Kerstin Bronner, Michael Behnisch: Mädchen- und Jungenarbeit in den Erziehungshilfen
Rezensiert von Prof. Dr. Ruth Enggruber, 03.10.2007
Kerstin Bronner, Michael Behnisch: Mädchen- und Jungenarbeit in den Erziehungshilfen. Einführung in die Praxis einer geschlechterreflektierenden Pädagogik.
Juventa Verlag
(Weinheim) 2007.
260 Seiten.
ISBN 978-3-7799-1775-5.
19,50 EUR.
Reihe: Basistexte Erziehungshilfen.
Thema und Zielsetzung
"Von der Frauen- hin zur Gleichstellungspolitik!" - so könnte die Entwicklung der europäischen Geschlechterpolitik seit der Einführung des politischen Prinzips "Gender Mainstreaming" im Amsterdamer Vertrag im Jahre 1997 pointiert gekennzeichnet werden. Seitdem ist Gender Mainstreaming verpflichtend, d. h. alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sollen in allen Politik- und Verwaltungsbereichen und davon betroffenen Organisationen darauf hinwirken, Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu beseitigen und die Gleichstellung von Frauen und Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen zu fördern. Dabei deutet die häufige Verwendung des Wortes "alle" bereits an, dass mit diesem politischen Prinzip ein umfassender Anspruch verbunden wird, der auch immer häufiger bei der Vergabe von öffentlichen Finanzmitteln für Fördermaßnahmen jeglicher Art von entscheidender Bedeutung ist. Somit werden davon auch zunehmend mehr die verschiedenen Angebote der Erziehungshilfen beeinflusst. Die in den letzten 10 Jahren zunehmend mehr in Mode gekommenen Schlagworte wie "Genderkompetenz", "genderreflektierende Arbeit" oder "geschlechterreflektierende Pädagogik" begleiten und belegen diese Entwicklung. Doch was die Begriffe konkret bedeuten und wie Gender Mainstreaming als politisches Prinzip und Strategie in der pädagogischen Praxis umgesetzt werden kann, bleibt noch vielfach schillernd und unbestimmt. Einigkeit besteht lediglich darin, dass beide Geschlechter in den Fokus von Analysen und Förderprozessen zu integrieren sind und nicht mehr nur die Benachteiligung von Mädchen und Frauen. Alles Weitere befindet sich gegenwärtig noch in lebendigen Diskussions- und Entwicklungsprozessen, die bei so manchen professionell Tätigen zu Verunsicherungen, Unklarheiten bis hin zu Widerständen führen. In dieser noch vorhandenen Such- und Orientierungsphase sind konkrete Handlungsansätze gefragt.
Dazu haben für mich Kerstin Bronner und Michael Behnisch mit ihrem Entwurf für die "Praxis einer geschlechterreflektierenden Pädagogik" einen beachtenswerten und weiterführenden Beitrag geleistet, zu dem ich ihnen sehr herzlich gratuliere! Sie nehmen die bereits seit langen Jahren vorhandenen Konzepte zur parteilich feministischen Mädchenarbeit und die - zwar weniger lange - aber dennoch vorliegenden Ansätze zur Jungenarbeit auf und interpretieren diese für das politische Prinzip Gender Mainstreaming neu. Damit zeigen sie konkrete Umsetzungsstrategien für die pädagogische Praxis der Erziehungshilfen, die an dort schon vorhandene Praktiken und professionelle Kompetenzen anschließen. Ganz im Sinne eines 'gegenderten Vorgehens' skizziert Kerstin Bronner die Mädchenarbeit in ihrer parteilich feministischen Ausprägung. Michael Behnisch erläutert in weitgehender Übereinstimmung mit der inhaltlichen Gliederung zur Mädchenarbeit die Jungenarbeit.
Inhaltsübersicht
- In ihrer Einleitung (1) erläutern Kerstin Bronner und Michael Behnisch die für sie relevanten Grundbegriffe für Mädchen- und Jungenarbeit, also Sex und Gender, Doing Gender, die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Bedeutung der Sprache sowie das politische Prinzip Gender Mainstreaming. Aufgrund der besonderen Bedeutung, die der Begriff der Lebenslagen in den letzten Jahren in den Erziehungshilfen erhalten hat und die ihm auch in ihren eigenen Ausführungen zukommt, präzisieren die AutorInnen, was sie darunter verstehen. Für mich fehlt in dieser Klärung der Grundbegriffe jener der "Genderkompetenz", da er auch immer wieder im Zusammenhang mit Gender Mainstreaming und geschlechterreflektierender Pädagogik angeführt wird.
