Dagmar Brand: Alleinerziehende mit volljährigen Kindern. Über den Wandel von Lebenslagen und Lebensformen
Rezensiert von Prof. Dr. Veronika Hammer, 23.09.2007
Dagmar Brand: Alleinerziehende mit volljährigen Kindern. Über den Wandel von Lebenslagen und Lebensformen. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2006. 291 Seiten. ISBN 978-3-531-14942-4. 34,90 EUR.
Thema
Ein Strukturwandel der Familie ist in Deutschland seit etwa Mitte bis Ende der 1960er Jahre zu verzeichnen. Es entstand eine vom bürgerlichen Familienleitbild der "Normalfamilie" - verheiratete Eltern mit eigenen Kindern in einem Haushalt - abweichende "neue" Vielfalt von legitimierten Familien- und Haushaltstypen: Nichteheliche Lebensgemeinschaften, das Living-Apart-Together, Alleinerziehende, Stieffamilien, kinderlose Paare oder Ehen, Alleinlebende, Wohngemeinschaften, Inseminationsfamilien, Adoptivfamilien, Eingetragene Lebenspartnerschaften, Commuter-Ehen usw. Von diesem Strukturwandel haben die Alleinerziehendenfamilien profitiert. Sie gelten inzwischen als eine Familien- und Lebensform von vielen und haben sich ganz generell einen weitgehend anerkannten Status erworben.
Speziell zu den Lebenslagen Alleinerziehender mit volljährigen Kindern wird mit vorliegender Publikation ein Forschungsfeld bearbeitet, das bisher brach lag. Dagmar Brand fokussiert explizit Alleinerziehende mit erwachsenen bzw. volljährigen Kindern und erobert damit ein neues Terrain zur differenzierten Analyse familialer Wirklichkeit.
Entstehungshintergrund
Im Forschungsprojekt zum Thema "Alleinerziehende: Risiken und Chancen auf dem Arbeitsmarkt - Veränderung von Lebenslagen und Lebensformen" (Brand/Hammer 2002) - einer Repräsentativstudie, die weiterführende Aufschlüsse zur Lebenssituation Alleinerziehender im Bundesland Thüringen erbrachte - entstand die Fragestellung, die Dagmar Brand entwarf und zu ihrem Buch führte. Im Rahmen umfangreicher Literatur- und Forschungsanalysen zur Familienform Alleinerziehender war klar geworden, dass in einem Bereich noch ein "weißer Fleck", ein unerforschtes Wissensgebiet, bestand. Für diesen Bereich "Alleinerziehende mit volljährigen Kindern" wurde dringend empirisches Wissen benötigt, u.a. um familiensoziologische Wissensbestände zu ergänzen. Dagmar Brand konnte außerdem auf die im genannten Projekt gewonnenen quantitativen Daten aus dem Repräsentativdatensatz (n = 649) zurückgreifen, diese unter Zugrundelegung ihrer Forschungsfrage auswerten sowie zusätzlich neue Interviews (n = 13) führen und entsprechend qualitative Recherchen anschließen.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Teil der Arbeit stellt Dagmar Brand zunächst zentrale Befunde aus der Single-Parent-Forschung vor, die insbesondere auf die Vielfalt der Lebenslagen verweisen. Dabei wird u.a. deutlich, dass die meisten Studien einen definitorischen Altersschnitt bei 18 Jahren machen. Damit werden die Bezüge zur Gruppe der älteren Kinder aus den Forschungen ausgegrenzt.
Des Weiteren findet in diesem Kapitel eine Darstellung der theoretischen Rahmung der Dissertation statt. Der sozialökologische Ansatz von Bronfenbrenner (1981/1986) gilt als Bezugstheorie, weil Interaktionen der Alleinerziehendenfamilie immer auch andere Systemebenen mit einbeziehen:
- Mikrosystem: Persönlichkeiten von Müttern, Vätern und Kindern. Familiale Beziehungen. Familienklima. Soziale Lagen im Familiensystem.
- Meso-/Exosystem: Beziehungen zwischen Einelternfamilie und sozialen Institutionen, z.B. Beratungs- und Betreuungseinrichtungen. Arbeitsplatz der Alleinerziehenden. Soziale Netzwerke im persönlichen Bereich.
- Chronosystem: Kette von Lebensübergängen. Anstoß von Entwicklungsprozessen. Wandel der Beziehungen zwischen den Subsystemen.
- Makrosystem:Gesellschaftlich geteilte Wertevorstellungen z.B. zu Partnerschaft, Ehe, Familie. Behörden, Ämter, Organisationen, Firmen.
