Rolf Balgo, Holger Lindemann (Hrsg.): Theorie und Praxis systemischer Pädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Christine Huth-Hildebrandt, 01.12.2007

Rolf Balgo, Holger Lindemann (Hrsg.): Theorie und Praxis systemischer Pädagogik.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2006.
237 Seiten.
ISBN 978-3-89670-514-3.
D: 24,95 EUR,
A: 25,70 EUR,
CH: 44,00 sFr.
Reihe: Sysiphos - Band 1.
Thema
Der Themenband versammelt Aufsätze zum Diskurs systemischer Pädagogik, mit Beiträgen zu theoretischen Grundlagen und Begriffsklärungen, eingebettet in die Debatte zu pädagogischen Fragestellungen, sowie der Darstellung systemisch-konstruktivistischen Denkens in verschiedenen pädagogischen Kontexten. Mit der Reihe Sysiphos eröffnet der 2002 gegründete Dachverband Deutsche Gesellschaft für systemische Pädagogik e.V. (DGsP) eine Debatte über den Kontext Schule hinaus. Mit Texten zu Frühpädagogik, Schule, verschiedenen sozialarbeiterischen Tätigkeitsfeldern, zu Erwachsenenbildung und Beratung wird ein Einblick in die Möglichkeiten und Chancen gegeben, die der Blick auf die Beziehungsmuster in den jeweiligen pädagogischen Kontexten eröffnet.
Inhalt
- Holger Lindemann reflektiert die Sinnbildfunktion eines
Mythos am Beispiel des Sisyphos, der im Zusammenhang mit pädagogischer
Praxis in der
Literatur immer wieder herangezogen wird, und stellt diesem als
weitere Sinnbilder den
Prometheus und den Moses zur Seite. Sisyphos, als den ewig Scheiternden,
beschreibt er jedoch als jemanden, der sich von seinem Ziel verabschiedet
hat und somit auch gar nicht enttäuscht ist, dass er dieses nicht
erreicht. Zwar scheitert er, aber durch seine Einsicht in die
Unerreichbarkeit seines Zieles kann er trotzdem Glück in seiner Tätigkeit
finden. Diesen Abschied vom Ziel, als der Abschied vom Absoluten, vom Ziel
einer endgültigen Wahrheit, findet Lindemann in der konstruktivistischen
und systemtheoretischen Wissenschafts- und Erkenntniskritik wieder. Nicht
ein endgültiges Ergebnis steht im Vordergrund, sondern die Notwendigkeit
ständiger Vergewisserung in der individuellen und sozialen Konstruktion.
Prometheus hingegen - in der Mythologie ebenfalls ein Strebender nach dem Göttlichen - ist für ihn das büßende Opfer, verdammt zum Erleiden durch Nichtstun, ohne Aussicht auf Veränderung. Moses hingegen - der nicht nach Göttlichem strebende, der Gott nicht hintergeht - erhält auf dem Berge Sinai in Stein geschlagene absolute Wahrheiten. Er erhält diese Gebotstafeln sogar zum zweiten Male, nachdem er sie - verzweifelnd an den Ungläubigen - zerschlagen hatte: wiederholbare und tradierbare Absolutheiten also. "Zwar wird ihm versagt, das Göttliche in seiner Gesamtheit zu schauen, was aber an Wissen erlaubt und möglich ist, bringt er mit," (19) nämlich Wissen, als klar erreichbares Ziel allgemein gültiger Wahrheiten, in einem aktiven Prozess gemeinschaftlicher Tätigkeit, d.h. sozialer Konstruktion. Die Existenz der letzten Wahrheit und objektiver Gewissheit hingegen - in der Religion wie in der Wissenschaft - ist nicht in Stein gehauen erhältlich und bleibt weiterhin eine Sache des Glaubens.