- Teil 1: Mädchenarbeit. Wie bereits einführend erwähnt, wurde dieser Teil zur Mädchenarbeit von Kerstin Bronner geschrieben. Zunächst erläutert sie die (2) Entwicklungsgeschichte der Mädchenarbeit, um sich schließlich im Verständnis der parteilich feministischen Mädchenarbeit zu positionieren. Von dieser historischen Basis ausgehend begründet sie dann die (3) Aktualität und ihr Grundverständnis von Mädchenarbeit, indem sie die Lebenslagen von Mädchen kurz und prägnant skizziert und die Prinzipien parteilich feministischer Mädchenarbeit vorstellt. (4) Die Bezüge zu den Mädchen, ihren Lebenslagen und den entsprechenden Angeboten zu Mädchenarbeit im Praxisfeld der Hilfen zur Erziehung stellt Kerstin Bronner anhand empirischer Befunde. Dabei legt sie einen besonderen Schwerpunkt auf die geschlechtsbezogenen Konfliktbewältigungsmuster der Mädchen und zeigt auf, wie diese in den verschiedenen Angeboten der Erziehungshilfen von den pädagogischen Fachkräften wahrgenommen werden. Gerade die Unterschiede in der Verteilung der Jungen und Mädchen auf die verschiedenen Hilfeformen zeigen, dass darauf sowohl unterschiedliche Konfliktbewältigungsmuster von Mädchen und Jungen, aber auch geschlechtstypische Wahrnehmungsmuster bei den Fachkräften einen entscheidenden Einfluss haben. (5) Als "spezifische Themenfelder in der Arbeit mit Mädchen in den Hilfen zur Erziehung" erläutert die Autorin die bekannten, aber deshalb umso wichtigeren Themen wie Adoleszenz, Homo- und Heterosexualität, Erfahrungen sexueller Gewalt, Migration und Suchtprobleme. Da Kerstin Bronner einen deduktiven Argumentationsgang gewählt hat, der sie von der allgemeinen Betrachtung der Mädchenarbeit und den aktuellen Problemen von Mädchen immer konkreter zu den Praxisempfehlungen führt, stellt sie im 6. Kapitel Arbeitskonzepte für die Praxis der Mädchenarbeit und die dafür notwendigen Qualifikationen und damit Fortbildungsbedarfe der pädagogischen Fachkräfte vor. Ihre Darstellungen zur Mädchenarbeit schließen mit (7) Methodenbeispielen und Reflexionshilfen für die pädagogische Praxis, wobei auch weiterführende Adressen nicht fehlen.
- Teil 2: Jungenarbeit. Bereits oben habe ich herausgestellt, dass der Teil zur Jungenarbeit von Michael Behnisch verfasst wurde und in seiner inhaltlichen Gliederung der inhaltlichen Systematik des Teils von Mädchenarbeit folgt. Dem entsprechend skizziert Michael Behnisch zunächst die Entwicklungsgeschichte der Jungenarbeit (8). Dieses Kapitel fällt ungleich kürzer als das entsprechende zur Mädchenarbeit aus, weil die Jungenarbeit weder eine so lange Geschichte noch so klare und unterschiedliche Positionen wie die Mädchenarbeit aufzuweisen hat. Für mich war dieses Kapitel sehr aufschlussreich, weil der Autor einen zwar knappen, aber dennoch systematischen Abriss der Entwicklung der Jungenarbeit leistet. Auf dieser Ausgangsbasis erläutert Michael Behnisch dann die (9) Aktualität und sein Grundverständnis von Jungenarbeit. Gleichermaßen wie Kerstin Bronner greift der Autor auf empirische Belege zurück, wenn er (10) die Verteilung der Jungen auf die verschiedenen Angebote der Hilfen zur Erziehung und ihre Wahrnehmung von Seiten der pädagogischen Fachkräfte schildert. Spannend war für mich seine kritische Bestandsaufnahme zu den bereits vorhandenen Angeboten zur Jungenarbeit in den Hilfen zu Erziehung. (11) Als "spezifische Themenfelder in der Jungenarbeit in den Hilfen zur Erziehung" erläutert Michael Behnisch übereinstimmend mit Kerstin Bronner die Themen Homo- und Heterosexualität, Migration und Suchtprobleme. Dass das Thema sexuelle Gewalterfahrungen vom ihm nicht explizit aufgegriffen wird, hat mich nicht überrascht. Interessant finde ich aber, dass von ihm zentrale Themen wie "Gesundheit und Krankheit" und vor allem "Schule, Arbeit Lebensplanung" aufgegriffen werden. Gerade Letzteres vermisse ich bei Kerstin Bronner. Denn auch für Mädchen ist die Lebensplanung gerade im Spannungsfeld zwischen Kinder- und Familienwunsch auf der einen und Berufs- und Karriereorientierung auf der anderen Seite von zentraler Bedeutung und oftmals mit zahlreichen inter- und intrapersonalen Konflikten verbunden. Wie Kerstin Bronner einem deduktiven Argumentationsgang folgend, werden dann konkrete Arbeitskonzepte für die Praxis der Jungenarbeit und die dafür notwendigen Qualifikationen und damit Fortbildungsbedarfe der pädagogischen Fachkräfte von Michael Behnisch vorgestellt. Auch die Ausführungen zur Jungenarbeit schließen mit direkt umsetzbaren Methodenbeispielen und Reflexionshilfen für die pädagogische Praxis, wobei ebenfalls weiterführende Adressen und darüber hinaus auch Filme, Links und sonstige hilfreiche Materialien nicht fehlen.
