanalyse und "humanistischen Psychologie" aufbauen und somit keinen empirisch überprüfbaren Realbezug haben.
Die vorliegende Veröffentlichung mit dem Anspruch, ein "pflegedidaktisches Konzept für Ausbildung und Praxis" zu sein, kann dem Ideengebäude von Tom Kitwood zugeordnet werden.
Die Autorin ist Altenpflegerin, Lehrerin für Pflege, Diplom-Pflegepädagogin und Dozentin in der Aus- und Fortbildung.
Aufbau
Die Arbeit ist in drei Teile untergliedert:
- Teil I: Theoretische Aspekte zur pflegerischen Interaktion (Seite 16- 58)
- Teil II: Empirischer Teil (Seite 60 - 106)
- Teil III: Pflegedidaktische Entwicklungslinien für die praktische Pflegeausbildung (Seite 108 - 152)
I. Theoretische Aspekte zur pflegerischen Interaktion
Im ersten theoretischen Teil expliziert die Autorin u. a. zu Beginn die Kernelemente des Ideengebäudes von Tom Kitwood: u. a. die Begrifflichkeit des "Person-Seins", das Konstrukt der "Personenzentrierten Pflege" (Wertschätzung, individuelle Behandlung, Einfühlen und eine positive soziale Umgebung), die personenzentrierte Grundhaltung (Echtheit, Akzeptanz und Empathie) und die 12 Interaktionsformen der "positiven Personenarbeit" (Anerkennung, Verhandeln, Zusammenarbeiten, sensorische Stimulation / Timalation, Stimmung in der Pflegesituation, Entspannen und Geben).
Es folgen Ausführungen zu den Einflussfaktoren auf die Interaktion: neurologische Einflussfaktoren (u. a. gestörte Wahrnehmung und Sprachprobleme), biografische, institutionelle und personelle Einflussfaktoren. Hierbei werden die Elemente der so genannten "malignen Sozialpsychologie" angeführt: u. a. "Invalidieren", "Betrügen", "Infantilisierung", die als so genannte "personale Detraktionen" bezeichnet werden.
Hieran anschließend beschreibt die Autorin "herausforderndes Verhalten" als Antwort auf gestörte Interaktionsprozesse, das sie als "absichtsvoll und zielgerichtet" bezeichnet und die zugleich als "Kommunikationsversuch" verstanden werden sollten.
II. Empirischer Teil
Im zweiten empirischen Teil des Buches werden eine Erhebung und die wesentlichen Ergebnisse dargestellt. Es handelt sich hierbei um eine qualitative Studie, bei der mittels einer offenen, nicht-teilnehmenden strukturierten Fremdbeobachtung im Januar und Februar 2005 in einen Pflegeheim 12 Beobachtungssequenzen in zwei Wohnbereichen mit jeweils 28 Bewohnern durchgeführt wurden. Die Beobachtungen wurden an 12 aufeinander folgenden Tagen zwischen 7:00 und 9:30 Uhr in einem Zeitraum von ca. 15 - 40 Minuten erhoben.
Die Beobachtungen zeigten die bereits bekannten Erkenntnisse, dass Pflegende bei der Morgenpflege demenzkranker Bewohner unterschiedlich die Schwerpunkte ihres Wirkens setzen. Während einige Pflegende vorrangig auf den Handlungsvollzug der Pflegeinteraktionen ausgerichtet sind, zeigen andere Pflegende eine betont bewohnerzentrierte Einstellung in ihrem Verhalten, indem sie beruhigen, bestärken und motivieren. Auch werden unterschiedliche Ausprägungen des Einfühlungsvermögens beobachtet. So gehen viele Pflegende auf die Belange und Nöte der Bewohner ein und versuchen zur psychischen Stabilisierung beizutragen, andere hingegen verrichten oft auch noch wortlos ihre Pflegehandlungen und beachten dabei nicht die Befindlichkeit ihrer Schützlinge.
III. Pflegedidaktische Entwicklungslinien für die praktische Pflegeausbildung
Im dritten pflegedidaktischen Teil des Buches beschreibt die Autorin ihre Vorstellungen über eine angemessene praktische Pflegeausbildung. Sie führt hierbei u. a. einen recht umfangreichen Kanon an theoretischen Wissensbeständen an, der ihrerseits für die Ausbildung erforderlich sei. Des Weiteren erläutert sie die persönlichen Anforderungen an Auszubildende wie Selbstbildung, Suchhaltung und Abwehrverhalten und eine wertschätzende, empathische Haltung. Zum Schluss ihrer Ausführungen geht sie auf didaktische Methoden für das Lehren und Lernen ein: Beobachtungsaufgabe, nicht-teilnehmende Beobachtung, Videointerpretation und der klinische Unterricht.
Kritische Würdigung
Neuere neurowissenschaftliche Erkenntnisse belegen mehr und mehr das Faktum, dass ein Großteil unserer Wahrnehmungen und Interaktionen unbewusst ablaufen. Das Konstrukt der so genannten "Spiegelneuronen" ist hierbei ein weiteres Indiz für den Sachverhalt, dass die Menschen bei jeder Begegnung psychisch und zugleich vorbewusst miteinander verbunden sind im Sinne eines ständigen Agierens und Reagierens. In diesem Forschungskontext gilt es nun auch, die Pflege und Betreuung Demenzkranker zu erfassen.
Der Ansatz von Kitwood mit seinen normativen Grundlegungen ist in diesem Zusammenhang einer wissenschaftlichen Erfassung der angemessenen Person-Umwelt-Passung Demenzkranker in doppelter Hinsicht kontraproduktiv:
- Die theoretische Fundierung seiner Ideen teils mittels Konzepte der so genannten "humanistischen Psychologie" (Authentizität, Wertschätzung etc.) ist ein spekulatives Gedankengebäude ohne empirische und neurowissenschaftliche Korrelate. Man kann es auch als ein idealistisches und zugleich starres Wunschdenken deklarieren, denn es vermag nicht, die neuen Erkenntnisse der Wissenschaften als Weiterentwicklungselement zu inkorporieren. Es entsteht somit eine Dopplung der Seinssphären in eine "Kitwood-Welt" ohne empirische Überprüfbarkeit und eine Realwelt - eine Demenzpflege kann in dieser Widersprüchlichkeit sich nicht entwickeln.
- Erfahrungen vorbewussten und intuitiven Verhaltens im Umgang mit Demenzkranken besonders unter den Aspekten der Ablenkung und Beruhigung wie "Mitgehen" und "Mitmachen" bei Realitätsverlusten werden von Kitwood als so genannte "Detraktionen" (u. a. "Betrug" und "Infantilisierung") desavouiert, ohne dass effektive Alternativlösungen in seinem Konzept propagiert werden.
Fazit
Pflegende haben ein Anrecht auf effektive und effiziente Konzepte, die sich mit den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen erklären lassen, andernfalls lässt sich eine angemessene Demenzpflege nicht durchführen. Konstrukte mit Eigenwelt-Charakter wie der Ansatz von Kitwood oder Naomi Feil erschweren und verunmöglichen jedoch die Pflege und Betreuung. So bleibt nur das Fazit zu ziehen, dass die Pflege trotz ständig eingeforderten Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit noch nicht den Sprung ins 21. Jahrhundert geschafft hat.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 03.08.2007 zu:
Elisabeth Höwler: Interaktionsprozesse zwischen Pflegenden und Personen mit Demenz. Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2006.
ISBN 978-3-17-019399-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4373.php, Datum des Zugriffs 24.09.2023.
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