Übertragen auf den pädagogischen Kontext beinhaltet diese Sichtweise eine Verabschiedung von der "methodengeleiteten Machbarkeitsphantasie" pädagogischen Handelns, da "das Erreichen eines angestrebten Menschenideals durch keine pädagogische Methode und durch keine erzieherische Handlung sicherzustellen ist." (21) Somit erhält Siegfried Bernfeld erneute Aktualität in seiner Absage an den Glauben pädagogischer Machbarkeit, und der Weg führt nach Lindemann hin zu einer Pädagogik als Reflexionstheorie pädagogischen Handelns, als einem fortlaufenden diskursiven Prozess, nicht hin zu einem Ziel, sondern hin zu einem Weg der Möglichkeiten. - Kenneth J. Gergen geht es um soziale
Konstruktionen und Bildung im Kontext globaler Konflikte. Er geht von der These aus,
dass der überwiegende Teil unserer Bildungspraxis nicht zur Verminderung,
sondern zum Bestehen von Konflikten beiträgt. Aufgrund der eurozentrischen
Sicht auf Kultur, Geografie, Geschichte und Religion in den
Lehrplänen und unserer handlungsleitenden Suche nach Wahrheit,
Objektivität und dem Streben nach rationalem Denken ergibt sich als Lehr-
und Lernauftrag die "Suche nach Wahrheit." Es besteht die
Vorstellung, durch sorgfältige empirische Arbeit könne
"herausgefunden" oder "enthüllt" werden, was objektiv
der Fall ist. Moralische Autorität hingegen habe keine rationale, sondern
eine ausschliesslich subjektive Begründung, daher seien "Wahrheit",
"Objektivität" und "Rationalität" zu mächtigen
rhetorische Mitteln geworden, die, wenn sie für die Inanspruchnahme der
eigenen Handlungen gelten, gleichbedeutend mit einem Anspruch auf
kulturelle Überlegenheit sind.
Wahrheit als kulturelle Konstruktion, als "Lebensweise oder Religion" anzuerkennen, ist in unserer aufgeklärten Denktradition mit ihrer Selbstverpflichtung zu Objektivität besonders schwer. Somit gibt es auch keine wertneutrale Perspektive, und den Praxistraditionen aller Wissensgebiete liegen implizierte Werte und Ideale zugrunde. Nach Gergen funktioniert jede Wissensgemeinschaft wie eine kleine Religion und geht nach Foucault einher mit einer Übernahme der damit zusammenhängenden Handlungsweisen. Er sieht besonders dort eine Gefahr, wo sich lokale Ansprüche auf Wahrheit, Objektivität und Vernunft den Anschein von Allgemeingültigkeit geben und sich zum Bestandteil von Bildungsplänen verfestigen. Ziel sollte es seiner Ansicht nach sein, von der Vorstellung einer allgemeinen Wahrheit hin zu pragmatischen Möglichkeiten zu gelangen. Dies könne nur gelingen, wenn wir in die Denktraditionen und Handlungsweisen der unterschiedlichen Kulturen und historischen Epochen eindringen und sowohl die Möglichkeiten als auch die Beschränkungen ihres Anspruchs auf Wissen achten und so eine Wertschätzung von Vielfalt, d.h. die Kunst einer Mehrdeutigkeit erlangen, um dann auch eine Pädagogik der Mehrdeutigkeit entwickeln zu können. Hierzu gehört, ein Vokabular dialogischen Handelns zu entwickeln, dass es ermöglicht, nicht nur die Möglichkeiten vielfältiger Wirklichkeiten und die damit verbundenen Lebensweisen zu verstehen, sondern daraus dann ein gemeinsames Handeln zu entwickeln, mit dem Wissen, dass alle Entscheidungen auf dem Hintergrund möglicher unterschiedlicher Wertungen und aufgrund von Mehrdeutigkeit getroffen werden. - Petra Völkel stellt für den Bereich der Frühpädagogik die Entwicklung und Bildung in der frühen Kindheit aus konstruktivistischer Perspektive dar. Zunächst beleuchtet sie die Bildungsprozesse in der frühen Kindheit aus der Perspektive unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche und verdeutlicht, dass die Idee vom aktiv lernenden und sich bildenden Kind, dass sich die Welt in seiner Interaktion mit der Umwelt aneignet, nicht neu ist. Im Anschluss zeigt sie, wie sich grundlegende kindliche Kompetenzen entwickeln und was pädagogische Praxis dazu beitragen kann, diese Entwicklung anzuregen und herauszufordern.
