René Simmen, Gabriele Buss et al.: Systemorientierte Sozialpädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Heiko Kleve, 23.03.2009

René Simmen, Gabriele Buss, Astrid Hassler, Stephan Immoos: Systemorientierte Sozialpädagogik. UTB (Stuttgart) 2008. 2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. 272 Seiten. ISBN 978-3-8252-2996-2. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 34,70 sFr.
Thema
Der systemorientierte oder – wie es zumeist heißt: systemische bzw. systemtheoretische Ansatz gehört inzwischen zum festen konzeptionellen Bestand der Sozialen Arbeit. Der „gute Ton“ erfordert möglicherweise gar, Praxiskonzepte als systemisch zu bezeichnen und systemorientierte Vorgehensweisen zu präferieren. Mitunter kann sich gar der Eindruck aufdrängen, dass der Systembegriff eine Eye Catcher-Funktion erfüllt. Das vorliegende Buch jedoch kann als eine profunde Einführung in eine systemische Sozialpädagogik bewertet werden. Insbesondere auf der Basis klassischer und neuerer systemisch-konstruktivistischer Konzepte bietet es einen breiten Überblick zum systemischen Ansatz in der Sozialpädagogik. Anhand von zahlreichen Praxisbeispielen zeigen die Autoren, was es heißt, in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern sowie mit den diese Arbeit tangierenden Organisationen systemisch zu agieren. Obwohl der systemische Ansatz, wie er dem Buch zugrunde gelegt wird, ein grundsätzlich interventionskritisches Verständnis von Praxis befördert und einen eher ernüchternden Blick auf die Möglichkeiten von Veränderung wirft, verspricht das vorliegende Buch, das sozialpädagogische Intervenieren wirksamer und nachhaltiger zu machen.
Autoren
Alle Autoren kommen aus der Schweiz.
Dr. phil. René Simmen ist klinischer Psychologe und Heilpädagoge mit einer eigenen Praxis für Organisationsberatungen, Weiterbildung und Coaching. Zudem ist er Lehrbeauftragter an der Universität Freiburg (Schweiz).
Prof.‘in Gabriele Buss ist Sozialpädagogin und Dozentin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften St. Gallen. Darüber hinaus ist sie als systemische Beraterin und Weiterbildnerin in unterschiedlichen Praxiskontexten tätig.
Astrid Hassler hat einen Masterabschluss in Quality Management, sie ist Ergotherapeutin sowie als Organisationsberaterin und Supervisorin im Profit und Non-Profit-Bereich tätig.
Stephan Immoos ist Psychologe, Sozialarbeiter und Familientherapeut sowie Leiter der Fachstelle Kinderbetreuung Luzern. Zudem ist er als Projektberater tätig für systemische Sozialpädagogik und Sozialarbeit, Supervision und Weiterbildung.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert:
Zunächst werden die Grundlagen der systemorientierten Sozialpädagogik referiert. Hier geben die Autoren einen Einblick in die Geschichte des systemischen Konzeptes und profilieren ihren eigenen sozialpädagogischen Ansatz.
Zweitens wird Das Klientensystem thematisiert. Dabei geht es u.a. um die Darstellung eines systemischen Verständnisses des Menschen.
- Wie lassen sich Systeme in ihrer Gleichzeitigkeit von Unabhängigkeit und Abhängigkeit verstehen?
- Zu welchen Kommunikationsmustern verstricken sich Klienten- und Hilfesysteme?
- Wie lassen sich fallbezogene systemische Handlungskonzepte in der Sozialpädagogik entwickeln?
Solche und ähnliche Fragen werden in diesem Kapitel zumeist sehr ausführlich behandelt.
Wie Hilfesysteme aus systemorientierter Sicht betrachtet werden können, ist das Thema des dritten Kapitels. Dabei spielen insbesondere Fragen eines passenden Verständnisses von sozialpädagogischen Organisationen eine zentrale Rolle.
- Wie funktionieren solche Organisationen?
- Wie sind sie aufgebaut und kommunikativ strukturiert?
- Welche Möglichkeiten, verändernd auf die Organisationen einzuwirken, gibt es?
- Wie und unter welchen Bedingungen ist eine gute Teamarbeit möglich?
In den Teilen des Kapitels werden zu all diesen Fragen brauchbare Begriffe und Arbeitshilfen geboten.
Im vierten Kapitel geht es um Externe Hilfssysteme – die dritte Instanz. Hier wird vor allem der behördliche Kontext sozialpädagogischer Arbeit vertieft. Gerade die Gestaltung der Triade zwischen einem Klientensystem, einer sozialpädagogischen Einrichtung und einer Behörde der Sozialverwaltung (z.B. Jugendamt) stellt hohe fachliche Ansprüche, fordert Können und Geschick bei der Verhandlung und Bewältigung der jeweiligen Aufgaben. Wie solche Dreiecksverhältnisse passabel gestaltet werden können, vermitteln die einzelnen Abschnitte.