Der zweite Teil enthält spezifische Ergebnisse zur Erwerbstätigkeit, zum Einkommen, zu demografischen Faktoren sowie zu Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, zu Alleinerziehenden mit volljährigen Kindern und zu Alleinerziehenden mit Kindern ohne Altersbegrenzung. Dagmar Brand gewann diese Befunde mittels einer quantitativ angelegten SPSS-Reanalyse des Datensatzes zur Repräsentativerhebung der Situation Alleinerziehender in Thüringen. Der Ertrag dieses Kapitels bezieht sich auf zwei Punkte. Zum einen liegt er darin, dass durch einen Vergleich zwischen drei verschiedenen Alleinerziehenden-Gruppen einige Ergebnisse hinsichtlich der Heterogenität dieser Familienform in Erfahrung gebracht werden konnten. Zum anderen wurden weitere Fragestellungen generiert, zu deren Beantwortung Dagmar Brand eine qualitative Herangehensweise wählte, womit sie in Gänze ein triangulatorisches Design ihrer Dissertation entwarf.
Zunächst sollen daher in der gebotenen Kürze einige Befunde aus dem quantitativ angelegten Vergleich der drei verschiedenen Alleinerziehenden-Gruppen wiedergegeben werden. Alleinerziehende mit volljährigen Kindern heben im Gegensatz zu anderen Alleinerziehenden die Beziehung zum Kind als Vorteil ihrer Lebenssituation hervor. Hingegen benennen sie die Alleinverantwortung und die finanzielle Situation als Nachteil und als belastend. Insgesamt halten sich ihrer Meinung nach die Vorteile in etwa die Waage mit den Nachteilen. Auch der Gesundheitszustand der volljährigen Kinder und der eigene Gesundheitszustand werden von den Alleinerziehenden eher als belastend beschrieben. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch der Befund, dass die Quote behinderter Kinder in Haushalten mit volljährigen Kindern mit 6,5 Prozent deutlich über der von Alleinerziehenden-Haushalten mit nur minderjährigen Kindern - 3,0 Prozent - liegt. Alleinerziehende mit volljährigen Kindern haben tendenziell eine höhere schulische und berufliche Qualifikation, jedoch führen diese offenbar nicht zu entsprechenden beruflichen Positionen, denn die Erwerbstätigen weisen keine anderen Beschäftigungssituationen als die anderen Befragten auf - sie befinden sich auch mit ihrem Nettoeinkommen in einer Mittelposition. Außerdem sind sie durch ausbleibende Unterhaltszahlungen sowie mangelhafte staatliche Unterstützung belastet. Dagmar Brand stellt die Hypothese auf, dass möglicherweise die Kinder dieser Alleinerziehenden längere Ausbildungswege wählen.
Insbesondere die Befunde zu den "familialen Ökologien" - die Dagmar Brand in dem noch quantitativen Teil untersucht hat - zeigen, dass eine Ergänzung mit weiteren Aspekten, die speziell zur Forschungsfrage der Dissertation passen, unabdingbar ist. Zur Ermittlung der ökologischen Gestalt führte Dagmar Brand beispielsweise eine Clusteranalyse mit 41 Fällen (Alleinerziehende mit volljährigen Kindern) durch. Die Ergebnisse verdeutlichen zwar, dass sich unter Alleinerziehenden mit volljährigen Kindern systematische Unterscheidungen finden lassen, z.B. geht eine höhere Erwerbsbeteiligung mit einem höheren Einkommen einher, z.B. ist die Wohnzufriedenheit bei den Alleinerziehenden mit geringerem Berufsstatus geringer als bei den anderen. Aber es darf vermutet werden, dass noch weitaus interessantere Befunde zu ermitteln sind, wenn auch die Variablen inhaltlich besser und neu auf die Fragestellung der Arbeit zugeschnitten sind.
