Petra Josting, Heidrun Hoppe (Hrsg.): Mädchen, Jungen und ihre Medienkompetenzen
Rezensiert von Dr. Maik Philipp, 28.01.2007
Petra Josting, Heidrun Hoppe (Hrsg.): Mädchen, Jungen und ihre Medienkompetenzen. Aktuelle Diskurse und Praxisbeispiele für den (Deutsch-) Unterricht. kopaed verlagsgmbh (München) 2006. 256 Seiten. ISBN 978-3-938028-87-2. 16,80 EUR.
Einführung in das Thema
Mädchen und Jungen nutzen in unterschiedlicher Intensität unterschiedliche Medien - ein Ergebnis, das nahezu jede Studie aus der Jugendmedienforschung präsentiert. Die Trennlinie zwischen den Geschlechtern verläuft zwischen den auditiven und traditionellen Printmedien auf Seite der Mädchen und den audiovisuellen, digitalen Medien auf Seite der Jungen. Während Mädchen ein ausgewogeneres Medienmenü nutzen, in dem alte und neue Medien einander eher ergänzen, ersetzen die neuen offenbar die alten Medien bei den Jungen. Die PISA-Studie einerseits, tragische Amokläufe wie der aus Erfurt im Jahr 2002 oder jener 2006 in Emsdetten fachen die Debatte über Mediennutzung und -verwahrlosung von Jungen stets aufs Neue an, und inzwischen wird eine öffentliche Debatte über die Krise der Jungen geführt.
Eine produktive Auseinandersetzung mit besagter Krise der Jungen, die zuvorderst eine Bildungskrise ist, gehört zweifelsfrei an den Ort, an dem die Probleme der Jungen bislang eher forciert denn nivelliert werden: die Schule. Nach wie vor existiert eine Kluft zwischen den schulisch genutzten Medien (v.a. dem Buch) und den privat genutzten, wobei die Mädchen bzw. Jugendliche aus bildungsnahen Schichten mit der Diskrepanz besser umzugehen vermögen als bildungsferne Jugendliche und/oder Jungen. Schulische und private Medienpraxen im Sinne einer Ausbildung von Medienkompetenz zusammenzuführen erscheint daher dringend angezeigt, und damit entspricht die von Josting und Hoppe herausgegebene Publikation ganz dem Zeitgeist.
Aufbau und Inhalt
Die fünfzehn Beiträge des Bandes sind, abgesehen vom Einleitungsbeitrag, in drei verschiedene Themenbereiche unterteilt:
- Im Abschnitt Mediensozialisation werden in zwei Beiträgen theoretische Überlegungen und empirische Ergebnisse zum Thema geschlechtsspezifischer Mediensozialisation vorgestellt.
- Im Teil Medienkompetenz behandeln drei Aufsätze zum einen Fragen der Systematik von Medienkompetenz, zum anderen der Berücksichtigung von Geschlechtsspezifika in politischer Bildung und Medienkonzeptarbeit.
- Das deutlich umfangreichste Kapitel (Deutsch-)Unterricht und Geschlechterdifferenzen: Praxisbeispiele und Anregungen richtet sich dezidiert an Praktiker. In den neun Aufsätzen liegt das Schwergewicht auf der Verknüpfung von Print- mit audiovisuellen Medien.
Von zentraler Bedeutung für den Band ist die Klärung des Allerweltbegriffs Medienkompetenz. In ihrer Einleitung unternehmen Heidrun Hoppe und Petra Josting einen entsprechenden Versuch, der eine Synthese neuerer Konzepte von Medienkompetenz ist, jedoch eher skizzenhaften Charakter hat. Sie gehen von einem aktiven Subjekt aus, das in seiner (Medien-)Sozialisation bedürfnisbezogen agiert, und haben als Ziel gelingender (Medien-)Sozialisation den Erwerb kommunikativer Kompetenz sensu Habermas im Blick. Medienkompetenz differenzieren Hoppe und Josting hinsichtlich dreier Bereiche aus:
- nach Medienbereichen (Multimedia, AV, auditiv, Print): Jeder Bereich zeichnet sich wegen der zugrunde liegenden Zeichensysteme durch spezielle Formen von Medienkompetenzen aus, die unterschiedliche Fähigkeiten und Rezeptionsweisen/Wahrnehmungskompetenzen erfordern.
