Marianne Leuzinger-Bohleber, Yvonne Bradl et al. (Hrsg.): ADHS - Frühprävention statt Medikalisierung
Rezensiert von Dr. Alexander Tewes, 02.04.2007

Marianne Leuzinger-Bohleber, Yvonne Bradl, Gerald Hüther (Hrsg.): ADHS - Frühprävention statt Medikalisierung. Theorie, Forschung, Kontroversen.
Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2006.
306 Seiten.
ISBN 978-3-525-45178-6.
34,90 EUR.
Schriften des Sigmund-Freud-Instituts - Reihe 2, Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog - Band 4.
Die Herausgeber
- Prof. Dr. Marianne Leutzinger-Bohleber ist Geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt/Main und Professorin für Psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel.
- Dr. Yvonne Bradl, Diplom-Psychologin und Germanistin, arbeitet im Max-Planck-Institut für Hirnforschung und im Institut für Methodenlehre und Evaluation der Universität Frankfurt/Main. Sie ist Projektleiterin im Sigmund-Freud-Institut Frankfurt.
- Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther ist Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen.
Thema und Entstehungshintergrund
ADHS - vier Buchstaben, die das derzeit am kontroversesten diskutierte Erkrankungsbild im Kindes- und Jugendalter abkürzen. Knapp eine halbe Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland sind betroffen und mit ihnen Eltern, Lehrer, das gesamte soziale Umfeld. Die Fachzeitschrift "Gehirn & Geist" bezeichnet die 1990er Geburtenjahrgänge bereits als "Generation ADHS" (3/2004 www.gehirn-und-geist.de/). Kaum ein Erkrankungsbild wurde jemals derart hitzig diskutiert. Der Autor Peter Riedesser bezeichnet diesen Dissens gar als eine "der größten Kontroversen in der Geschichte des Fachgebiets Kinder- und Jugendpsychiatrie" (S. 111).
- Ist ADHS genetisch bedingt?
- Ist ADHS eine Folge fehlerhafter Erziehung?
- Stellt ADHS ein Mismatch zwischen Individuum und gesellschaftlichen Anforderungen da?
- Existiert ADHS eventuell gar nicht?
Vor dem Hintergrund derart komplexer Fragestellungen haben die Herausgeber einen interdisziplinären Band des Sigmund-Freud-Instituts veröffentlicht. Laut Klappentext "diskutiert [dieses Buch] eine drohende Medikalisierung sozialer Probleme und plädiert für eine professionelle Zusammenarbeit aller beteiligten Experten".
Aufbau
Das Buch gliedert sich grob in drei Bereiche: Nach einer ausführlichen Einführung, die einen Überblick über die Problematik und den gesamten Band bietet, folgen die Beiträge der interdisziplinär ausgewählten Experten. Diese werden unter drei Überschriften zusammengefasst:
- Dramatische Zunahme von ADHS: Indikator für "veränderte Kindheiten" und/oder einer "Medikalisierung des Sozialen"?
- ADHS: Eine der größten Kontroversen in der Geschichte des Fachgebiets Kinder- und Jugendpsychiatrie
- Prävention und Frühintervention - Psychoanalytische und neurobiologische Überlegungen zur Verhinderung psychosozialer Desintegration
1 Dramatische Zunahme von ADHS Indikator für "veränderte Kindheiten" und/oder einer "Medikalisierung des Sozialen"?
In diesem Abschnitt kommen drei Autoren zu Worte.
Der Sozialpädagoge Prof. Dr. Mattner bietet zu Beginn einen historischen Abriss eines Erkrankungsbilds, das unter immer neuen Bezeichnungen (MCD, HKS, AD(H)S) seit langem diskutiert wird. Unter anderem räumt er mit der populärwissenschaftlichen Annahme auf, diese Erkrankung sei primär hirnorganisch verursacht. So fehle bis heute "der empirische Beleg der seit den siebziger Jahren postulierten Theorie einer vorliegenden biochemischen Störung der synaptischen Überträgersubstanzen des Gehirns." Letzten Endes fehle es an einer sauberen Definition des Konstrukts "Aufmerksamkeit".
Im Folgenden bezieht Prof. Dr. Amft, Sozialmediziner, in deutlicher Sprache Stellung. Keine hirnpathologische Theorie könne den enormen Anstieg der Ritalinverordnungen erklären. Das Problem: "Die Evidenz der Wirkung [des Ritalins] ist kein Beweis für die Gültigkeit einer Wirkhypothese" (S. 76). Vielmehr benötige die moderne Gesellschaft eine biologische Deutung - und in deren Folge die Behandlung mit Stimulanzien -, da sie mit Anpassungsproblemen nicht umgehen könne.
Abschließend setzt sich Pädagoge Prof. Dr. Gerspach auf theoretischer Ebene mit der Thematik auseinander. Hier findet sich u.A. eine tiefenpsychologische Analyse des Zappelphilipps von Heinrich Hoffmann.
2 ADHS: Eine der größten Kontroversen in der Geschichte des Fachgebiets Kinder- und Jugendpsychiatrie
Einleitend bietet Prof. Dr. Riedesser, Kinder- und Jugendpsychiater, in tabellarischer Form einen kurzen Abriss des aktuellen Forschungsstands. Anschließend fordern Prof. Dr. Lehmkuhl (Psychologe) und Prof. Dr. Döpfner (Psychologischer Psychotherapeut) ein multimodales Vorgehen. Der aktuelle Forschungsstand zeige, dass Medikation mit Beratung genauso effektiv sei, wie Verhaltenstherapie. Beides führe zu besseren Ergebnissen als die Standardtherapie. Anschließend erläutern ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Klaus-Dieter Grothe) und eine Krankenschwester (Anke-Maria Horlbeck) das konkrete Vorgehen in der Praxis.