Mit dem dritten Teil werden sodann alle Ergebnisse der qualitativen Erhebung - der sog. "Interviewstudie" - dargestellt. Der Fokus der problemzentrierten Interviews (n = 13) lag darauf, die bisher relativ unverbunden nebeneinander stehenden Befunde zur Situation Alleinerziehender mit volljährigen Kindern - z.B. Belastungsempfinden, Erwerbssituation, finanzielle Situation - miteinander in Beziehung zu setzen und vor allem auch neue Fragen zu stellen. Die Kriterien der Auswahl der 13 Fälle legte Dagmar Brand folgendermaßen fest: Familienstand, Erwerbstätigkeit und berufliche Position, Anzahl der Kinder, Vorliegen einer Behinderung beim Kind, Stadt/Land, Alter der Alleinerziehenden. Brand versuchte, im Sinne einer minimalen und maximalen Kontrastierung zu den ersten Fällen weitere Fälle auszuwählen und auszuwerten. Dieses Verfahren wiederholte sie bis zum Zeitpunkt der empirischen Sättigung, d.h. bis die Erhebung weiterer Fälle keinen theoretischen Mehrwert versprach. Der Frageleitfaden umfasste im Wesentlichen folgende neu generierten Themenkomplexe:
- Familiale Situation, Kinder, Partnerschaft, Herkunftsfamilie
- Alltagsbewältigung, soziale Unterstützung
- Berufliche und finanzielle Situation, Freizeitverhalten
- Bilanz und Ausblick der Lebenssituation, der Erlebnisbereiche, der Perspektiven
Das Auswertungsverfahren bezog sich auf eine Auswertungsstrategie, mit deren methodischem Vorgehen versucht wird, aus den Texten die subjektive Strukturierung der Lebenswelt der Befragten und damit aus der Wiedergabe der Lebensgeschichte "Deutungsmuster" zu entschlüsseln.
Aus den Erzählungen der befragten allein erziehenden Frauen konnten zunächst drei Gruppen rekonstruiert werden, die zu 62 % ein positives Familienklima, zu 31 % Ambivalenzen bezüglich des Familienklimas und der Beziehung zu den Kindern und zu 7 % ein negatives Familienklima und eine problematische Beziehung zu den Kindern aufweisen.
Nach der Auswertung der im Frageleitfaden genannten Themenkomplexe ergab sich jedoch noch ein weit differenzierteres Bild, das Aufschluss darüber gibt, welche Mechanismen der Beeinträchtigung bzw. der Stabilisierung des Familienklimas zu erkennen sind (Brand 2006: 252). Die zentralen Aspekte zur Einschätzung des Familienklimas liegen in der subjektiven Deutung der sozioökonomischen Situation der Familie, in einer zufrieden stellenden sozialen Unterstützung, in einer befriedigenden beruflichen Situation und in den kognitiv-emotionalen Folgen des Alleinerziehens. Trotz vielfältigster Lebensgeschichten und Lebenssituationen lassen sich relativ konsistente Muster und Regelmäßigkeiten finden, die einerseits zur Theoriebildung anregen. Andererseits zeigen sie u.a. auf, wo Interventionsmöglichkeiten liegen könnten. Alleinerziehende sind - wie eingangs bereits vorgestellt - eine inzwischen legitimierte und akzeptierte Familien- und Lebensform von vielen. Dennoch sollte auch die entsprechend "unauffällige" Bewältigung ihres Alltags in Kombination mit einer in diesem Falle verkürzten ressourcenorientierten Sichtweise nicht dazu verleiten, erkennbare Risiken und Problemkonstellationen zu verschleiern. Dagmar Brand stellte fest, dass es durchaus gesellschaftliche und gemeinschaftliche Unterstützungsangebote geben müsste, die bei der Lebensbewältigung hilfreich sein könnten, da Alleinerziehenden-Gruppen in Deutschland leben, die - auch angesichts des politischen Transformationsprozesses - vor allem in den neuen Bundesländern "durch alle Raster" fallen.
Im Teil vier findet eine kurze zusammenfassende Betrachtung und Diskussion aller empirischen Ergebnisse statt. Als wesentlichste Bezugspunkte gelten die soziodemografischen Merkmale, die innerfamiliale Situation, die Bildungs-/ Erwerbssituation und die Verortung auf dem Arbeitsmarkt, die finanzielle Situation und das Alleinerziehen als Lebensform.
Der fünfte Teil fokussiert auf politische Handlungsanregungen für Einelternfamilien, die Dagmar Brand aus den Ergebnissen ihrer Dissertationsarbeit ableitet. Und er zielt ab auf den theoretischen Rahmen der Arbeit und referiert dazu einige Bezüge:
- Soziale Unterstützung - Korrespondenzen mit dem Meso- und Exosystem: z.B. Alleinerziehende mit volljährigen behinderten Kindern nehmen eher institutionelle Hilfe in Anspruch als Alleinerziehende, die keine behinderten Kinder haben. Womöglich wirkt hier das Recht auf Privatsphäre in Partnerschaft und Familie (aus dem Makrosystem). Fehlende institutionelle professionelle Dienste und Unterstützungsleistungen (z.B. Soziale Arbeit, Ämter, Behörden) erzeugen jedoch auch oftmals Ratlosigkeit bei den betreffenden Alleinerziehenden. Die Kinder werden so für die allein erziehenden Mütter selbst eine wichtige Ressource.
