Karola Wenzel: Arena des Anderen (Philosophie des Kindertheaters)
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 28.01.2008
Karola Wenzel: Arena des Anderen. Zur Philosophie des Kindertheaters.
Schibri-Verlag
(Uckerland) 2006.
187 Seiten.
ISBN 978-3-937895-40-6.
15,00 EUR.
Lingener Beiträge zur Theaterpädagogik, Band 5.
Aufbau
Karola Wenzel beginnt ihre Dissertation mit einer historisch-systematischen Darstellung von Begründungszusammenhängen für Kindertheater und darin eingelagerten Ausführungen zur Geschichte (1); Interpretationen von Kinderspiel und Kindertheater (2) leiten über zu einem philosophischen Teil (3), der auf der Grundlage des Philosophierens mit Kindern und der Philosophie des Anderen von Levinas eine zweite, tiefer greifende Interpretation des Theaters mit Kindern unternimmt und dabei insbesondere das „generationale“ Verhältnis Spielleiterin-Spieler als Fundamentum einer weder „defizitären“ noch „musealen“ Ansicht vom Kind vorstellt. Dabei wird eine vierfache Verbindung des Kindertheaters zur Philosophie entwickelt:
- Kindertheater als ein existentielles Theater stellt philosophische Fragen.
- Es gibt Ähnlichkeiten zwischen dem Theaterspielen von Kindern und dem Philosophieren mit Kindern.
- Drittens wird das Verhältnis zwischen Spielleiterin und Spielgruppe unter Bezug auf „die Philosophie des Anderen von Levinas“ (16) und „„Das Andere“ in der Pädagogik“ (122 ff) problematisiert. Wie wichtig Levinas für die Arbeit von Wenzel ist, wird schon im Titel „Arena des Anderen“ dokumentiert.
- Schließlich nutzt Wenzel das Wort Philosophie, so z.B. im Untertitel „Zur Philosophie des Kindertheaters“, nicht im vollen Wortsinn, sondern eher in der Art des englischen Wortgebrauchs („What„s your philosophy?“, also philosophy = (Welt)Anschauung), synonym etwa mit Konzept (vergl. S. 24, wo von der „Entwicklung eines eigenen Konzeptes, einer eigenen Philosophie der theaterpädagogischen Arbeit mit Kindern“ zu lesen ist).
1. Historisch-systematischer Teil
Im historisch-systematischen Teil der Arbeit nutzt Wenzel Ulrike Hentschels Systematisierung der „Begründungszusammenhänge“ als „Arbeitsgrundlage“ und verschränkt sie „mit der historischen Perspektive auf die theaterpädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen“ (30). Sie will versuchen, „für die eigene Arbeit sowohl die historischen wie die aktuellen Entwicklungslinien des Theaters mit Kindern zu klären“ (30). Historisches wird also in Begründungszusammenhänge eingelagert bzw. umgekehrt: „Mit der Historisierung der Intentionen ergibt sich eine chronologische Gliederung“ (31).
Jedenfalls filtert Wenzel aus dem historisch-systematischen Material zwei Sichtweisen heraus:
- „dass Kinder nicht nur lernen, sondern dass sie etwas Bestimmtes lernen müssen, was sie noch nicht können/wissen und als Erwachsene aber können/wissen sollen. Diese für den erzieherischen Diskurs typische“ Sichtweise bezeichnet sie als defizitär und formuliert
- „eine zunächst gegenläufige Sichtweise auf Kinder“, die sie museal nennt, „weil Kinder hier als etwas Höheres, besonders Schützenswertes und möglichst gegen eine Weiterentwicklung zu Erhaltendes gesehen werden“ (69).
Sie resümiert: Der museale oder „sentimentale Blick auf Kindheit klammert nicht nur jede Entwicklungsmöglichkeit aus“, er führt „letztendlich zu einer Degradierung. Somit bilden sowohl der sentimentale Blick wie auch die defizitäre Stufenvorstellung eine Abwertung der jungen Lebensphase“ (85). Auch in der „Theaterarbeit mit Kindern …, wie sie heute in der Praxis vorfindbar ist“, findet die Verfasserin „die Pole des defizitären und des musealen Denkens“ (86). Realität und reales Handeln liegen, so würde ich fortsetzen, ZWISCHEN diesen Polen; beide Pole sind destruktiv, führen zu einem vergifteten Verhältnis; Wenzel sucht ein anderes, besseres, das sie im Konzept des Anderen findet und ausarbeitet.
2. Interpretierender Teil
Mit den „Reflexionen zur Praxis“ (Kap. 3.4) beginnt der aufschlussreiche interpretierende Teil, der auf Kinderspiele, Rollenspiele, Theater von Kindern (und für Kinder) bezogen ist. Dabei wird Levinas mit seiner „Philosophie des Anderen, die das Ich-Du Verhältnis völlig neu denkt“ (116) zum Fundamentum eines veränderten Verhältnisses zwischen Erwachsenem und Kind, oder spezifischer: zwischen Spielleiter und Spielerin, das weder defizitär noch museal zu sein versucht und Erfahrungen eines (nicht theatralen) Philosophierens mit Kindern einbezieht.
