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Niels Peter Rygaard: Schwerwiegende Bindungsstörung in der Kindheit

Rezensiert von Prof. Dr. Eva-Mia Coenen, 26.03.2007

Cover Niels Peter Rygaard: Schwerwiegende Bindungsstörung in der Kindheit ISBN 978-3-211-29706-3

Niels Peter Rygaard: Schwerwiegende Bindungsstörung in der Kindheit. Eine Anleitung zur praxisnahen Therapie. Springer (Berlin) 2006. 247 Seiten. ISBN 978-3-211-29706-3. D: 35,00 EUR, A: 35,00 EUR, CH: 59,50 sFr.
Originaltitel: L' enfant abandonné.

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Autor und Übersetzung

Niels Peter Rygaard, - seit 1981 Klinischer Psychologe und 1987 von der dänischen Psychologenvereinigung anerkannt - , ist Mitglied der "International Society for the Study of Personality Disorders" und hat sich seit 1983 auf Bindungsstörungen und Adoptionsfragen spezialisiert. Er arbeitete neun Jahre in einem Pflegeheim für Kinder mit Bindungsstörungen sowie in privater Praxis und leitete eine wissenschaftliche Studie mit 48 bindungsgestörten Kindern. Außerdem liegen von ihm noch zwei Bücher in dänischer Sprache vor.

Übersetzt wurde das hier zu rezensierende Buch von Frau Prof. Dr. Monika Pritzel, die als Professorin mit dem Forschungsschwerpunkt Lateralisierung von Gehirn und Verhalten  an der Universität   Koblenz - Landau tätig ist.

Thema und Zielgruppen

Der Autor analysiert Ursachen und Erscheinungsformen von Bindungsstörungen sowie mögliche therapeutische Ansätze im Umgang mit schwer bindungsgestörten Kindern und Jugendlichen. Das sehr praxisnahe Buch richtet sich besonders an Fachkräfte in Ämtern und bei freien Trägern, die ganz konkret mit der Jugendhilfeplanung sowie mit der Erziehung in ambulanter, stationärer und teilstationärer Unterbringung befasst sind. Darüber hinaus profitieren aber auch im Bereich der Frühförderung, in Kindertagesstätten und Schulen für Erziehungshilfen arbeitende Pädagogen und Psychologen, sowie Pflege- und Adoptiveltern.

Aufbau

Das Buch enthält neben einer Allgemeinen Einführung drei Teile.

Allgemeine Einführung

Rygaard geht davon aus, dass angesichts des dynamischen Kultur-, Werte- und Orientierungswandels der Herausbildung sowohl stabiler als auch entwicklungsförderlicher Bindungsverhältnisse bereits in der frühen Kindheit weltweite Bedeutung zukommt. Denn jede rasche Veränderung in einer Gesellschaft und folglich auch im Gefüge der Familien stellt zugleich hohe Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit der Individuen. Wird die gesellschaftliche, familiäre und letztlich individuelle Bindungsdynamik nicht hinreichend bewältigt, kann das in darauffolgenden Generationen zu psychischen Deviationssymptomen und Persönlichkeitsstörungen führen.             

Teil I: AD - Entwicklung von der Empfängnis bis zum Erwachsenenalter

Das Akronym AD wird vom Autor als Abkürzung für den englischen Terminus attachment disorder verwendet, der soviel wie Störungen der Bindungsfähigkeit bedeutet. In sechs Kapiteln werden Ursachen, Symptome und Stadien der Selbstorganisation sowie die Folgen von Kontaktunterbrechungen vor dem zweiten Lebensjahr sehr ausführlich und praxisnah referiert. Darauf aufbauend untersucht der Autor die Auswirkungen von Kontaktstörungen auf das kindliche Nervensystem sowie abnormale senso-motorische Entwicklungstendenzen beim Kleinkind und stellt schließlich im 6. Kapitel die gehemmte emotionale Persönlichkeitsentwicklung dar. Der Teil I mündet in praxisrelevanten Test- bzw. Prüflisten, die Fachleute in den Jugendhilfeeinrichtungen sowie Pädagogen und Psychologen, aber auch Adoptiv- und Pflegeeltern einsetzen können, um das AD-Phänomen in seiner jeweiligen Ausprägung als wichtige Diagnosegrundlage für die praktisch-pädagogische Arbeit mit den Betroffenen genauer einfangen zu können. 