- nach Fähigkeiten: Medienanalyse, Medienkritik, Mediennutzung, Mediengestaltung, Anschlusskommunikation.
- nach Rezeptionsweise/Wahrnehmungskompetenz: Darunter werden wie bei den Fähigkeiten kognitive, motivationale und emotionale Prozesse, in diesem Falle Sehen, Hören, Lesen, Navigieren, aber auch die Genussfähigkeit.
Alle Bereiche sind laut Hoppe und Josting relativ dynamisch miteinander verwoben, z.B. lassen sich Rezeptionsweisen in verschiedenen Medienbereichen realisieren und verstärken. Wie das konkret passiert, spart der Beitrag allerdings aus und wird überdies terminologisch recht schnell unscharf. Insofern bleibt die wichtige Begriffsklärung aller Vagheit in der allgemeinen Diskussion hier unbefriedigend.
Eine wie auch immer geartete Medienkompetenz erwerben Menschen im Rahmen der Mediensozialisation, und die fällt geschlechtsspezifisch anders aus. In ihrem Beitrag diskutieren Bettina Hurrelmann und Norbert Groeben sehr differenziert, inwiefern sich die empirisch immer wieder zu findenden Geschlechterdifferenzen mit dem biologischen oder sozialen Geschlecht (sex vs. gender) theoretisch erklären lassen - ihr Schluss: "Was theoretisch befriedigt [Zusammenhang Mediennutzung-gender], lässt sich empirisch nicht validieren, was empirisch valide vorliegt [Zusammenhang Mediennutzung-sex], lässt sich nicht befriedigend erklären" (S. 61). Hier machen es sich Matthias Kleimann, Thomas Mößle, Florian Rehbein und Christian Pfeiffer einfacher, wenn sie nach dem Zusammenhang von Mediennutzung, Schulerfolg und Leistungskrise der Jungen fragen. Als Basis dient eine eigene im Jahr 2005 durchgeführte Erhebung mit Viert- und Neuntklässlern in sechs deutschen Städten. Das Resultat: Kinder mit eigenem Fernseher und/oder mit eigener Spielkonsole im Kinderzimmer, die diese Medien wegen der unmittelbaren Verfügbarkeit stärker nutzen, sowie solche Kinder, die häufig gewalthaltige Medieninhalte konsumieren, haben schlechtere Schulleistungen, und das sind mehrheitlich Jungen. Dass in dieser Querschnittstudie der Bildungshintergrund der Eltern einen rechnerisch viel stärkeren Einfluss auf die Schulleistungen deutscher Jungen hat und überdies weitere intermittierende Variablen beeinflusst, bleibt zwar vergleichsweise randständig, führt bei Kleimann et al. aber zur Empfehlung, Eltern sollten den Medienkonsum der Kinder stärker kontrollieren. Das ist im Ansatz richtig, aber damit allein (und auch mit Ganztagsschulen und einem verschärften Jugendmedienschutz - so weitere Forderungen) ist das Problem der Leistungskrise von Jungen nicht gelöst. Die Feminisierung der Bildung, Geschlechterrollensozialisation, Nutzungsmotive der Jungen (Stichwort: Selbstwirksamkeitserfahrungen) wären Aspekte, die es zu bearbeiten gilt, statt wohlfeil bürgerliche Bewahrpädagogik zu tradieren, deren Umsetzung in bildungsfernen Schichten sowieso fraglich erscheint.
Umso mehr ist die Schule gefordert, wenn (auch schulkompatible) Medienkompetenz erlangt werden soll. Im Abschnitt Medienkompetenz werden aber gerade nicht primär Jungen, sondern vornehmlich die Mädchen thematisiert, auch wenn im Praxisteil immer wieder die Leseförderung und damit die männlichen Adressaten präsent sind. Anja Besand bedauert die Sachtextdominanz in der schulischen politischen Bildung, die - zusammen mit den entsprechenden Themen und damit gleichsam als Negativ zum bisherigen Deutschunterricht - den Schülern zugute komme. Die Hinwendung zu unterhaltenden Inhalten und anderen Medien im Sinne eines gleichberechtigten Zugangs zu allen Medien erscheint Besand viel versprechend. Den neuen Medien widmet sich Thomas Langkau in seinem Beitrag. Er fragt nach gender mainstreaming im Rahmen einer Medienkonzeptarbeit an nordrhein-westfälischen Gymnasien, und das Resultat ist, dass der gender-Blick bislang noch nicht geschärft ist. Problematisch an Besands Beitrag ist, dass die Empirie zum Thema jugendlicher Zeitungslektüre nicht befriedigend aufgearbeitet wurde (es fehlen bspw. die wichtigen Ergebnisse Günther Ragers), und bei Langkau mangelt es an einer Begründung, warum ausgerechnet Gymnasien in den Blickwinkel geraten, Schulen also, bei denen Medienkompetenzen noch am stärksten ausgebaut sein dürften und - mit Blick auf die JIM-Studie 2006 - am wenigsten gespielt wird und der Anteil der Informationssuche bei Internet-Aktivitäten am höchsten ist.