Zunächst folgert Wenzel (Kap. 4) aus ihren Beispielen: „Die Funktion des Spiels könnte hier also beschrieben werden als eine Auseinandersetzung mit der eigenen Umgebung, mit dem eigenen Selbst. Gleichzeitig finden wir in ihm ästhetische Formen, die in der Kunst bewusst eingesetzt werden, um genau diese Auseinandersetzung mit Außen- und Innenwelt beim Zuschauer zu evozieren“ (97). Kinderspiel und Kunst sind also verwandt miteinander; das entspricht dem Ansatz der Norwegerin Faith Gabrielle Guss, die laut Wenzel umfangreiches empirisches Material zusammengestellt hat mit dem Ziel, to document and describe how playing children create their drama (111). Guss unterscheidet zwischen artistic, künstlerisch, und aesthetic, der Möglichkeit sinnlicher Erkenntnis und sinnlicher Reflexion von Erfahrung (99 f), und spricht dabei von einer transformational reflection (103). Ihr Ansatz dokumentiert sich in einer beachtlichen Terminologie, die „Play-drama„ als terminus technicus einführt: It is a fourth kind of drama, in the same family as ritual process, aesthetic stage drama, and the drama of social living (100). Dieses „Herausstellen der ästhetischen Funktion von Kinderspiel (und in der Sprache der Kinder) und damit die Trennung von seiner Funktionalität im Alltag bzw. im Erziehungsprozess markieren den Übergang vom Kinderspiel zu einer Kunst mit Kindern“ (109).
Unter der Überschrift „Problem des Musealen“ (109 ff) wird der Ansatz von Guss kritisch befragt. Damit kehrt Wenzel zurück zu ihrer bereits einleitend formulierten These: „Theater mit Kindern bedeutet demnach innerhalb der Theaterpädagogik die künstlerische Gestaltung der alltäglichen Vorgänge und Erfahrungen von Kindern gemeinsam mit Kindern“ (26; so auch 113); dabei „sind und bleiben … alle ästhetischen Formen des Kinderspiels … als vorhandene kulturelle theatrale Spielformen des Alltags Grundlage und Reibungsfläche jeder künstlerisch-theatralen Arbeit“ (113). SpielleiterInnen werden also auf die Kinder und deren Ausdrucksvermögen verwiesen: „selbst in Kinderspielen mit festen Regeln (lassen sich) Dramaturgien finden, die die Möglichkeit bieten, aus einer einfachen Spielform eine theatrale Form zu gestalten“ (149). Voraussetzung dafür sind freilich Anerkennung des Kindes als Partner, Respekt vor dem Kind (dem Anderen).
3. Philosophischer Teil
Schon in der Einleitung insistierte Wenzel, dass „das generationale Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern neu gedacht werden muss“ (12). Dazu diente der Gegensatz museal – defizitär; dazu wird auch die philosophische Auseinandersetzung mit Levinas herangezogen: „Das Ich trägt äußerste Verantwortung für den Nächsten, zugleich hört mein Nächster nicht auf, der mir Fremde zu sein, den ich mir nicht ausgesucht habe, den ich mir nicht anpassen und den ich nicht vereinnahmen kann“, so fasst Wenzel Kernthesen von Levinas (118); sie werden zugespitzt mit Judith Butler zu einer „Kritik der ethischen Gewalt„: „dass der Glaube daran, den anderen erfassen und kennen zu können, eine Art Gewalt ist. Hier läge also die Chance auf eine „Geduld gegenüber Anderen“ (Butler)“ (122). Der Gedanke wird mit Meyer-Drawe/Waldenfels, später auch Wimmer (160 f) weiter geführt zu „„Das Andere“ in der Pädagogik„ (122 ff). Direkt und konkret formulierte schon Peter Slade: In approaching Child Drama, the best results are obtained by believing that the child is not only an original artist but an important person. With this in mind, I hold discussions with the children … One learns much from this (137).
Philosophie ist also nicht nur eine Metapher; mit dem „Exkurs: Theater und Philosophie„ (140 ff) sind wir im Kernbereich der Wenzelschen Pädagogik und Ästhetik, die Bedeutung (Sinnstiftung), Ausdruck, sinnliche Reflexion, Respekt und Reibung miteinander verbinden. Mit anderen Worten: „es ist erst Kunst, wenn man sich darüber Gedanken macht“ (die Spielerin Barbara, 158), oder, mit einem Satz von Wenzel: „Die Pädagogik im Begriff der „Theaterpädagogik“ wäre für mich der besondere Hinweis, das Verhältnis zum anderen offen zu halten für eine „Arena des Anderen„“ (159).