- Ursula Carle und Heinz Metzen sehen in großen sozialraumorientierten pädagogischen Projekten die Vernetzung als eine der Kernaufgaben und beschreiben am Bespiel eines regionales Netzwerkes "frühes Lernen" ihre systemischen Modellvorstellungen. Anhand der Ergebnisse des Bremer Modellprojektes "Frühes Lernen - Kindergarten und Grundschule kooperieren" beschreiben sie den praktischen Nutzen der eingesetzten Netzwerkmodelle, aber auch die Schwierigkeiten im Aufbau von Kooperationsstrukturen zwischen den beteiligten Einrichtungen. Aus ihren Erfahrungen entwickeln sie Anregungen und Hinweise zur Gestaltung solcher Kooperationsprojekte und reflektieren, wie diese aus der Perspektive des systemischen Denkens gestaltet werden können.
- Gertrud Graf spürt in ihrem Beitrag den unterschiedlichen Aufträgen
im System Schule nach, denen
sich die Lehrerinnen und Lehrer verpflichtet fühlen können: den eigenen
pädagogischen Idealen, der Vielfalt der Bedürfnisse der Schülerinnen und
Schüler, dem veralteten staatlichen Schulsystem mit seinen
Selektionsmechanismen oder aber den Anforderungen, welche die Berufwelt
heute an die Auszubildenden stellt und die schon längst eine völlig andere
Form von Lehren und Lernen erfordern.
Es geht ihr um das Erkennen eines Auftrages und der eigenen Klärung des Umgangs mit solchen vorfindlichen, völlig verschiedenartigen Aufträgen; aber auch um das Ausloten von Handlungsspielräumen, wenn das staatliche Schulsystem die Beteiligten inhaltlich, räumlich, personell oder finanziell durch Vorgaben einschränkt. Auftragsklärung geschieht für Graf im Dialog, und sie beschreibt in beeindruckender Weise, wie sie die Auszubildenden so auf ihrem Weg durch das Schulsystem begleitet und zum "Seismograph" ihrer Fragen und Ideen wird, von denen sie selbst sich dann leiten lässt. Indem sie die Schülerinnen und Schüler als Expertinnen und Experten deren eigenen Lernens begreift, werden diese im Dialog für sie zu "Auftragsklärern." Es geht ihr dabei um den angemessenen Zeitpunkt von Lehren und Lernen; um das Respektieren der verschiedenen Rhythmen, Bedürfnisse und Vorkenntnisse und um Abklärung der subjektiven Bildungsinteressen im Abgleich zu dem, was Auszubildende "nach Meinung von … Fachleuten zu einem bestimmten Zeitpunkt 'brauchen'" (93) Der Beitrag schließt mit Überlegungen zur Auftragsklärung als einem Unterrichtsprinzip und der Umgestaltung von Unterricht zum "Inhaltsraum" am praktischen Beispiel. - Reinhard Voß und Ulrike Schemmann bieten einen Fragebogen zur Reflexion von Unterricht und Schule aus systemisch-konstruktivistischer Sicht an, als eine Reflexionshilfe für berufsbezogenes Denken und Handeln. Durch die Bearbeitung soll ermöglicht werden, dass man zur Beobachterin des eigenen Unterrichts, sowie des eigenen Verhaltens im Kontext von Schule, also zur Beobachterin der 2. Ordnung wird.