3 Prävention und Frühintervention - Psychoanalytische und neurobiologische Überlegungen zur Verhinderung psychosozialer Desintegration
In diesem Abschnitt kommen dann v.a. die Psychoanalytiker zu Worte: Prof. Bürgin schildert anhand einer umfangreichen Fallbeschreibung das analytisch-projektive Vorgehen bei ADHS-Patienten. Anschließend konzentriert sich Dr. v. Lüpke auf die kommunikative Ebene der Mutter-Kind-Beziehung. Nach einer pauschalen Kritik an multimodalen Therapieansätzen (Pharma- u. Verhaltenstherapie) bietet Dr. Dammasch anhand zweier Fallbeispiele eine freudianisch orientierte psychoanalytische Deutung der ADHS-Symptomatik. Der theoretische Teil des Buches wird durch den Neurobiologen Prof. Dr. Dr. Hüther abgeschlossen. Er zeigt auf, dass das ursprüngliche Konzept der Minimalen Cerebralen Dysfunktion (MCD) nicht haltbar ist. Ebenso sei die Dopaminmangelhypothese bislang nicht nachweisbar. Hüther beschreibt ein neues neurobiologisches Paradigma, nachdem primär Stress als Auslösemechanismus für ein mangelndes neurosynaptisches Verschaltungsmuster im präfrontalen Kortex verantwortlich ist. Die Schlussfolgerung: Beim ADHS handele sich nicht um einen Defekt im Gehirn, der medikamentös behebbar wäre. Vielmehr entwickele sich das Gehirn (wie auch beim "Gesunden") in andauernder Wechselwirkung mit der Umwelt. Abgerundet wird der Band durch exemplarisch vorgestellte Studien und Präventionsprojekte im deutschen Raum. So werden die beispielhafte psychoanalytische Frankfurter Präventionsstudie, die in Kooperation durchgeführte Hamburger Frühpräventionsstudie und das Training zur Förderung von emotionalen Kompetenzen bei Kindern, FAUSTLOS, beschrieben.
Diskussion
Besonders hervorzuheben ist der interdisziplinäre Ansatz des Bandes. Hier kommen wirklich alle zu Worte: Krankenschwestern, Sozialpädagogen, Verhaltenstherapeuten, Psychoanalytiker, Mediziner, Soziologen und Neurobiologen. Einzig auf die unmittelbar Betroffenen - Kinder, Jugendliche, Eltern und Lehrer wird im Rahmen dieser wissenschaftlichen Veröffentlichung verzichtet. Naturgemäß bleiben sowohl Redundanzen als auch Widersprüche nicht aus. Als gemeinsamen roten Faden durchzieht den Band jedoch die Kritik an der schnell gefällten "Einheits-Diagnose ADHS" (S. 15) nach ICD-10 oder DSM-IV. Folgerichtig handelt es sich bei dem vorliegenden Buch um eine Streitschrift für die Differentialdiagnose. Der Schreibstil ist inkonsistent - ein häufig genanntes Problem interdisziplinärer Studiengruppen. Traditionelle Psychoanalytiker pflegen gerne einen sehr literarischen ausschweifenden Stil, während Ärzte und Verhaltenstherapeuten gerne kurz und knapp zur Sache kommen. Gelegentlich bleibt der Leser hierbei auf der Strecke. Die meisten Artikel bieten jedoch einen hervorragenden Überblick über den aktuellen Stand der Forschung oder konkretes therapeutisches Vorgehen. Dass quasi jeder Abschnitt des Buches kritisch diskutiert werden kann, liegt in der Natur des Themas. Im Untertitel - Theorie, Forschung, Kontroversen - wird dem Rechnung getragen.
Zielgruppe
Die Frage nach der Zielgruppe ist nicht leicht zu beantworten. Wenige Artikel eignen sich tatsächlich als Erstlektüre für Betroffene (z.B. Eltern o. Lehrer). Hier ist v.a. der Artikel von Grothe & Horlbeck sowohl sprachlich als auch inhaltlich zu empfehlen. Andere Teile des Buches, so z.B. die Ausführungen von Hüther, setzen fundiertes Vorwissen voraus. Dieses Buch ist eine Pflichtlektüre für jeden, der sich professionell mit diesem Krankheitsbild auseinandersetzt. Für Laien eignet es sich hervorragend zur Vertiefung bereits bestehenden Wissens.
Fazit
Es handelt sich um ein hervorragendes Herausgeberwerk, das verschieden gelesen werden kann: Die umfangreiche Einleitung (42 Seiten) reicht aus, um sich einen ersten Eindruck zum Thema zu verschaffen. Die einzelnen Beiträge dienen der Vertiefung in die einzelnen Fachgebiete, und die umfangreichen Literaturangaben im Anhang jedes Fachartikels bieten Anreiz, tiefer in die Materie einzudringen. Allein ein Wunsch bleibt offen: Die teilweise stark divergierenden Meinungen werden i.d.R. nicht aufgegriffen. Hier wäre eine abschließende Diskussion, evtl. in Form einer Art dokumentierten "Podiumsdiskussion" genau so ungewöhnlich wie reizvoll gewesen.
Rezension von
Dr. Alexander Tewes
Instituts- und Ausbildungsleiter LAKIJU-VT (Lüneburger Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie), Psychiatrische Klinik Lüneburg gemeinnützige GmbH im Verbund der Gesundheitsholding Lüneburg
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