Diskussion
Zu monieren ist die subjektiv-nonchalante Behandlung der Terminologie, die den Zugang manchmal schwierig macht. Kindertheater heißt sowohl „Theater für als auch von Kindern“ (25); daneben aber gibt es „Kinderspiel“ (86, 15), „Theaterspielen mit Kindern“ (24), „das spontane Spiel im Kindesalter“ (25), „Arbeit mit Kindern“ (z.B. bei Asja Lacis, 27), „Theaterarbeit mit Kindern“ (86), „das Phantasiespiel der Kinder“ (bei Sutton-Smith 103). Guss beschreibt die „ästhetischen Strukturen des freien Spiels von Kindern“ (15), „dramatische Spielformen von Kindern“ (98), die „Kultur des dramatischen Kinderspiels“ (101); sie geht „zudem davon aus, dass die theatral-ästhetischen Formen im Spiel der Kinder nicht gleichzusetzen sind mit dem Theaterspiel von Kindern“ (112) – also vielerlei unterschiedliche Bezeichnungen ohne präzise Differenzierung und ohne klaren Bezug zu Beispielen.
Ein Zweites: Während der interpretierend-philosophische Teil der Dissertation von hoher Sensibilität geprägt ist, verdrießt der historisch-systematische Teildurch Ungenauigkeiten, falsche Zuordnungen, Fehlurteile: zu enge Übersetzung der griechischen Begriffe mysterion und drama (S. 34), arge Verkürzungen bei Platon (33 f); Durcheinander bei Christentum und Bilderverehrung (34); Luthers Plädoyer für das Theater („um der Knaben in der Schule willen“, schreibt er!) wird auf propaganda fidei verkürzt (36); Cromwell und die Jesuiten werden seltsam miteinander verknüpft (36); Christian Weise sollte nicht einfach auf Rhetorikunterricht reduziert werden (37). Goethe wird noch ärger zurechtgestutzt (41). Das liegt freilich schon an einem falschen Ansatz, denn wie will jemand ohne fundierte Vorarbeiten, sich stützend auf Sekundär-, wo nicht Tertiärliteratur, kaum jemals Quellen zitierend, auf 60 Seiten „die Entwicklungslinien von Antike und Mittelalter einbeziehen“ und bis in die Gegenwart hinein fortführen? Verlässlich und damit tauglich wird der historisch-systematische Teil erst mit dem 20. Jahrhundert; die Kapitel Creative dramatics (47 ff) und Child Drama (49 ff) mit der Würdigung von Peter Slade sind gelungen und nützlich – ebenso wie die Diskussion Haug – Paris/Ebert – Scherf (59 f) [1]. Noch wichtiger aber, dass Wenzel bei aller Unzulänglichkeit, oft Unbrauchbarkeit der historischen Einsprengsel auf die Vielfalt der Begründungszusammenhänge hinweist (schon S. 62) und diese Vielfalt in der „Diskussion der Begründungszusammenhänge“ (68 ff) wieder aufnimmt in den „Intentionen, die zu jedem Zeitpunkt der Geschichte andere waren und dennoch in jeder theaterpädagogischen Praxis zu jeder Zeit im Spiel sind“ (68). Das ist sowohl richtig wie wichtig. LeserInnen sollten also über das Historische hinwegsehen und sich auf Begründungszusammenhänge und Intentionen konzentrieren.
Fazit
Insgesamt gelingt der Autorin eine Integrationsleistung von hohem Anspruch, die „zu einem neuen Verstehen der Kultur des dramatischen Kinderspiels führen kann“ (101). Dazu gehört für Wenzel „insbesondere die spielpädagogische Sicht auf das spontane Spiel im Kindesalter, deren Ausblendung m.E. einem theoretischen und praktischen Weiterdenken in der Theaterpädagogik zurzeit im Wege steht“ (25).
Also ein wichtiges Buch für unterschiedliche Zielgruppen – nicht nur für Theater- und Sozialpädagogen, sondern für Pädagogik allgemein. Eine historisch interessierte Theaterpädagogik kann aus den ersten Kapiteln herauslesen, was alles genauer untersucht werden müsste; die praktisch arbeitende Theaterpädagogin kann die Lektüre getrost mit Kap. 4 beginnen. Für eine Theorie der Spiel- und Theaterpädagogik (wie für die Theaterwissenschaft) könnte das kindliche play drama (Guss) von zentraler Bedeutung sein.
[1] „Ganz einfache Techniken der Verfremdung“ wurden freilich genau wie Spiel im Kreis/Vorspielen aus dem Halbkreis nicht von Scherf „entwickelt“ oder von Slade „entdeckt“ (50) – sie waren eher Allgemeinbesitz von SpielleiterInnen.
Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
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Zitiervorschlag
Hans Wolfgang Nickel. Rezension vom 28.01.2008 zu:
Karola Wenzel: Arena des Anderen. Zur Philosophie des Kindertheaters. Schibri-Verlag
(Uckerland) 2006.
ISBN 978-3-937895-40-6.
Lingener Beiträge zur Theaterpädagogik, Band 5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4605.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.
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