- Rolf Balgo zeigt in seinem Beitrag Lernfördernder Unterricht als soziales Interaktionssystem die kommunikativen Bedingungen eines solchen Unterrichtes aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven auf. Da Lernen ein aktiver, selbst gesteuerter und strukturdeterminierter Prozess ist - die Konstruktion von Wirklichkeit im psychischen System - ist das psychische System eines Auszubildenden für ihn als "wesentliche Konstruktionsbedingung eines lernförderlichen Unterrichtes zu betrachten." (113) Unterrichten bedeutet für Balgo, autonome psychische Systeme, die nach ihrer eigenen Logik operieren, so anzuregen, dass diese neue strukturelle Koppelungen aufbauen und sich weiterdifferenzieren, um erweiterte oder neue Handlungsoptionen zu entwickeln. Daher liegt ein entscheidender Aspekt pädagogischer Förderung seiner Ansicht nach bereits schon in der Beobachtung der jeweils vorhandenen Handlungs- und Problemlösungsstrategien und -kompetenzen. In diesem Sinne steht für ihn erst einmal das Verstehen im Sinne einer hypothetischen Rekonstruktion der psychischen Struktur der Auszubildenden im Vordergrund, was er durch die Verwicklung der Beteiligten in eine Interaktion im Unterricht ermöglicht sieht. Balgo nutzt hier den Verstehensbegriff von Rusch, den dieser auf der Nahtstelle zwischen Individuum und Gesellschaft ansiedelt, und dessen Grundlagen er in den Formen des zwischenmenschlichen Umgangs sieht, die wiederum abhängig sind von den Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen in den Interaktionen des Einzelnen. Verstehen wird somit nicht durch den besonderen Prozess des psychischen Systems erlangt, sondern durch die Auswirkungen der Interaktionen auf dessen autonome kognitive Leistungen. Ein aus dieser Perspektive abgeleiteter lernförderlicher Unterricht sollte daher den Kommunikationsfluss insgesamt in Gang halten und dabei gleichzeitig eine Verbesserung der kommunikativen Fähigkeiten aller Auszubildenden anstreben. Aus dieser Sicht heraus erhält die Förderung rezeptiver Fähigkeiten gegenüber denjenigen zur aktiven Kommunikation zunächst eine nachgeordnete Bedeutung. Die Auszubildenden müssen auf Basis ihrer bisherigen Erfahrungen erst einmal lernen, im Orientierungshandeln den Begriff des Verstehens für sich so zu konzeptualisieren, dass sie diesen in Kommunikationszusammenhängen verwenden können, um daraus für sich ein Schema des Verstehenshandelns auszubilden, um in der Folge dann nach diesem auch handeln zu können. In diesem Zusammenhang vermerkt Balgo zu Recht, dass durch die Zerlegung des lernförderlichen Unterrichts in eine pädagogischen Beziehung zwischen kognitiv autonomen und intentional handelnden Subjekten zwar vermieden wird, Nichtverstehen dem psychischen System eines Auszubildenden als kognitive Minderleistung zuzurechnen; dieses Nichtverstehen dann wiederum aber schnell als defizitäre Handlungs-, Sprach- und Kommunikationskompetenz verbucht wird. Balgo wendet sich nun dem Denken Luhmanns zu, der das Verstehen noch vollständiger aus seiner Humanbindung zu lösen versucht. Jetzt geht es ihm um eine soziologisch-systemtheoretische Perspektive, die Unterricht als soziales Interaktionssystem sieht, als Kommunikation unter sich wechselseitig und reflexiv wahrnehmenden Anwesenden. Er beschreibt Kommunikation hier als eine Synthese der drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen, "die nicht auf das Handeln eines einzelnen Subjekts … zurückgeführt werden" kann. Verstehen stützt sich hier vielmehr auf die Differenz von Information und Mitteilung. "Erst das Verstehen eines Mitteilungsverhaltens … unterscheidet Kommunikation von bloßer Wahrnehmung des Verhaltens anderer;" (123) und am Anschlussverhalten kann dann kontrolliert werden, ob ein Verstehen stattgefunden hat. Kommunikation muss zu einem selbstreferenziellen Prozess werden; die Komponenten des sozialen Systems Unterricht (Kommunikationen), seine Relationen (Anschlussbildungen) und seine Grenzen (Sinngrenzen) entstehen dabei gleichzeitig und bedingen sich zirkulär. Wird jedoch die Aufrechterhaltung der Organisation des Interaktionssystems Unterricht durch andauerndes kommunikatives Nicht-Verstehen in Frage gestellt, dann führt dies in aller Regel zwar beim jeweiligen Auszubildenden zur Zuschreibung psychischer Verstehensdefizite. Zum anderen entwickeln lernschwache Schüler aber auch unterschiedliche Strategien im Umgang mit geringen kommunikativen Anschlussmöglichkeiten, die dann das soziale System Unterricht auf der Ebene der Interaktion zum Teil derart berühren, dass das Interaktionssystem Unterricht selbst unter Druck gerät. Und so fragt sich Balgo abschließend, wie lernförderlicher Unterricht als ein themenzentriertes Interaktionssystem hinsichtlich Sach-, Zeit- und Sozialdimension so über Themen disponieren kann, dass eine größtmögliche Anschlussfähigkeit aller Beteiligten für Kommunikation gegeben ist. Des Weiteren stellt er die Frage, ob das soziale Interaktionssystem Unterricht mit seinen Strukturen überhaupt so eingerichtet werden kann, dass es weniger interaktionsbelastend ist. Fazit Balgos ist daher, dass in der Debatte um Lernförderung nicht unbeachtet bleiben darf, welche Grenzen für einen solchen Unterricht in den Konstruktionsbedingungen der Funktion von Schule selbst liegen, die sich in den Regeln des Interaktionssystems Schule niedergeschlagen und verfestigt haben.
