Karl Georg Zinn: Wie Reichtum Armut schafft. Verschwendung, Arbeitslosigkeit und Mangel
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.01.2007

Karl Georg Zinn: Wie Reichtum Armut schafft. Verschwendung, Arbeitslosigkeit und Mangel.
PapyRossa Verlag
(Köln) 2006.
4., aktualisierte und erweiterte Auflage.
307 Seiten.
ISBN 978-3-89438-249-0.
16,90 EUR.
CH: 30,10 sFr.
Neue Kleine Bibliothek 84.
"Versprochen wird viel, gehalten wird nichts…"
… diese pessimistische Aussage hört man heute nicht selten an den Biertischen und Theken, gelegentlich verbunden mit dem Kleinlauten "Ja, ja, wir jammern (gern) auf hohem Niveau!". Auf dieses Niveau aber möchten wir uns nicht begeben, wenn wir ein Buch besprechen, das in vierter, aktualisierter und erweiterter Auflage 2006 erschienen ist. Von einem, der Zeit seines beruflichen Lebens als Volkswirtschaftler und politischer Ökonom an der RWTH in Aachen den analysierenden und mahnenden Zeigefinger erhoben hat gegen den gesellschaftlichen Trend, dass wohlfahrtsstaatliche Politik zurückgeht und Kapitalismus und Neoliberalismus voranschreiten. Seine Analyse der Wirklichkeiten in den hoch entwickelten Volkswirtschaften geht von der einfachen, vielfach benannten, aber von den Menschen selten beachteten Wahrheit aus: Wo Menschen in Gesellschaften zusammen leben, gibt es Herrscher und Beherrschte; letztere bedenken selten folgendes: "was sich die Herrschenden zu leisten wagen (dürfen), kann in modernen Demokratien nicht ohne eine Art billigende Mitwirkung der Beherrschten" geschehen. Als politischer Ökonom weist er auf ein Phänomen hin, das allzu gerne im gesellschaftlichen Diskurs darüber, wie die Verhältnisse entstanden sind, wie sie sind, ignoriert wird: Bei der Wahrheitsfindung und Ideologiekritik an den politischen Entscheidungen, wie in der jeweiligen Gesellschaft gehandelt und gelebt wird, gilt es das zu berücksichtigen, was der Autor die "kollektive Mentalität einer Gesellschaft" nennt. Und mit dieser ist es, das sehen wir konkret an den "Ohne-mich"-Mentalitäten, wie sie sich etwa in der geringen Wahlbeteiligung zum demokratischen Recht und zur Pflicht bei den letzten Landtagswahlen zeigen, in unserem Lande nicht allzu weit her. Als wenn es einer Bestätigung der Warnrufe in diesem Buch bedürfte, haben kürzlich Wissenschaftler der Universität Leipzig in einer repräsentativen Umfrage, die sie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung bei älter als 14jährigen Deutschen durchgeführt haben, festgestellt, dass sich jeder vierte Befragte eine einzige Partei in unserem Land wünsche, die die "Volksgemeinschaft" vertrete; und jeder Fünfte möchte sogar an der Spitze des Landes einen Führer haben, der "Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert". Wo kommen diese Einstellungen her, die sich als "Mentalitäten" verbreiten? Sicherlich fallen sie nicht vom Himmel, sondern werden von den interessierten Mächten in der Gesellschaft unters Volk gebracht, mit den Medien und dem, was gemeinhin als "Flüsterpropaganda" bezeichnet wird: "Die falsche Wirklichkeit produziert zwangsläufig falsches Bewusstsein". Der ideologisch instrumentalisierte "verkaufte Mensch", wie Zinn dies in einem anderen Buchtitel (2001) nennt, benötigt, um auch nur ansatzweise Alternativen zum "globalisierten Kapitalismus" (vgl. dazu auch die Rezension zu: Olaf Gerlach u.a., Hrsg., Peripherie und globalisierter Kapitalismus. Zur Kritik der Entwicklungstheorie, 2004) denken zu können, "die Kenntnis des Zusammenhangs von politischer Ökonomie und ideologischer Legitimationsfunktion".
