Ian Morton: Die Würde wahren [...] (Demenz)
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 05.11.2002
Ian Morton: Die Würde wahren. Personenzentrierte Ansätze in der Betreuung von Menschen mit Demenz. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2002. 220 Seiten. ISBN 978-3-608-91039-1. 24,00 EUR.
Zur Thematik und Vorgeschichte des Buches
Demenz stellt in der Altenpflege seit einigen Jahren ein Hauptthema dar. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass die Zahl Demenzkranker aufgrund der zunehmenden Alterung unserer Gesellschaft stetig zunimmt und bereits in den Pflegeheimen die Mehrzahl der Bewohner stellt. Es hängt auch damit zusammen, dass gegenwärtig in den Bereichen Pflege und Betreuung noch kein allgemeingültiges Konzept existiert, das den Nachweis einer angemessenen Effektivität, Effizienz und auch Praktikabilität erbringen konnte. Augenblicklich sind wir mehr oder weniger Zeugen eines erbitterten Ringens verschiedenster Ansätze und Modelle um Einfluss und Verbreitung, wobei bisher kein Konzept überzeugen konnte.
Das vorliegende Buch ist die Arbeit eines Engländers, der nach seinem Studienabschluss im Fach Philosophie sich in verschiedenen Bereichen mit der Pflege Demenzkranker befasst hat. Er stellt in dieser Veröffentlichung verschiedene so genannte personenzentrierte Ansätze in der Demenzpflege dar, die er teils einer Kritik unterzieht.
Inhalt
Im Kapitel 1 befasst sich der Autor mit den Ursprüngen der personenzentrierten Pflege, die er überwiegend in den Modellen und Vorstellungen Carl Rogers festmacht. So werden dessen Theorie der Persönlichkeit, sein Therapiemodell und die Kernkategorien seines Ansatzes ausführlich beschrieben. Des weiteren unternimmt er den Versuch, den Ansatz Rogers auf die Demenzpflege zu übertragen.
Im Kapitel 2 setzt sich Morton eingehend mit dem Ansatz Validation von Naomi Feil auseinander. Es werden sowohl die verschiedenen Einflüsse unterschiedlicher Modelle wie der klientelzentrierte Ansatz von Rogers oder die psychoanalytischen Ausführungen von Freud und Erickson auf das Entstehen dieses Konzeptes als auch die "vier Abschnitte der Aufarbeitungsphase", dem zentralen Konstrukt des Feilschen Ansatzes, dargestellt. Den größten Teil des Kapitels hingegen nimmt der Abschnitt "Überlegungen und Anmerkungen zur Validationstheorie" ein, der aus einer Analyse und immanenten Kritik der vielen Ungereimtheiten und Widersprüche der Validation besteht.
Im Kapitel 3 wird kurz das Modell der so genannten Resolutionstherapie beschrieben. Dieser Ansatz basiert auf dem Gedanken, durch Einfühlen in das Verhalten Demenzkranker einen Zugang und einen Lösungsweg zur positiven Beeinflussung zu finden.
Im Kapitel 4 stehen Tom Kitwood, die Bradford Dementia Group und Spring Mount (eine Altenhilfeeinrichtung in England) im Mittelpunkt der Abhandlung. Die zentralen Elemente des Kitwoodschen Konzepts wie die Kritik am so genannten "Standardparadigma", der "neue Demenzbegriff", die Sozialpsychologie der Demenz einschließlich der so genannten "malignen Sozialpsychologie" und die Konzeption der personenzentrierten Demenzpflege werden erläutert. Ausführungen über das Erhebungsverfahren Dementia Care Mapping, die Erfahrungen mit dem Pflegemodell in Spring Mount und einige kritischen Anmerkungen zum Modell von Kitwood sind weitere Inhalte dieses Kapitels.
Im Kapitel 5 erläutert Morton die Bedeutung der Prä-Therapie von Prouty für die Demenzpflege. Bei diesem Ansatz handelt es sich um ein Verfahren reflektierender Interaktion, das bisher vorwiegend bei Lernbehinderten und Hirngeschädigten mit dem Ziel der Herstellung eines interaktiven Kontaktes angewendet wird. Nach Morton wird diese Methode in Zukunft vermehrten Einfluss in der Demenzpflege gewinnen.
Im letzten Kapitel wird auf die nach Meinung des Autors wachsende Bedeutung der personenzentrierten Pflege im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker eingegangen.
Kritische Würdigung
Die Veröffentlichung ist durch Einseitigkeit und damit Parteilichkeit geprägt, denn der Autor kann als ein Vertreter des Modells von Rogers und in Teilen auch von Kitwood aufgefasst werden. Dies äußert sich darin, dass die Konstrukte von Rogers und Kitwood als Bezugsrahmen und theoretische Orientierung ohne jedwede kritische Überprüfung expliziert werden. Und es zeigt sich auch in seinen Versuchen, die spekulativen und damit letztlich unwissenschaftlichen Konstrukte Rogers auch auf die Demenzpflege zu übertragen. So vermag er sogar bei Demenzkranken, "Weiterentwicklung" und "Wachstum" im Sinne von Rogers festzustellen.Das Dubiose des Kitwoodschen Ansatzes, die Leugnung des kausalen Zusammenhanges zwischen dem neuropathologischen Abbau bestimmter Hirnareale und den Krankheitssymptomen der Demenz, Kitwoods Intention, die Demenz "entpathologisieren" zu wollen, die Ausführungen über die Überwindung des so genannten "Standardparadigmas" und das Entstehen einer "neuen Kultur" in der Demenzpflege, all diese Gedankengebilde, die bar jeder wissenschaftlichen Fundierung sind, werden von Morton mitgetragen, zu mindestens nicht widerlegt.
Die Einseitigkeit drückt sich auch in der unterschiedlichen Bewertung der Konstruktbildung aus: Während er Naomi Feil explizit massiven Eklektizismus nachweist und u. a. damit ihren Ansatz ad absurdum führt, wird hingegen bei Kitwood, der ebenfalls zu unwissenschaftlichen "Basteleien" in seiner Theorienbildung neigt, nur auf die verschiedenen Einflüsse seines Denkens hingewiesen. Ebenso weist er anhand von Erfahrungsberichten die Schwachstellen und die Unbrauchbarkeit der Validation nach, vermag über die Praktikabilität des "personenzentrierten Ansatzes" Kitwoods in der Pflege Demenzkranker hingegen keine Aussagen zu machen.
Auch die völlig unkritischen Ausführungen zu der so genannten "Prä-Therapie" als einer neuen Perspektive in der Demenzpflege können als Ausdruck eines unzureichenden Verständnisses wissenschaftlichen Vorgehens im Bereich der Demenzpflege aufgefasst werden.
Fazit
Personenzentrierte Ansätze in der Demenzpflege können als Fehlentwicklungen verstanden werden, denn sie werden den Ansprüchen einer demenzspezifischen Pflege und Betreuung nicht gerecht. Auf spekulativen Gedankenkonstrukten basierende Modelle fehlt jeder Realbezug zu zwischenmenschlichen Verhaltensweisen und Einstellungen und können daher keine Impulse und neuen Perspektiven für die Praxis in den Heimen bieten. Es bleibt daher zu hoffen, dass diese Konstrukte nicht Eingang in das Denken und Handeln der Pflegenden in den Einrichtungen der Altenhilfe finden werden.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 05.11.2002 zu:
Ian Morton: Die Würde wahren. Personenzentrierte Ansätze in der Betreuung von Menschen mit Demenz. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2002.
ISBN 978-3-608-91039-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/448.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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