- Heiko Kleve geht es in seinem Beitrag Zwischen
Unwahrscheinlichkeit und Möglichkeit um die Ambivalenz des Erfolges in der
Sozialen Arbeit. Vor
dem Hintergrund der Unsicherheit des Erkennens und der Vorhersage
erfolgreichen Handelns zeigt er Beschreibungs- und Erklärungsmöglichkeiten
aus systemtheoretischer Perspektive auf, um die Erfolgswahrscheinlichkeit
von Handlungen, speziell von sozialarbeiterischen Interventionen, zu
reflektieren. Er geht von der Theorie operational geschlossener
autopoietischer Systeme aus und sieht sozialwissenschaftliche
Systemtheorie wie Baecker als "Systemumwelttheorie." System und Umwelt gehören zusammen, da
nur auf der Basis einer Umwelt eine systemische Differenzierung überhaupt
möglich ist. Er erklärt in diesem Zusammenhang den Begriff der strukurellen
Koppelung: Jedes
der existierenden biologischen, psychischen und sozialen Systeme setzt
sich different zu einer Umwelt, zu der die anderen Systeme gehören. Diese
Differenzsetzung, realisiert sich durch spezifische aneinander
anschließende Operationen. Aber keines dieser Systeme kann sich ausdifferenzieren,
wenn es nicht die Ausdifferenzierung der jeweils anderen Systeme für den
Aufbau des eigenen operativen Netzwerkes nutzen kann.
Für die Frage nach dem Erfolg sozialer Interventionen ist daher vor allem interessant, dass autopoietische Systeme von außen nicht direkt und unmittelbar beeinflusst werden können. Geschehnisse von außen können immer nur nach eigenen Maßgaben im jeweiligen System verarbeitet werden, und das ob und wie hängt dabei vom jeweiligen System ab. Somit können autopoietische Systeme von außen lediglich irritiert, gestört oder angeregt werden, sich selbst nach eigenen Maßgaben und Möglichkeiten zu verändern. Am Beispiel der strukturellen Koppelung von psychischen und sozialen Systemen zeigt er auf, dass gedachte Sprache in gesprochene Sprache umgesetzt, und es ab da dann nicht mehr der Kontrolle des psychischen Systems unterliegt, wie diese gesprochene Sprache im sozialen System aufgenommen wird. Genau dadurch entsteht für ihn das Soziale im Kommunikationssystem und in der Interaktion von Klient und Sozialarbeiterin das soziale Beratungssystem. Dieses entwickelt eine eigene System-Umwelt-Grenze sowie eine eigene Geschichte, Gegenwart und Zukunft, da autopoetische Systeme ihre Informationen immer nach Maßgabe ihres eigenen Orientierungs- und Beobachtungsmaßstabes bilden. Dadurch, dass Menschen im Kontakt mit den sozialen Organisationen zu Klientel werden, indem ihnen Hilfe angeboten wird und sie diese annehmen, vollzieht sich die organisatorische Autopoiesis Soziale Arbeit. "Aufrechterhalten werden kann diese Autopoiesis nur dann, wenn es den Organisationen gelingt, auch in Zukunft Entscheidungen zu treffen und in der Umwelt durchzusetzen, die Hilfen fortführen oder neu beginnen zu lassen, die also Personen zu Klienten machen," indem sie permanent neue Hilfemöglichkeiten entdecken. (141) Somit wird der Erfolg Sozialer Arbeit - der sich durch die Transformation von Hilfe in erfolgreiche Selbsthilfe zeigt -eher unwahrscheinlich, weil sozialarbeiterische Organisationen auf die Kontinuierung dessen abzielen, was sie als Organisation ausdifferenziert und erhält: helfende Organisationen zu sein bzw. die Kommunikation von Hilfe zu organisieren.