So wendet sich Karl Georg Zinn zuallererst dem "Fundament jeder Gesellschaft und kulturellen Entwicklung" zu, der Arbeit in ihrer historischen und aktuellen Bedeutung. Die ideologische Illusion einer "Vollbeschäftigung" konfrontiert er mit der "Ausbeutung zur Arbeitslosigkeit", indem er die vielfältigen Ursachen der Beschäftigungskrisen in den industrialisierten Gesellschaften darlegt. Der aktuellen Beschäftigungspolitik erteilt er dabei eine eindeutige Absage: "Wenn aber der Wachstumsweg sein Ende erreicht, gibt es letztlich keine andere Möglichkeit, Vollbeschäftigung zurückzugewinnen, als eine Neuverteilung der Arbeit". Die Diskussion um eine, ja bereits teilweise verwirklichte Arbeitszeitverlängerung, sei, so deutlich spricht es der Autor aus, nichts anderes als ein von "Ignoranz, Dummheit und verantwortungslose(r) Kurzsichtigkeit" bestimmtes politisches Denken und Handeln. Im zweiten Kapitel kommt Zinn zwangsläufig zu dem Fetisch, der seit Jahrhunderten die Ökonomie in den reichen Volkswirtschaften antreibt - und im Zeichen der Globalisierung sogar die marginalisierten Subsistenzwirtschaften erreicht hat: Wirtschaftliches Wachstum, das als Paradoxon des kapitalistischen Wohlstands, Überfluss und Mangel schafft. Weil die Zunahme der Verteilungsungleichheiten - lokal, regional und global - zu den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus gehöre und in der aktuellen Entwicklung "die Globalisierung …dem Kapitalismus eingeboren ist", sieht der Autor (als unbequeme Wahrheit) im Wachstumsverzicht die einzige Chance zur humanen Weiterexistenz der Menschheit, "zuerst in den alten Reichtumsländern, sukzessive dann aber wohl auch in der übrigen Welt". Mit einem historischen Exkurs wendet sich Zinn im dritten Kapitel den Ursachen zu, wie die gegenwärtige Massenarbeitslosigkeit und die steigende Armut in den reichen Volkswirtschaften zu erklären ist. Von der Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhundert bis zum Aufstieg des deutschen und europäischen Faschismus zieht sich ein deutlich erkennbarer Strang von politischen Illusionen und ideologischer Verführung. Über Ideologien und ihre Macht bei der Einflussnahme auf das gesellschaftliche Dasein hat der Autor in den vorherigen Kapiteln seines Buches vielfach gesprochen. Im vierten Kapitel nimmt er sich das Ideologieproblem in der politischen Ökonomie in besonderer Weise vor: "Zumindest metaphorisch gesprochen erscheint der Glaube an den kapitalistischen Markt als einer an seinen göttlichen Ursprung". Indem er die verschiedenen Auffassungen, die Weltbilder bestimmen können, interpretiert - den Rechtfertigungs-, Komplementär-, Verschleierungs- und Ausdrucksideologien - ruft er für die wissenschaftliche Arbeit und die alltägliche Auseinandersetzung um ein "gutes Leben" auf zur Ideologiearbeit und damit zu (im wahrsten Sinne des Wortes) Anstrengungen zur individuellen und gesellschaftlichen Veränderung, zum Perspektivenwechsel, kurz, zur politischen Bildung.
Im Vorwort weist Karl Georg Zinn darauf hin, dass die Krise der Gesellschaften auch eine Krise des kapitalistischen Denkens und Handelns sei: "Der entwickelte Kapitalismus verfügt nicht mehr über die inneren Kräfte, um den früheren, steilen Wachstumstrend zu regenerieren". Als Fazit macht er deutlich, dass eine Krisenanalyse "nicht ohne Verständigung über Ideologie" möglich ist.
Fazit
Das Buch liefert vielfältige Informationen und Handlungsanregungen dafür, endlich, lokal und global das anzugehen, was die Weltkommission "Kultur und Entwicklung" (1995) als Herausforderung zum Umdenken bezeichnet, nämlich sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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