Teil II: Therapie

Im Kapitel 7 setzt sich der Autor mit den vielfältigen Facetten therapeutischer und pädagogischer Handlungsansätze auseinander, wobei er besonders die Milieutherapie präferiert. Das hängt einerseits damit zusammen, dass bei schwer bindungsgestörten Kindern die drei Prämissen der klassischen Psychotherapie (persönliche Motivation, Beziehungsaufnahme mit dem Klienten und Arbeit auf psychologischem Niveau mittels Sozialkontakten) nicht umgesetzt werden können, und andererseits, dass die Milieutherapie ein weitaus größeres Spektrum an theoretischen Zugangsweisen und Methoden eröffnet.

"Der Milieutherapie liegt die Annahme zugrunde, dass der Klient/die Klientin über gering ausgeprägte oder überhaupt keine Grenzen verfügt, die ihn/sie von der Umwelt abgrenzen", so der Autor auf Seite 108 mit eigenen Worten. Das bedeutet, die "Persönlichkeit" besteht aus dem gesamten physikalischen und kulturellen Raum, "in dem das Kind 24 Stunden täglich gegenwärtig ist", wie es an gleicher Stelle weiter heißt. Man kann aber die Klienten nur solange beeinflussen, wie sie sich als mit sich selbst identische Raumerscheinung erleben, denn ihr Erinnerungs- und Selbstidentifikationsvermögen, bezogen auf sich selbst als ein begrenztes Etwas, ist nur sehr gering ausgeprägt. Deshalb ist hier das holistische Konzept der Milieutherapie so erfolgversprechend.

In den Kapiteln 8 bis 13 werden nunmehr sehr ausführlich milieutherapeutische Methoden vorgestellt, die in wichtigen Entwicklungsphasen wie der Schwangerschaft und der Zeit nach der Geburt bis zum 3. Lebensjahr sowie bei Vorschulkindern, Schulkindern und Jugendlichen Anwendung finden. Kapitel 11 gibt wertvolle Hinweise für das Alltagsleben in Familien, Pflegefamilien und Pflegeeinrichtungen, die den betroffenen Eltern und Erziehern helfen können, eigene Überforderungen zu erkennen und zu vermeiden.

Das letzte Kapitel 13 thematisiert den höchst brisanten Zusammenhang zwischen Bindungsstörungen, Problemen im Sexualverhalten und sexuellem Missbrauch, wobei das Opfer - Täter - Verhältnis besonders ausführlich behandelt wird. Als wichtigstes Präventionsziel wird eine Therapie der missbrauchten Kinder gesehen, damit sie später selbst keinen Missbrauch treiben und somit vom Opfer zum Täter werden.

Teil III: Leitlinien zur Gestaltung des therapeutischen Milieus

Mit dem therapeutischen Milieu sind die emotionalen, körperlichen und sozialen Rahmenbedingungen für den therapeutischen Prozess gemeint.

Den dritten und letzten Teil widmet der Verfasser der Entwicklung eines professionell arbeitenden AD - Teams, wobei sich hier seine große Stärke zeigt, selbst über einen reichen Erfahrungsschatz in der pädagogisch-psychologischen Arbeit mit AD - Kindern und Jugendlichen zu verfügen. In ausführlicher Weise, mit vielen Anregungen für die Praxis,  werden die Aufgaben und Ansprüche an die Führungsqualität der AD - Team - Mentoren definiert sowie Methoden der gegenseitigen Supervision und AD - Teamarbeit analysiert.

Fazit

Das Buch zeigt, durchdrungen von einer subtilen Theorie-Praxis-Reflexion, welche Entwicklungsmöglichkeiten für Klienten mit schwerwiegenden Bindungsstörungen durch  eine professionelle und rechtzeitig einsetzende therapeutische Betreuung erreichbar sind. Dabei werden auch jene Grenzen ausgelotet, die Fachkräfte genauso wie Adoptiv- und Pflegeeltern kennen sollten, um eine angemessene Beziehung mit den Kindern und Jugendlichen eingehen zu können, die fruchtbar ist, aber zugleich beide Seiten vor Überforderungen bewahrt.

Rezension von
Prof. Dr. Eva-Mia Coenen
Studienrichtungsleiterin Hilfen für Erziehung an der Staatlichen Studienakademie Breitenbrunn
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Es gibt 19 Rezensionen von Eva-Mia Coenen.

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ISSN 2190-9245