Formalisiertes Helfen kommt daher unter den Motiv-Verdacht, nämlich eher der Selbsterhaltung der helfenden Organisation zu dienen und weniger denjenigen zu helfen, die diese Hilfe benötigen. Es unterliegt des Weiteren dem Stigmatisierungs-Verdacht, nämlich Personen mit Problemmarken zu versehen, um überhaupt einen Hilfeprozess in Gang setzen zu können und diese damit in die Rolle von hilfebedürftigen, problembelasteten Personen zu drängen. Des Weiteren ergibt sich ein Effizenz-Verdacht,der auf die grundsätzliche Ambivalenz von professioneller Hilfe verweist, dass nämlich Hilfe auch abhängig und unselbständig machen kann.
Wenn wir nun aber wissen, dass alles, was wir tun, auch anders wirken kann, als wir denken, benötigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter nach Kleve eine Fiktion, eine Strategie des Als-ob, indem sie tun, als ob das Unwahrscheinliche jederzeit möglich wäre, nach Rorty eine ironische Haltung, angesichts des Wissens um die Unwahrscheinlichkeit einer von außen zielgerichteten Veränderbarkeit autopoietischer Systeme. Und gerade durch diese Strategie erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, dass Veränderung möglich wird. Indem Hoffnung vermittelt und selbst daran geglaubt wird, kann den Klientinnen und Klienten das ermöglicht werden, was diese nur selbst können: Selbstveränderung zu initiieren. Dieses "so tun, als ob" ist nach Kleve neben der ironischen Haltung eine weitere Strategie, welche die Effektivität der Sozialen Arbeit steigert.
Abschließend diskutiert er die Frage, wie sich sozialarbeiterische Organisationen verändern müssen, damit Motivations-, Stigmatisierungs- und Effizienzverdacht entkräftet werden können: durch die klassische Zuwendungsfinanzierung, so dass Hilfe möglich wird, unabhängig von der Anzahl der Klienten und dem Zeitbedarf der Zuwendung; oder durch das Modell einer Finanzierung über Sozialraumbudgets, so dass die Aufgaben Sozialer Arbeit fallunabhängig finanziert werden können. Entscheidend ist für ihn, dass die Soziale Arbeit organisatorische Finanzierungsmodelle entwickelt, die das Motiv zu beraten und zu helfen weitgehend entkoppelt von ökonomischen und anderen Selbsterhaltungsdynamiken der Sozialen Organisationen. Nur so kann es möglich werden, dass die an einem Hilfeprozess Beteiligten (Klienten, Helfende und Geldgeber etc.) sich in ihren beobachtenden Unterscheidungen überhaupt angleichen können, nämlich in der Frage, ob eine Intervention geglückt und das Ziel erreicht wurde, indem die Kompetenz der erfolgreichen Selbsthilfe realisiert werden konnte. - Horst Siebert skizziert in seinem Beitrag Konstruktivistische Lehr-Lern-Kulturen eine konstruktivistische Didaktik für die Erwachsenenbildung. Für ihn vollzieht sich gegenwärtig ein Wandel vom Konzept des Lernens als Informationsverarbeitung zum Konzept von Lernen als Wissenskonstruktion. Dabei ist Lernen ein selbständig zu vollziehender Akt mit starker Situationsbindung, in dessen Verlauf Wissen, Inhalte und Fähigkeiten konstruiert und auf den jeweils bereits vorhandenen Wissens-Strukturen aufgebaut werden. Im Bildungsprozess vernetzen sich dabei Teilnehmerperspektiven und Sachlogiken. Veränderungen der Identität werden somit nicht durch die Stringenz inhaltlicher Logik, sondern durch biographische Zusammenschließungen der Inhalte hervorgerufen, sie werden "biographisch synthetisiert." (157) Lehren und Lernen lassen sich von