Norbert R. Krischke: Sozialpsychiatrische Gesundheitspsychologie
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Grundl, 11.01.2009

Norbert R. Krischke: Sozialpsychiatrische Gesundheitspsychologie. Qualitätssicherung in der Zwangseinweisungspraxis.
Psychiatrie Verlag GmbH
(Bonn) 2006.
256 Seiten.
ISBN 978-3-88414-414-5.
29,90 EUR.
CH: 52,20 sFr.
Reihe: Forschung für die Praxis - Hochschulschriften.
"Fürsorglicher Freiheitsentzug" – von Übel doch von Nöten?
Leben, Eigentum und Freiheit sind die grundlegendsten Rechte, für die alle Staaten allen Menschen gegenüber Gewährleistungspflicht übernehmen. Einschränkungen bedürfen überzeugender Begründungen. Nur an wenigen Stellen ist die folgenschwere Trennlinie zwischen Gesundheitswesen und Strafvollzug so schwierig handhabbar wie im Fall der erzwungenen Unterbringung psychisch kranker Menschen in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung (die Arbeit verweist auf eine entsprechende Untersuchung in Massachusetts leider ohne Angabe der Literaturquelle / S 134). – Der Autor stellt im vorliegenden Werk die Ergebnisse der Bremer Studien zur Zwangseinweisung vor um diese in einem quasi zweiten Schritt Methoden und Fragestellungen der Versorgungsforschung durch die Einführung gesundheitspsychologischer Modelle zu erweitern.
Aufbau und Inhalt
Die Arbeit stellt einleitend umfangreiches Zahlenmaterial zum Mittel der Zwangseinweisung in Teilbereichen Europas und Deutschlands. Bemerkens- und nicht zuletzt deswegen lesenwert sind die vielen Tabellen zum Thema, die auch innerhalb Deutschlands erhebliche Unterschiede offenbar werden lassen (zwischen Berlin als "Tabellenführer" und Baden Württemberg als Letztem in der Rangfolge nach Häufigkeit). Vergleichbar differenzierte Daten hätte sich der Leser auch für Gesamteuropa erhofft, der Autor muss jedoch der diesbezüglichen Datenlage offensichtlich Tribut zollen. - Konzentriert sich die Arbeit doch a priori auf die Bremer Verhältnisse im Hinblick auf die Ausgangsproblematik.
In der Nachfolge des Berichts der Enquetekommission des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 1975 sind die Bestrebungen, die festgestellten Defizite auf unterschiedlichen Ebenen zu beseitigen, bis in die Gegenwart nicht als annähernd abgeschlossen zu bezeichnen. Für Bremen stellt die Arbeit einleitend die örtliche Versorgungsstruktur dar. Und die Klarstellung der obligat zu berücksichtigenden Vorgaben für den fürsorglichen Freiheitsentzug: psychische Krankheit – gegenwärtige Gefährdung für eigenes oder fremdes Leben oder andere bedeutende Rechtsgüter Dritter, sofern nicht anderweitig Abhilfe geschaffen werden kann.
Nicht zuletzt der Krankheitsbegriff der Psychiatrie, nicht selten im Gesamtzusammenhang eines bio-psycho-sozialen Verständnisses formuliert wird sodann mit mehreren Fragezeichen versehen. International der meist gesuchte Bezugspunkt ist bis heute das von der Weltgesundheitsorganisation editierte ICD-Klassifikatiossystem, das mittlerweile in der 10. Revision vorliegt. Das System krankt dabei selbst am fehlenden Wissen über die Ätiologie psychiatrischer Störungsbilder, über denen die Somatosehypothese der endogenen Psychosen als nicht erreichter Horizont sichtbar und als über Jahrhunderte uneingelöstes Versprechen erkennbar bleibt. Die in der Arbeit zitierte Position der "Antipsychiatrie-Bewegung" erscheint aufgrund deren an theoretischer Präzision und praktischer Handhabbarkeit in diesem Zusammenhang einmal mehr als weitgehend ideologisch motivierter und empirisch nicht ansatzweise abgestützter Anachronismus. Nicht-Wissen lässt sich schwerlich durch Nicht-Wissen-Wollen ersetzen.
Anschließend versucht die Arbeit eine Definition von Risikovariablen für eine Zwangseinweisung nach UBG / PsychKG, wobei Einschätzungen von Seiten der relevanten Beteiligtengruppen herangezogen werden (Patienten, Angehörige, professionelle Helfer und Polizei). Im Zentrum standen dabei die Fragen: "Wie kam es zur Krise?" und "Wie hätte man die aktuelle Krise verhindern können?" – Sämtliche in allen Versorgungssektoren der Stadt Bremen zwischen Mai und Juli 2000 registrierten psychischen Krisensituationen haben Eingang in die Ergebnisse der Studie gefunden. Aufgrund der unterschiedlichen Fallzahlen ist eine Vergleichung der erfragten Ergebnisse mit Vorbehalten zu belastet. Die Beantwortung der Frage nach den Gründen für das Auftreten der Krise verweist bei Patienten und Mitarbeitern psychiatrischer Institutionen häufiger auf die psychische Erkrankung / Störung, während bei den Angehörigen die unzureichende medizinische Versorgung einer- und die fehlende Therapietreue / Compliance der Patienten im Vordergrund der Ursachensuche steht. Größere Übereinstimmungen zeigen sich dagegen in den Antworten auf die zweite der Ausgangsfragen: die unzureichenden Hilfs- und Unterstützungsangebote werden von allen befragten Gruppen an erster Stelle genannt.