Im Teil (Deutsch-)Unterricht und Geschlechterdifferenzen: Praxisbeispiele und Anregungen werden Unterrichtsprojekte vor- und übergreifende programmatische Überlegungen zu gendersensiblem E-Learning (im Beitrag von Marc Jelitto) bzw. zur Jungenförderung im Literaturunterricht (Beitrag Schubert-Felmy) angestellt. Auffällig ist, dass in den Unterrichtsvorschlägen keine rein auditiven Medien und kaum Computermedien vorkommen, stattdessen werden vorrangig Filme behandelt.
Zwei Unterrichtsvorschläge sind an Grundschulpädagogen adressiert: Gudrun Marci-Boehnke stellt in ihrem sehr lesenswerten Beitrag Jungen lesen Filme ein Unterrichtsprojekt zu den "Wilden Fußballkerlen" vor, das in den Klassen 3-5/6 durchgeführt werden kann. Überzeugend wirken nicht nur das Aufgreifen eines unter Jungen populären Stoffs, sondern auch die umfangreichen Materialien im Anhang, die eine Umsetzung in die Praxis erleichtern. Für Dritt- und Viertklässler ist Thomas Möbius" Unterrichtsvorschlag gedacht. Er nimmt Andersons Schwefelhölzchen in seiner Printversion und einer filmischen Interpretation als Ausgangspunkt für Sehgespräche (das sind "mehr oder weniger stark gelenkte sprachliche-kommunikative Äußerungen … über die von bilddominierten Medien ausgelösten Imaginationsinhalte" (S. 142)). Möbius" Ergebnis: Für Jungen kann der Film durchaus lesemotivierend sein.
Die belletristische Vorlage und ihre filmische Umsetzung ist auch Grundlage für eine interessante Unterrichtsreihe von Alice Bienk. Sie hat mit einer 6. Klasse einer Gesamtschule den Roman "Die Brautprinzessin" gelesen, die SchülerInnen mit Filmsprache vertraut gemacht, ihnen eine ausgewählte Buchszene zur Umwandlung in ein Storyboard gegeben und mit der filmischen Umsetzung vergleichen lassen. Ebenfalls in der Sekundarstufe I angesiedelt sind zwei Projekte zum Film "Billy Elliot - I will dance". Dieter Matthias legt einen praxisnahen Vorschlag vor, mit dem am Film narratologische Elemente des Mythos erkannt werden, die mit Geschlechtsstereotypen verquickt sind. Die Überwindung von diesen Stereotypen kann wie beim Protagonisten Billy der Ich-Findung dienlich sein - und sensibilisiert in einer entwicklungspsychologischen turbulenten Phase den Blick für typische Adoleszenzprobleme. Renate Luca fokussiert noch stärker die Jungen. Sie stellt einen medienkritischen wie für das Verstehen des Films ebenso erlebnisorientierten Zugang vor, den sie in einem Projekt mit einer 8. und 9. Klasse erprobt hat. Danks persönlich bedeutsamem Lernen, so Luca, lasse sich an eine zunächst subjektiv-emotionale Resonanz eine kritisch-reflexive Betrachtung erzielen.