daher als getrennte Systeme betrachten, die nur lose miteinander gekoppelt sind. Siebert hebt daher die Bedeutung der Lerndiagnose auf der Grundlage einer Beobachtung 2. Ordnung - nämlich das Beobachten, wie die Lernenden beobachten - metakognitiver Lernhilfen und eines modifizierten pädagogischen Selbstverständnisses besonders hervor. Abschließend bietet er einen Überblick über konstruktivistisch inspirierte Lehr-Lern-Konzepte und erörtert die Frage, ob es neue konstruktivistische Methoden des Lehrens und Lernens gibt bzw. ob sich aus dem Konstruktivismus Lernziele oder Normen des Lernens begründen lassen.
- Rolf Arnold erörtert die Systematik des Erwachsenenlernens. Lernen ist für ihn Selbstverwirklichung im Rahmen der Gegebenheiten und Begrenzungen kollektiver und individueller Natur. Es ist ein Schreiten durch komplexe und eigendynamische Selbstkontexte, und kann als ständige biographische Bemühung angesehen werden, innere wie äußere Systemiken einerseits sowie vergangene, gegenwärtige und zukünftige Systematiken andererseits in den Identitätsdarstellungen auszubalancieren. Dabei differenzieren sich die Muster der eigenen Identität im Lebensverlauf mehr und mehr nach milieuspezifischen und kulturellen, aber auch nach geschlechtsspezifischen Lebenslaufthemen, so dass nach Arnold vieles dafür spricht, den Erwachsenenbegriff als einen relationalen anzusehen. Er plädiert in Bezug auf das Erwachsenenlernen sowohl für einen "Shift vom Behaltens- zum Transformationslernen" als auch für einen "Shift vom Qualifikations- zum Identitätslernen" und spricht sich somit für ein reflexives Lernen aus, als ein systemisch-ganzheitliches Konzept biografiebasierter und lebensweltintegrierter Selbststeuerung.
- Winfried Palmowski erläutert das systemische Denken und Handeln an den Aspekten der "Funktionalität im Kontext," des "Denkens in Regelkreisen," der "zirkulären Kausalität" und dem "Explizitmachen von Spielregeln." Er stellt das konstruktivistische Denken und Handeln anhand von Positionen des "radikalen" und des "sozialen Konstruktivismus" vor und schließt Überlegungen zum Einfluss von Sprache und Narration an. Anschließend beschreibt er - mit vielen plausiblen Beispielen - die Möglichkeiten, die sich im Beratungsprozess ergeben, wenn es gelingt, die personenbezogenen Denkmodelle zu verlassen, um mit Hilfe der systemischen Sichtweise die Wirklichkeitskonstruktionen Anderer im eigenen Denken zuzulassen. Dieser Perspektivwechsel des Blickes kann den eigenen Handlungsspielraum verändern bzw. erweitern, dann, wenn die Konstruktionen der Anderen, als auch potenziell "mögliche Wirklichkeiten" (Robert Musil) akzeptiert werden.
- Abschließend stellt Eckard König anhand eines Fallbeispiels einer Teamberatung für eine Erziehungsberatungsstelle die Systemische Beratung und ihre Vorgehensweise aus seiner Perspektive vor. Er beschreibt, wie auf der theoretischen Grundlage einer "Personalen Systemtheorie" bei der Klärung oder Diagnose von Problemen und ihrer Lösung das Zusammenwirken verschiedener Faktoren eines sozialen Systems zu berücksichtigen ist: seine relevanten Personen und deren subjektive Deutungen, seine sozialen Regelungen und Regelkreise, seine Systemgrenzen und Systemumwelten sowie seine bisherigen Entwicklungen. Dabei skizziert er im Verlauf der Darstellung die Methoden einer systemischen Beratung und verweist auf deren mögliche pädagogische Anwendungsfelder.