Dezidierte Empfehlungen lassen sich aus diesen Ergebnissen nicht zwingend begründen. Die im Anschluss vorgestellte zweite Studie galt den Entscheidungsgrundlagen für die Mitarbeiter des Sozialpsychiatrischen einer- und des Kriseninterventions-Dienstes andererseits. Über die Vorstellung von acht Review- und sechs Originalarbeiten werden zunächst mögliche Prädiktoren für selbst- respektive fremdgefährdendes Verhalten definiert. Erneut rekurriert die Arbeit auf die Unschärfen psychiatrischer Krankheitsdefinitionen, die in zentralen Fällen keine ätiologischen Diagnosen ermöglichen. Nicht zuletzt die psychiatrische Gutachtenpraxis zur Begründung von Unterbringungsmaßnahmen offenbart dieses essentielle Manko. Die Kriterien für derartige Gutachten gibt die Arbeit ebenfalls an: Gefahrenbeschreibung –psychopathologischer Befund – Ausprägungsgrad – Vorgeschichte – Medikation – Diagnose – soziale Anamnese mit privaten und beruflichen Grunddaten. Mangelnde Urteilsfähigkeit und Krankheitseinsicht sind demnach für die begutachtende Seite von größerer Bedeutung als die psychiatrische Diagnose per se. Eine zentrale Frage der zweiten Studie, die nämlich nach der Relevanz der durch das Bremer PsychKG vorgegebenen Rechtskriterien (s. o.), läßt sich aus den erhobenen Daten allerdings nicht mit hinreichender Sicherheit beantworten.
Abschließend stellt die Arbeit die Problemstellung in den Kontext alternativer gesundheitspsychologischer Modelle: Antonovskys Salutogenese-Modell steht dabei am Anfang. Der Autor verweist dabei zwar auf die Grenzen des Modells, allenfalls en passant jedoch auf die bislang weitgehend fehlende empirische Absicherung desselben. Desweiteren skizzert werden die Theorie des begründeten Handelns nach Ajzen und Fishbein, das Health-Belief-Modell von Becker, die Theorie zur Selbstwirksamkeitserwartung von Bandura sowie das sozial-kognitive Prozessmodell gesundheitlichen Handelns von Schwarzer. Den vier letztgenannten ist ein "kurzer Exkurs zu Bewusstsein und psychischen Störungen aus philosophischer Sicht" vorgestellt – der jedoch die aktuelle Diskussion der "philosophy of mind" außer Acht lassen muss.
Resümierend, so der Autor, steht nicht der Lebensvollzug der Betroffenen sondern im Sinne des PsychKG deren mangelnde Urteilsfähigkeit und Gefährlichkeit einerseits und der Wunsch der professionellen Helfer nach Behandlung andererseits. Er plädiert abschließend für eine stärkere Gewichtung der subjektiven Einschätzung der Betroffenen und stellt an die erste Stelle einer Verbesserung der zur Verfügung stehenden Unterstützungssysteme für "rund um die Uhr erreichbare ambulante Krisenzentren für psychisch kranke Menschen" (S 244).
Fazit
Die Sozialpsychiatrie ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem unverzichtbaren Bestandteil für psychisch kranke Menschen geworden. Mit diesem Zugewinn an praktischer Bedeutung kontrastieren die zunehmend marginalisierten Forschungsansätze – die Psychiatrie sucht im Sinne der zitierten Somatosehypothese nach ihren biologischen, neurophysiologischen Grundlagen.
Summa summarum ist die Arbeit als faktenreiche und detaillierte, dabei stets um übergreifende Einsicht in die äußerst komplexen Themenbereich bemühte und darum allen in praxi mit dem Thema beschäftigten Problemzusammenhang als überaus lesenswert ans Herz zu legen. Der Wert der Arbeit erschöpft sich dabei keineswegs in der Suche nach Antworten auf zentrale Fragen zur aufgeworfenen Problemkonstellation sondern wesentlich auch im Geschick des Autors weitergehend Fragen aufzuwerfen und mögliche Lösungswege zu skizzieren.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Grundl
Hochschule Niederrhein, Fachbereich Sozialwesen
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Es gibt 15 Rezensionen von Wolfgang Grundl.
Zitiervorschlag
Wolfgang Grundl. Rezension vom 11.01.2009 zu:
Norbert R. Krischke: Sozialpsychiatrische Gesundheitspsychologie. Qualitätssicherung in der Zwangseinweisungspraxis. Psychiatrie Verlag GmbH
(Bonn) 2006.
ISBN 978-3-88414-414-5.
Reihe: Forschung für die Praxis - Hochschulschriften.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4468.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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