- Finanzielle Situation und Erwerbsbeteiligung - Korrespondenzen mit dem Makrosystem: z.B. finden selbst bei "objektiv" geringem Einkommen finanzielle Transfers der allein erziehenden Mütter an ihre - wirtschaftlich unselbständigen - Kinder statt.
- Subjektive Bewertung des Alleinerziehens als Lebensform - Korrespondenzen mit dem Mikrosystem: z.B. resultieren eine gelingende Alltagsbewältigung und ein entsprechendes Wohlbefinden im Wesentlichen aus der subjektiven Selbst- und Situationsdefinition und weniger aus den allgemeinen Umständen. Unterstützend wirken alternative Wertevorstellungen und Institutionen, denen es gelingt, "Klienten" nicht als "abweichend" von der Norm, sondern als Kontaktpersonen zu sehen, die einen gesellschaftlich legitimierten Anspruch einlösen.
Die m.E. bemerkenswerteste politische Handlungsanregung für Einelternfamilien mit volljährigen Kindern verweist insbesondere darauf, dass eine finanzielle Entlastung dieser Familien - die mit einer Stärkung der Leistungsfähigkeit und Bedarfsgerechtigkeit zentraler gesellschaftlicher Institutionen einhergeht - eingefordert wird. Wichtigster Indikator neuer bedarfsgerechter Leistungen ist der Auszug der volljährigen Kinder aus dem Einelternhaus. Es geht nicht darum, begleitende Unterstützung anzubieten, damit das Familienklima oder eine unterstellte mangelnde Organisationsfähigkeit besser wird, sondern darum, dass Eigenverantwortlichkeit gestärkt wird. Behinderte und Nicht-Behinderte sollen aus dem Elternhaus ausziehen und sich selbständig machen können, das ist die professionelle Haltung, zu der Dagmar Brand gesellschaftliche Institutionen auffordert. Durch die Handlungsanregungen wird deutlich, dass Alleinerziehen mehr als ein Organisationsproblem ist und dass die "Förderung von Ablösungsprozessen" in dieser Konsequenz das notwendige "Qualitätsmerkmal" für institutionelle und private Unterstützungsleistungen darstellt.
Diskussion
Wissenschaftlich fundiert und mit der Konzentration auf das Wesentliche stellt Dagmar Brand neue familiensoziologische Erkenntnisse vor, die am Ende auch ganz praktische Handlungsbezüge aufweisen. Das Werk bietet einen äußerst ertragreichen und sehr differenzierten Einblick in die Lebenslagen Alleinerziehender mit volljährigen Kindern. Es zeigt insbesondere Befunde zum Familienklima, zur beruflichen und finanziellen Situation, zu den sozialen Netzwerken und zu Besonderheiten in der Lebenssituation dieser Alleinerziehendengruppe auf. Interessant wäre es noch gewesen, wenn einige Ideen zur Theoriebildung aufgegriffen worden wären und wenn die Genderperspektive an ein paar Stellen Berücksichtigung gefunden hätte. Der positive Ertrag des Gesamtwerkes macht jedoch diese kleinen Schwächen wieder wett. Die Ergebnisse des Buches sind insbesondere für folgende Disziplinen und Fachbereiche von Relevanz: Familiensoziologie, Familien- und Sozialpolitik, Lebenslagen- und Netzwerkforschung, lokale soziale Institutionen (Kommunen, Landkreise, Träger sozialer Dienste, Vereine, Verbände).
Fazit
Dagmar Brand gelingt es insgesamt, äußerst qualifiziert empirisches Wissen zu generieren, das zum besseren Verständnis der Differenziertheit von Alleinerziehendenfamilien auf allen kommunalen und gesellschaftlichen Ebenen beiträgt. Darüber hinaus stellt das Werk einen unverzichtbaren Beitrag zur empirischen Fundierung neuer Erkenntnisse in der Single-Parent-Forschung dar.
Rezension von
Prof. Dr. Veronika Hammer
Hochschule Coburg, University of Applied Sciences and Arts
Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit
Lehrgebiete: Sozialarbeitswissenschaft, Empirische Sozialforschung, Gesellschaftswissenschaftliche Grundlagen
Website
Es gibt 5 Rezensionen von Veronika Hammer.
Zitiervorschlag
Veronika Hammer. Rezension vom 23.09.2007 zu:
Dagmar Brand: Alleinerziehende mit volljährigen Kindern. Über den Wandel von Lebenslagen und Lebensformen. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2006.
ISBN 978-3-531-14942-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4526.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.
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