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Julia Maier: Doppelter Boden. Deutsche Türkinnen zu Hause

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz, 30.03.2007

Cover Julia Maier: Doppelter Boden. Deutsche Türkinnen zu Hause ISBN 978-3-86099-853-3

Julia Maier: Doppelter Boden. Deutsche Türkinnen zu Hause. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2006. 119 Seiten. ISBN 978-3-86099-853-3. 18,00 EUR. CH: 31,00 sFr.

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Einführung

„Als ich klein war, glaubte ich, die Ausländer hätten überhaupt keine Sprache, sie täten nur so, als sprächen sie miteinander.“ – Jean Cocteau (1889-1963), frz. Dichter, Maler u. Filmregisseur -

Oft ist unser Leben von Vorurteilen geprägt. Dies trifft insbesondere für die Auseinandersetzung mit fremden Menschen, vor allem aber AusländerInnen zu. Haben wir uns nicht einmal erwischt, dass wir einer Volksgruppe oder Religion irgendwelche Eigenschaften zuschreiben? Oder Menschen nach ihrem Aussehen beurteilen? Oder, was schlimmer ist, Menschen erst gar nicht wahrnehmen, nur weil sie in unserem Bewusstsein, in unserer Realität keinen Platz innehaben? 

In den letzten Jahren sind türkische MigrantInnen, aber vor allem türkische Frauen wieder in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Leider waren nicht immer glückliche Umstände dafür verantwortlich. Es mussten 45 „Ehren„-Morde geschehen, bis man die Existenz von Subkulturen endlich wahrnehmen konnte. Dabei schienen insbesondere junge Menschen hervor, die Gefühle, Ängste und Hoffnungen hatten, ihren Weg gingen, bis sie von der Realität endgültig eingeholt wurden. So, wie sie aus der Dunkelheit des Unbewussten hervorgetreten waren, genauso schnell sind sie wieder in Vergessenheit geraten. Dies scheint ein Schicksal des Fremden zu sein. Das Alleinsein mit seinen Gefühlen, Ängsten und Hoffnungen.                              

Entstehungshintergrund 

Die Herausgeberin Julia Maier ist 1978 in Dortmund geboren. Ihr Studium an der Universität Hildesheim hat sie 2004 mit dem Diplom der Kulturwissenschaften und Ästhetischen Praxis absolviert. Seit 2005 studiert sie Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Sie hat an verschiedenen Fotografieausstellungen teilgenommen, so z.B. im Forum für Fotografie in Köln (2004), bei den Internationalen Fototagen in Mannheim/Ludwigshafen (2005) und auf der Photokina in Köln (2006).

Unterstützt wurde sie in ihrer Arbeit von der Grafikerin Anna Sartorius, geboren 1980 in Bremen. Zwischen 2001 und 2004 wurde sie am Lette-Verein in Berlin zur Grafikdesignerin ausgebildet.

Die Autorin möchte in ihrem interdisziplinären Fotobuchprojekt einen etwas anderen, man kann fast sagen modernen Einblick in die relativ anonyme und intime Lebenswelt von Türkinnen aufzeigen. Dabei möchte sie sich vom gängigen Klischee, vom „Bild der passiven, unterdrückten Frau in der Gesellschaft“ (S. 10) distanzieren und sucht hierzu zehn deutsche Türkinnen im Alter von 23 bis 37 Jahren auf, denen sie mit Kassettenrekorder und Fotoapparat gerüstet im privaten Umfeld zuhört und zusieht. Sie beansprucht keine wissenschaftliche Forschung, sondern verortet sich explizit zwischen „künstlerisch-dokumentarischer Fotografie und kommunikativer „Bestandsaufnahme„“

Aufbau und Inhalt

Die Arbeit besteht aus vier Kapiteln.

