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Hans-Jürgen Leonhardt, Kurt Mühler: Chronisch mehrfachgeschädigte Abhängigkeitskranke

Rezensiert von Arnold Schmieder, 24.10.2008

Cover Hans-Jürgen Leonhardt, Kurt Mühler: Chronisch mehrfachgeschädigte Abhängigkeitskranke ISBN 978-3-7841-1629-7

Hans-Jürgen Leonhardt, Kurt Mühler: Chronisch mehrfachgeschädigte Abhängigkeitskranke. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2006. 180 Seiten. ISBN 978-3-7841-1629-7. D: 23,00 EUR, A: 23,00 EUR, CH: 40,30 sFr.

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Thema

CMA – was sich hinter diesem Akronym verbirgt, scheint so neu nicht. Summt man nur einige Grundmerkmale dieser Chronisch mehrfachgeschädigten Abhängigkeitskranken auf, zeichnet sich schnell das Bild eines Elendsalkoholismus in nicht unbedingt neuem Gewand ab. Zugehörigkeit zu sozial benachteiligten Randgruppen, rechtlich auffällig bis kleinkriminell und in der Regel verschuldet, oft ohne Arbeit und Wohnung, sozial handlungsunfähig, an Körper und Seele geschädigt und heutzutage Drehtürpatienten in Entgiftungs- und Entwöhnungsbehandlungen – unter dem Strich ein Patientengut, das man lange für therapieresistent hielt. Weil sich selbst Suchtexperten schwer taten, die CMA als eine besonders problematische Gruppe unter den Alkoholkranken zu betrachten, die mehr an konkreter (Über-)Lebenshilfe brauchte als therapeutische Intervention und Anleitungen zur Wiedereingliederung, hatte sie lange Zeit keine Lobby. Man rechnet mit etwa 400 Tsd. CMA in der Bundesrepublik, für die ca. 10 Tsd. Betten in therapeutischen Einrichtungen bereit gehalten werden. Viel zu wenig, meinen die Autoren, die mit ihrer Studie das Problem deutlicher als bisher zur Sprache bringen wollen. Dass die CMA überhaupt in den forschenden Blick genommen worden sind, verdanke sich als Nebeneffekt der deutschen Wiedervereinigung. Depravierte Säufer passten nicht ins sozialistische Menschenbild und in Westdeutschland waren sie Klientel der Freien Wohlfahrtspflege. Mit der Veränderung der Kostenträgerschaft rutschten die CMA vollends ins Abseits, so dass in der ehemaligen DDR schleunigst Einrichtungen aufzubauen waren, die auf dieses spezifische Krankheitsbild reagieren konnten. Dazu war die Zuarbeit von Suchtfachleuten erwünscht.

Inhalt

Hier reiht sich die Studie von Leonhardt und Mühler ein, und zwar offensichtlich sehr prominent.

Zunächst wird eindrucksvoll nachgewiesen, dass gerade diese Abhängigkeitskranken nur zu verstehen sind, wenn man den Blick nicht nur für deren, sondern für eine allgemein anwachsende soziale Desintegration öffnet. Damit wird auch eine nur individualtherapeutische Sichtweise überwunden.

Im zweiten Teil werden die langjährigen praktischen Erfahrungen der Autoren gebündelt vorgestellt, die Behandlungskette skizziert und nachdrücklich auf Soziotherapie verwiesen. Ihre statistischen Analysen stützen die Autoren auf eine Längsschnittuntersuchung im Freistaat Sachsen, wobei die einzelnen Erhebungen in den Jahren 2000 bis 2004 gemacht wurden. Die daraus gewonnene allgemein statistische sei sehr gut mit einer individualtherapeutischen Perspektive zu verbinden, womit eine Qualitätsverbesserung in der Betreuung dieser spezifischen Zielgruppe zu erreichen sei – so die Autoren. Zumal der Praktiker wird sein Augenmerk auf die Soziotherapie richten, das Kernstück der Betreuung und Behandlung von CMA. Über die Ziele und Inhalte dieser Therapieform und die Wege ihrer Einlösung wird informiert, und zwar bis in die Feinheiten der Muster von Heimverträgen und Hausordnungen.

Die theoretischen Überlegungen kreisen um das Problem von Abhängigkeitskarrieren als Ressourcenverbrauch. Gerade dieses Kapitel ist weit mehr als ein pflichtschuldig erbrachter theoretischer Bezugsrahmen. Die unhintergehbare soziale Dimension der Alkoholerkrankung wird deutlich hervorgekehrt. Soziale Ressourcen sind "nicht lediglich ein Anhängsel somatischer und psychischer Gesundheit", was zu der "Grundannahme" führt, die "Herstellung der eigenen Lebensgrundlagen" vollziehe "sich auf einem bestimmten Niveau sozialer Integration. Je höher die soziale Integration ist, umso mehr Möglichkeiten zur Herstellung der eigenen Lebensgrundlagen bestehen." (S. 43) Das scheint trivial wie etwa der Hinweis banal anmutet, das "Dunkelfeld der Alkoholabhängigen" steige "mit der Höhe der Schichtzugehörigkeit." (S. 116) Doch, und dies holen die Verfasser über soziologische und sozialpsychologische Anleihen ein, ist (auch) damit auf "Gesellschaft" als Verursachungszusammenhang der Alkoholerkrankung verwiesen, und zwar bis in den Bereich der sozialen und psychosozialen, körperlichen und seelischen Verelendung Chronisch Mehrfachgeschädigter Abhängigkeitskranker. Eine entsprechend den Problemlagen strukturierte Behandlungskette, besondere therapeutische Handlungsanweisungen sollen hier abfedern, mildern – was sicherlich allen Beteiligten nützt.

Fazit

Nach Lektüre drängt sich ein Resümee auf, das nachdenklich stimmen mag. Etwa wird man an Henry Fieldings Bemerkung von 1751 angesichts des Anbrandens einer Ginwelle gerade in unteren sozialen Schichten erinnert, dass es sich – zu jener Zeit des Massenelends – um eine neue Art von Trunkenheit handele, welche seine Vorfahren nicht gekannt hätten; oder die zeitgleichen Blätter von William Hogarth, Beer Street und Gin Lane, wobei der Künstler den Alkohol noch als Ursache, nicht Folge der Armut sah; und dann vor allem an Charles Dickens, der etwa hundert Jahre später meinte, man könne diese Abfolge auch umgekehrt sehen. So bleibt dann gerade angesichts der empirischen Befunde auch der fade Beigeschmack, die Studie dokumentiere die traurige Renaissance eines überwunden geglaubten Elendsalkoholismus, mehr drüben als hüben, in verblühenden Landschaften.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 24.10.2008 zu: Hans-Jürgen Leonhardt, Kurt Mühler: Chronisch mehrfachgeschädigte Abhängigkeitskranke. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2006. ISBN 978-3-7841-1629-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4534.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.


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