- Im Rückbezug auf Gender Mainstreaming schließt das Buch mit einem Ausblick, in dem beide AutorInnen einzelne Weiterentwicklungen und Kooperationsansätze zwischen Mädchen- und Jungenarbeit benennen und damit beide Geschlechter konsequent in den Blick nehmen.
Zielgruppen
In diesem Buch finden nicht nur pädagogische Fachkräfte, die in den verschiedenen Angeboten der Hilfen zur Erziehung tätig sind, sondern alle (sozial)pädagogisch tätigen Professionellen wertvolle und wichtige Anstöße sowie konkrete Handlungshilfen für ihren pädagogischen Berufsalltag in Schulen, Bildungseinrichtungen und Angeboten der Jugendhilfe, Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit. Schließlich ist dieses Buch auch für Studierende der verschiedenen pädagogischen Teildisziplinen, also der Schul-, Sonder-, Sozial-, Berufs- oder Wirtschaftspädagogik interessant, weil ihnen hier eine umfangreiche und vor allem aussagekräftige sowie direkt in die Praxis umsetzbare Informationsbasis mit zahlreichen Literaturquellen zur geschlechterreflektierenden Pädagogik im Sinne von Mädchen- und Jungenarbeit angeboten wird.
Fazit
Wie in meiner Zielgruppenbeschreibung zu dem Besuch bereits durchscheint, sollte aus meiner Sicht die geschlechterreflektierende Pädagogik nicht nur in den Hilfen zur Erziehung, sondern auch in Schulen und in den vielfältigen Angeboten der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit Einzug halten. Dies möchte ich ausdrücklich als Forderung verstanden wissen, weil nicht nur wegen des politischen Prinzips Gender Mainstreaming, sondern vor allem für die biografischen Lebensoptionen von Mädchen und Jungen ist es von zentraler Bedeutung, dass sie sich fern ab von Geschlechtsrollenstereotypen und geschlechtstypischen Festlegungen nach ihren subjektiven Stärken und Interessen entwickeln können. Dies kann nur mit einer geschlechterreflektierenden Pädagogik gelingen. Um diese Forderungen mit "Leben für den Berufsalltag" in zahlreichen pädagogischen Arbeitsfeldern füllen zu können, haben für mich Kerstin Behnisch und Michael Behnisch zahlreiche, direkt in der Praxis umsetzbare Arbeitskonzepte und Methodenbeispiele vorgelegt. Diese begründen sie auf einer theoretischen und empirischen Basis, wobei sie bedeutsame Konstrukte der Sozialen Arbeit wie das der Lebensweltorientierung und das Konzept der Lebenslagen nicht unberücksichtigt lassen. Außerdem haben es die AutorInnen geschafft, das Buch sehr gut lesbar zu gestalten, indem sie ihre zentralen Aussagen immer wieder zusammenfassen und wichtige Passagen grafisch abheben.
Rezension von
Prof. Dr. Ruth Enggruber
Hochschule Düsseldorf, FB Sozial- und Kulturwissenschaften
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Zitiervorschlag
Ruth Enggruber. Rezension vom 03.10.2007 zu:
Kerstin Bronner, Michael Behnisch: Mädchen- und Jungenarbeit in den Erziehungshilfen. Einführung in die Praxis einer geschlechterreflektierenden Pädagogik. Juventa Verlag
(Weinheim) 2007.
ISBN 978-3-7799-1775-5.
Reihe: Basistexte Erziehungshilfen.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4456.php, Datum des Zugriffs 05.10.2024.
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