  1. Im ersten Kapitel (Einleitung, S. 8-11) steht die Einleitung der Herausgeberin.
  2. Im zweiten Kapitel (S. 12-111) werden die fotografischen und kommunikativen Porträts von 10 jungen Frauen aus der Türkei vorgestellt:
    • Hatice, geb. 1968 in Istanbul,  Floristin 
    • Aziza, geb. 1971 in Berlin, Rapperin (bekannt als Aziza-A)  
    • Güldeste, geb. 1979 in Darmstadt, Studentin der Sozialarbeit 
    • Tugba, geb. 1979 in Hannover, Sozialpädagogin
    • Serpil, geb. 1979 in Püllmür, Ausbildung zur Erzieherin 
    • Nuca, geb. 1978 in Hamburg, Studentin der Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis 
    • Rabiye, geb. 1972 in Darmstadt, Hausfrau
    • Aydan, geb. 1967 in Hamburg, Politikerin 
    • Melia, geb. 1981 in Darmstadt, Erzieherin und Studentin der Sozialpädagogik
    • Nilgün, geb. 1979 in Hildesheim, Architektin
  3. Im dritten Kapitel (S. 112-117) befinden sich eine zusätzliche, kommentierende Darstellung (Cigdem, geb. 1972 in Adana, Soialpädagogin) und ein abschließendes Nachwort von Daniela Wagner (Stadträtin der Stadt Darmstadt, Dezernentin für Schule, Kitas, Frauen und Interkulturelle Angelegenheiten).    
  4. Das Buch wird in Kapitel 4 (S. 118-119) mit dem Abbildungs- und Literaturverzeichnis abgerundet.

Zielgruppen

Das Buch ist nicht nur für Fachkräfte, die mit MigrantInnen arbeiten, und Interessierte empfehlenswert. Auch Menschen, die MigrantInnen nur aus Zeitungen, Gemüseläden und Restaurants kennen, und Verantwortliche, die in der Politik über diese Menschen verfügen, werden hier bewusstseinserweiternde Elemente vorfinden.            

Diskussion

„Oft werden die Migranten in Publikationen zur Arbeitsmigration immer noch als anonyme Masse präsentiert. Ein Bild von Migrationsprozessen wird vermittelt, das vom männlichen (oder geschlechtslosen) Migranten dominiert ist. Frauen kommen allenfalls als abhängige Familienangehörige vor“ wird von Beate Steinhilber  konstatiert (1994, S. 18). Man kann diesen Gedankengang freilich erweitern. Migrantinnen wurden auch immer als sprach- und gesichtslose Wesen wahrgenommen, die lediglich im negativen Zusammenhang Eingang in die Medien finden, so z.B. wenn es um Ehrenmord und Zwangsheirat geht (vgl. die Rezensionen www.socialnet.de/rezensionen/3917.php und www.socialnet.de/rezensionen/3252.php).

Das Buch, das hauptsächlich durch seine künstlerische Stärke und seinen ungeschminkten Charakter brilliert, beweist, was in der deutschen Einwanderungsgesellschaft jahrzehntelang negiert wurde, nämlich die „fleischgewordene Integration“, die durch fotografische Visualisierung auch Gesichter bekommen hat und aus der bundesrepublikanischen Realität nicht mehr wegzudenken ist. Julia Maier zeigt, dass Menschen, zumindest für sich, einen Weg und ein Dasein in der Einwanderungsgesellschaft zwischen Traditionalismus und Moderne, Suppression und Freiheit, Ausländerfeindlichkeit und Kosmopolitismus gefunden haben. Gelungen ist dabei die Auswahl der Erzählerinnen, die eine Pluralität innerhalb der zweiten Generation aufzeigen. Die Existenz von „Subgenerationen“ zieht auch unterschiedliche Ausgangslagen, Migrationsbiografien, Lebenssituationen etc. nach sich (www.socialnet.de/rezensionen/3150.php). Wertvoll ist in diesem Zusammenhang die Vielfalt an Deutungsmustern, Bewältigungsressourcen und Handlungskompetenzen der dargestellten Menschen, die sich im Endeffekt selbst bestimmt darstellen.

Maier sieht sich ausdrücklich in der Funktion, den Menschen ein ausreichendes visuelles und auditives Forum zu bieten. In ihrer konzeptionellen Reinheit und unter Berücksichtigung der künstlerisch-sozialen Leistung ist das Projekt ganz klar als Unikat zu bewerten. Der Gegensatz und Einklang zwischen Fotografie und Text, die sich hier letztendlich zu einer biografischen Dokumentation verdichten, drücken gleichzeitig den immensen Widerspruch, aber auch die vollkommene Kongruenz zwischen Individuum und Gesellschaft in der postmodernen Einwanderungsgesellschaft aus: „Die Erzählungen spiegeln zugleich einen Teil deutscher Geschichte wider, sie zeigen, dass wir längst in einer globalisierten Gesellschaft leben, nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im kulturellen Sinne und dass Migration nicht nur Biografien von MigrantInnen, sondern auch die Gesellschaft verändert, in der sie leben“ (S. 11).