Die Sozialpädagogin steht im Mittelpunkt des fünften Kapitels. Dieser anspruchsvolle Beruf erfordert ein permanentes Lernen und Entwickeln. Auf welchen Ebenen dies geschieht, wird im Einzelnen ausgeführt. Dabei bieten die Autoren aber auch Anregungen und Hilfen an, wie dieser permanente Entwicklungsprozess nachhaltig gefördert werden kann. Denn ihrer Meinung nach ist der „Umgang mit Klienten und Kollegen […] Umgang mit sich selbst! Halt bieten kann nur, wer sich selbst gehalten fühlt“ (S. 208).
Das letzte Kapitel bietet zwei Praxisbeispiele für die systemorientierte Sozialpädagogik. Zuerst wird eine sozialpädagogische Einrichtung präsentiert, und zwar das Krisenzentrum an der Columbusgasse in Wien. Diesbezüglich steht die Darstellung des Aufbaus der Einrichtung, ihre konzeptionelle Orientierung und Kooperationsstruktur im Mittelpunkt des Interesses. Schließlich wird der „Fall Roger“ präsentiert, und zwar auf der Basis einer systemorientierten Falldarstellung. So wird der gesamte Ablauf der systembezogenen Sozialpädagogik vermittelt. Der Leser bekommt eine gute abschließende Zusammenschau der systemischen Arbeit.
Jedes Kapitel ist mit anschaulichen Abbildungen und zahlreichen Praxisbeispielen angereichert, die für eine Vertiefung des Verständnisses sorgen. Am Ende eines jeden Kapitels ist eine Literaturliste mit den zitierten und weiterführenden Quellen angefügt.
Diskussion
Wer sich die Mühe macht und das Buch systematisch durcharbeitet, der gewinnt mit Sicherheit ein sehr gutes Verständnis systemorientierter Sozialpädagogik. Alle Themen sind passend aufbereitet. Das Buch gibt sowohl einen Überblick über die für das Arbeitsfeld maßgeblichen systemisch-konstruktivistischen Theoriepositionen als auch über die dazu passenden Methoden und ihre Nutzung in der Praxis.
Die Ausführungen der Autoren leisten allerdings keine metatheoretische Einordnung des systemischen Ansatzes in den Kontext der Sozialen Arbeit. Es wird sogleich in die Praxis gesprungen und geschaut, wie dort mit systemischen Hilfsmitteln agiert werden kann. Die Auseinandersetzung mit anderen systemischen Ansätzen der Sozialen Arbeit unterbleibt; an diese wird auch kaum angeschlossen. Weshalb ganze Theoriestränge der systemischen Sozialen Arbeit (z.B. Staub-Bernasconi/Geiser, Ritscher, Hosemann/Geiling etc.) ausgeklammert werden, bleibt offen.
Was schließlich nicht geklärt wird, ist das institutionelle Verständnis von Sozialpädagogik, das die Autoren vertreten. Während in der Schweiz und Österreich nach wie vor eine strikte Trennung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik zu beobachten ist, so wird in Deutschland seit einigen Jahren von der Identität oder zumindest der Konvergenz beider Bereiche ausgegangen. Ist also das, was hier unter systemorientierter Sozialpädagogik subsumiert ist, auch gültig für eine systemische Sozialarbeit? Nach meinem Dafürhalten spricht nichts gegen eine positive Beantwortung dieser Frage. Die sozialpädagogische Ausrichtung des Buches kommt vor allem in den Falldarstellungen zum Tragen, die sich zumeist auf die klassischen Settings der Erziehungshilfen beziehen.
Zielgruppe
Das Buch kann vor allem Studierenden und Praktikern empfohlen werden, die sich ausgesprochen praxisorientiert dem systemischen Ansatz annähern wollen und die sich zudem für die unterschiedlichen Felder der stationären und ambulanten Erziehungs- und Familienhilfen interessieren.
Fazit
Es handelt sich um ein gut gemachtes Grundlagenwerk zur Praxis der systemischen Sozialen Arbeit in den Feldern der Erziehungshilfe. Den Autoren ist es gelungen, die Mehrdimensionalität des systemischen Ansatzes herauszustellen. Nicht nur die systemisch-methodische Arbeit mit Klienten wird präsentiert, sondern u.a. auch die innerorganisatorischen Aufgabenstellungen sowie die Kooperationsorientierung systemisch reflektierter Praxis. Dabei wird deutlich, dass der systemische Ansatz, wenn er in allen seinen Facetten ernsthaft implementiert wird, als umfassendes Gesamtkonzept der Sozialen Arbeit verstanden werden muss.
Rezension von
Prof. Dr. Heiko Kleve
Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft, Department für Management und Unternehmertum, Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU)
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