Der gymnasialen Sekundarstufe II widmen sich Hartmut Jonas (mit einem Unterrichtsvorschlag für die Klasse 11 zu Männer- und Frauensprache in Gedichten) und Marion Bönninghausen. Bönninghausen geht mit Blick auf medial vielfältigeres Unterrichtsmaterial und die Abschlusspräsentation von einem beiläufigen Kompetenzerwerb in einer fächerübergreifenden Medienerziehung aus. Sie stellt zwei Projekte vor: erstens eine Verbindung der Fächer Deutsch und Musik anlässlich des 100. Geburtstags von Bertolt Brecht und Hanns Eisler an einem Mädchengymnasium (Kl. 11), zweitens eine "Kulturgeschichte der Kälte" in den Fächern Chemie, Geografie, Biologie, Pädagogik, Musik, Kunst und Deutsch an einer koedukativen Schule (in zwei Varianten mit einer elften bzw. zwölften Klasse). Hinsichtlich der Medienkompetenz ist mit Blick auf die Geschlechter interessant, dass der organisatorische Rahmen ganz entscheidend ist, inwiefern in fächerübergreifenden Projekten Medienkompetenz erworben bzw. vertieft wird.
Zielgruppe
Durch den großen Anteil eher praxisorientierter Beiträge sind die Adressaten dieses Sammelbandes vor allem Lehrerinnen und Lehrer, speziell im Fach Deutsch. Zur anvisierten Leserschaft gehören auch Lehramtsstudierende.
Fazit
Medienintegrativer Deutschunterricht und fächerübergreifende Medienerziehung sind nicht erst seit kurzem ein Gebot der Stunde - dies umso mehr, als die Bedeutung informellen Lernens stetig steigt. Will die Schule nicht nur Zuschauer in diesem Prozess sein, muss sie bald handeln. Ob dies auf der Grundlage dieses Sammelbandes möglich ist, darf aber bezweifelt werden. Es gibt mehrere Dinge, die ihm fehlen, und die haben mit zwei Unsicherheiten zu tun. Die erste ist umfassender Natur und betrifft die Vagheit der schon fast zur Floskel verkommenen Medienkompetenz. Daran könnten die AutorInnen und v.a. die Herausgeberinnen etwas ändern, indem - und dies ist die zweite, nämlich konzeptionelle Unsicherheit - der gesamte Band hätte stringenter und konziser gestaltet werden können. Konkret ergeben sich folgende Monita:
- Eine nicht nur skizzierte, sondern ausformulierte für alle Beiträge einigermaßen verbindliche Definition von Medienkompetenz (samt einer Diskussion von prä- und deskriptiven Aspekten) hätte dem Band gut getan. Dadurch wären die verschiedenen Definitionen in den Beiträgen unnötig gewesen, und es wäre eine klare Darstellung bei den Projektbeschreibungen möglich gewesen, welcher Aspekt von Medienkompetenz in welchem Projekt gefördert werden soll.
- Auch eine Beschreibung, worin genau die Medienkompetenzen von Jungen und Mädchen in verschiedenen Altersstufen liegen, wäre in einem Beitrag zu Beginn sinnvoll gewesen, um Wiederholungen in den Beiträgen zu vermeiden.
- Dem Band mangelt es mit Blick auf die Gliederung und den Aufbau an Kohärenz: Die Beiträge hätten Referenzen untereinander verdient, und der Abschnitt Medienkompetenz ist in der vorliegenden Form wenig sinnvoll. Günstiger wäre z.B. Harald Gapskis hier nicht besprochener Beitrag über Medienkompetenz mit der Zielperspektive der Selbstorganisation am Anfang oder der von Besand in den Teil zum Unterricht.
- Die Dominanz des Mediums Film wird zwar eingeräumt, aber interessant wäre gerade das Medium Computer. Hier sind die Diskrepanzen zwischen schulischer und außerschulischer Welt besonders groß, entsprechend ist der Handlungsbedarf.
- Die Rolle der peer group und der Familie als Orte, in denen Geschlechterrollen und Medienkompetenzen erlernt bzw. angeeignet werden, bleibt zu stark unterbelichtet. Didaktische Interventionen ohne die Kenntnis dieser Materie haben begrenzte Reichweite, und dies hätte ebenfalls Gegenstand eines Einzelbeitrags werden sollen.
Die Kritik betrifft also primär die Konzeption des Bandes. Die praktischen Beispiele hingegen sind i.d.R. positiv zu würdigen. Praktiker werden hier sicher Anregungen entnehmen können, und der Anteil und z.T. die Beschreibung der Projekte hätte deutlich umfangreicher ausfallen dürfen.
Rezension von
Dr. Maik Philipp
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Fachhochschule Nordwestschweiz
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