Dass Integration kein beengtes, sondern eher komplexes und ambivalentes Phänomen ist und den Betroffenen nicht nur Einengung, sondern auch Freiheiten einräumt, zeigt die Aussage einer Türkin auf: „Seitdem ich achtzehn bin, habe ich den deutschen Pass. Ich hab auch den türkischen Pass, den habe ich behalten. Ich habe nie darüber nachgedacht: Bin ich deutsch, bin ich türkisch? Bis diese Interviewleute kamen. Das war nie ein Thema für mich, das war normal. Natürlich bin ich Türkin, das sag ich jetzt auch immer noch, aber wenn«s mir passt, sag ich auch: «Ich bin Deutsche.“ Das lass ich an mir auch nicht nehmen. Es ist immer so schwer zu sagen: «Ich hab ne Menge Deutsches an mir’. Was ist denn deutsch? Deutsches Essen? Ja, ich liebe deutsches Essen! Schwäbische Küche: Knödel und Rotkohl und überhaupt Kohl und Kartoffeln“ (S. 28).

Es ist erfreulich, dass in den letzten Jahren ähnliche Arbeiten auf den Markt gekommen sind und fernab jeglicher Pseudo-Wissenschaftlichkeit, „Eurozentrismus“ [1]-Empirismus und „Männergiftigkeit“ à la Necla Kelek, Seyran Ates und Serap Cileli[2] eine realistische und humanistische Herangehensweise zur Darstellung der Lebensrealität von Migrantinnen einbringen. Zu nennen sind allen voran „Gekommen und geblieben. Deutsch-türkische Lebensgeschichten“ (2003) von Michael Richter (ebenfalls mit Bildern) und von Ergün Tepecik „Die Situation der ersten Generation der Türken in der multikulturellen Gesellschaft“ (2002), die die Biografie und Lebenslagen von Menschen mit Migrationsbiografie nüchtern und geradezu essayistisch behandeln.      

Um kritisch zu bleiben, soll doch noch ein kleiner formaler Kritikpunkt angemerkt werden. Im Inhaltsverzeichnis müssten die Seitenangaben für das Abbildungsverzeichnis und die Literaturliste korrigiert werden (statt S. 116 bzw. S. 117 müsste es S. 118 bzw. S. 119 heißen).         

Fazit

An wissenschaftlichen Analysen zur Lebenssituation von MigrantInnen hat es in den letzten Jahrzehnten nicht gemangelt. Diese haben jedoch nicht mit dazu beigetragen, die Vorurteile über Menschen mit Migrationshintergrund abzubauen oder gar einen Beitrag zur Integration zu leisten. Was die Wissenschaft, Politik und Praxis wieder brauchen, sind die Alltagsnähe der Menschen, die Lebenspraxis der Betroffenen, das Menschsein der Menschen. Nur über den Wandel von der Defizitzentrierung zur Ressourcenorientierung und die Anerkennung von Autonomie und Gleichheit kann eine Annäherung zwischen den Kulturen, eine globale Integration, ein friedliches Zusammenleben gelingen.             

Literatur

  • Mihciyazgan, U. 1986. Wir haben uns vergessen: ein intrakultureller Vergleich türkischer Lebensgeschichten, Hamburg
  • Richter, M.2003. Gekommen und geblieben. Deutsch-türkische Lebensgeschichten, Hamburg
  • Tepecik, E. 2002. Die Situation der ersten Generation der Türken in der multikulturellen Gesellschaft, Frankfurt am Main/London
  • Yildiz, Y. 2005. Psychopathologie der Turkophobie – eine deviante Betrachtung der Abnormalität der Normalität in türkischen und deutschen „türkischen“ Familien. Von traditionalistischen Vätern, opportunistischen Müttern, fundamentalistischen Söhnen, modernen Töchtern und ketzerischen Schülern. Die Fatalität der derzeitigen Polemik über Zwangsheirat, Heiratszwang und Türkenproblematik. In: Die Brücke – Forum für antirassistische Politik und Kultur, Bd. 4/24, H. 138, S. 28-36.


[1] Mihciyazgan 1986, S. 1

[2] Yildiz 2005

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz
Migrationsforscher. Freiberufliche Tätigkeit in der Migrationssozialberatung und Ganzheitlichen Nachhilfe

Es gibt 18 Rezensionen von Yalcin Yildiz.

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ISSN 2190-9245