Zusammenfassung und Diskussion
Eine Disziplin wie die Pädagogik, die aus ihrer Tradition heraus aus personenbezogener Perspektive auf ihre Themen blickt, tut sich noch immer schwer, den systemischen Blick auf ihren Gegenstand zuzulassen. So präsentiert sich auch das Gesamtbild der Beiträge in diesem Diskussions-Band. Mal ist der systemisch-konstruktivistische Zugang in dem beschriebenen pädagogischen Kontext sehr klar auf den Gegenstand bezogen, entwickelt und durchdacht; andere Beiträge hingegen beschreiben eine Art Aufbruchsdenken; in ihnen wird erst einmal vorgefühlt, was sich alles an Neuem für die eigene Arbeit durch diesen Perspektivwechsel erschließen könnte. Wobei mir das Produktive an der Zusammenstellung der Beiträge erscheint, dass aus den Präsentationen unterschiedlicher Anwendungsbereiche nicht nur gegenseitig voneinander gelernt werden kann, sondern immer wieder auch Fragen aufgeworfen werden, die auf Differenzen in den einzelnen pädagogischen Praxisbereichen aufmerksam machen. Sie sensibilisieren u.a. auch dafür, dass der systemische Blick, das systemisch-konstruktivistische Denken, zwar neue pädagogische Handlungsdimensionen eröffnet, deren Umsetzung in praktisches Handeln aber nicht immer den Interessen und Zielen der zugehörigen Institutionen entsprechen. Gerade in denjenigen pädagogischen Kontexten, in denen bis heute eher personenbezogene Denkmodelle vorherrschen, bringt dieser Perspektivwechsel des Blickes zwar oft Erstaunliches zu Tage, würde aber in seiner konsequenten Durchführung an den Festen der Institutionen - z.B. der Institution Schule - nachhaltig rütteln, so dass die Pionierarbeit bzw. Überzeugungsarbeit, sich auf ein solches Denken überhaupt erst einmal einzulassen, hier wohl noch einige Zeit andauern wird. So machen z.B. die Fragen von Graf, ob denn das human capital, welches die Kinder und Jugendlichen mitbringen und welches sie durch ihre systemisch-konstruktivistische Haltung fördern und stützen möchte, überhaupt "gewünscht oder gebraucht" werden, schon sehr nachdenklich.
Fazit
Sammelbände werfen für die Lesende immer wieder die Frage auf, lohnt sich dieser Band für mich insgesamt, oder kann ich nur von einigen Beiträgen einen Nutzen für mich ziehen. Grundlagentexte sind mir daher immer eher willkommen, als zu eng an der Praxis orientierte Beiträge, besonders dann, wenn letztere den Blick auf ein zu breites Spektrum der pädagogischen Arbeitsfelder werfen. Der vorliegende Textband bietet mir beides. Ich habe einzelne Texte gefunden, die in sich geschlossen eine Bereicherung für die Auseinandersetzung mit dem systemisch-konstruktivistischen Denken im Rahmen der Pädagogik sind. Aber es hat sich für mich ebenso gelohnt, die Beiträge insgesamt zu lesen und zu reflektieren. Da die vollzogenen Schritte in dem Sammelband zum Teil sehr konsequent vom personenbezogenen Denken über die im pädagogischen Ausbildungssystem Agierenden abrücken und zu Forderungen nach einer radikalen Veränderung derjenigen Systeme hinlenken, in denen diese Ausbildung vonstatten geht, lohnt es sich m.E. sehr, diese Beiträge insgesamt auf eben diese Frage hin quer zu lesen und dabei den besonderen Blick auf die noch immer vorherrschende Vorstellung von Bildung als einer mess- und bewertbaren Größe zu legen.
Rezension von
Prof. Dr. Christine Huth-Hildebrandt
Fachhochschule Frankfurt am Main, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
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