Thomas Olk, Roland Roth: Mehr Partizipation wagen
Rezensiert von Prof. Dr. Piotr Salustowicz, 26.04.2007

Thomas Olk, Roland Roth: Mehr Partizipation wagen. Argumente für eine verstärkte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Verlag Bertelsmann Stiftung (Gütersloh) 2007. 130 Seiten. ISBN 978-3-89204-922-7. 15,00 EUR.
Thema und Zielrichtung
Seit einer längeren Zeit beherrscht das Wort "Partizipation" die unterschiedlich gelagerten Diskurse in den Sozialwissenschaften, in der Politik oder sogar in lebensweltlichen Kontexten. Es ist in der letzten Zeit zum echten "Buzzy-word" geworden, obwohl die Frage der Beteiligung, der Mitbestimmung ,der Mitverwaltung, sogar des Mitregierens mit der 68-er Bewegung schon einmal eine soziale Kraft gefunden hat, derer Anstoß für die weitere Modernisierung und Demokratisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft durchaus zu würdigen wäre. Mit der im Auftrag der Betelsmann Stiftung erstellten Expertise von den zwei profunden Kennern, Thomas Olk und Roland Roth, zum Thema: "Mehr Partizipation wagen. Argumente für eine verstärkte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen", sucht man den Anschluss an die Debatten, die sich vor allem seit den 80er Jahren entwickelt haben, Debatten, die sich aus den Menschenrechten, Bürgerrechten, Bürgergesellschaft- und Bürgerkommunen-Projekten, Inklusionsprogrammen in der Sozialpolitik usw. herleiten und wenig dem gesellschaftskritischen Impetus der 60er Jahren verpflichtet fühlen.
Es ist ein Plädoyer für eine verstärkte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, also für die Alterskategorien, die in der Tat in der paternalistisch und autoritär strukturierten Gesellschaft des 20 Jahrhunderts auf einem langen Weg die Anerkennung ihrer besonderen Interessen, Bedürfnissen und Anliegen gepaart mit ihrem relativ selbständigen Artikulieren gegenüber der Erwachsenen-Welt errungen hatten und doch scheint eine verstärkte Beteiligung von ihnen ein weiterhin sehr aktuelles Problem zu sein, dessen Legitimierung nicht so selbstverständlich erscheint, wie manche gerne geglaubt hätten. Dieser Aufgabe stellt sich diese Expertise.
Inhalt
Die Autoren besprechen eine Reihe von Argumenten für eine verstärkte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, die sie in die zwei Hauptstränge aufteilen: systematische und funktionale Begründungen.
Zu den systematischen Beteiligungsargumenten gehören u.a.: Argumente, die sich auf die gesellschaftlichen Konstruktionen von Menschenrechten, Bürgerrechten und Kinderrechten stützen, die durch ihre völkerrechtliche Definitionskraft die Anerkennung von Kindern und Jugendlichen als Menschen und Bürger der Welt in der Gesellschaft thematisieren und legitimieren. Vor allem spielt die UN-Konvention über die Rechte des Kindes (UNKRK) vom 20 November 1989 eine besondere Rolle in der menschenrechtpolitischen Stärkung der Position von Kindern, aber sie ruft auch, vor allem bezüglich der Partizipationsrechten, kontroverse Debatten hervor. Im Bezug auf die Umsetzung von den geforderten Kinderrechten durch die UN-Konvention in Deutschland bescheinigen Olk und Roth der Bundesrepublik eine eher restriktive als offensive Haltung. Was die Bürgerrechte anbelangt, sind die Kinder in ihren Bürgerrechten in vieler Hinsicht eingeschränkt oder ausgegrenzt. Es wird auf den politisch-kulturellen Wandel hingewiesen, der zu einer Anerkennung von Kindern und Jugendlichen als Mitbürgerinnen und Mitbürgern führen kann. Wer hinter diesem Wandel steht und wer ihm voranbringen kann oder will, ist nicht ausdrücklich gesagt. Zu den systematischen Argumenten gehört auch die geforderte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an der Demokratie, vor allem angesichts der Veränderung des Demokratieverständnisses und der Demokratieformen. Infolge der Erweiterung des Verständnisses von der "liberalen Demokratie", in die Richtung: einer partizipativen, deliberativen, assoziativen oder direktdemokratischen Demokratie, haben sich auch neue Perspektiven und Felder für die Beteiligung der Kindern und Jugendlichen an der erweiteten demokratischen Praxis geöffnet, die sich nicht auf die Wahlen zum Parlament beschränkt, sondern auch in den unterschiedlichen Organisationssetting (Kommune, Schule, oder Verein) praktiziert wird. Hier öffnet sich ein sehr breites Feld für alle Initiativen, die die "Demokratisierung der liberalen Demokratie" unter der Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen zum Ziel haben. Anschließend diskutieren Olk und Roth:1) die Frage der Bildungstheorie und des neuen Verständnisses vom Lernen, als einen aktiven und selbst gesteuerten Prozess, der eine Selbstbestimmung und aktive Beteiligung des Lernenden: Kinder und Jugendlichen, voraussetzt; 2) und die Frage der neuen Ansätzen in der Kindheitsforschung, die vor allem eine Akzentverschiebung von "Defizitsperspektive" auf " die Perspektive des relativ selbständigen gesellschaftlichen Akteurs" markieren.
Die Gruppe der funktionalen Argumente bezieht sich "sowohl auf übergreifende Trends in den reichen Ländern des Nordens wie von den demographischen Wandel, neue Formen von Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung, die Modernisierung von Kindheit und Jugend, ein neues (Selbst-)Verständnis staatlichen Handelns, neue Formen des Regierens und veränderte Planungskonzepte" (S. 65). Diesen Argumenten bescheinigen Autoren den Vorzug gegenüber den systematischen, "dass sie tagespolitisch anschlussfähig sind und auch ansonsten Nichtüberzeugte gewinnen können" (S.23). Anders ausgedrückt, ihr besonderer Reiz liegt in einer gewissen pragmatischen Orientierung.
Diskussion
Ob sich diese beiden Argumentationsstränge zum einen überzeugenden Komplex addieren lassen oder ob sie sich doch vollkommen oder teilweise widersprechen und sich gegenseitig neutralisieren bzw. gegeneinander ausspielen lassen - wird von den Autoren zwar nicht unerwähnt gelassen, aber auch nicht weiter ausführlicher thematisiert. Was sicherlich eine besondere Hervorhebung verdient, ist die quellenreiche, gut strukturierte und verständlich formulierte Präsentation der vielfältigen Argumenten und teilweise ihr Untermauern durch die empirische Forschung und empirischen Daten.
Was möglicherweise zur Kurz gekommen ist, sind die Bespiele von konkreten Lösungen, Projekten und Programmen (best practice), die zwar erwähnt werden, aber keine nähere Beschreibung erfahren, was vor allem für die Praktiker von besonderem Interesse sein könnte.
Bedauerlicherweise ist diese Expertise eher an die Erwachsenen-Welt adressiert und ohne eine "Übersetzungshilfe" für die Kinder und Jugendlichen nur schwer zugänglich.
Fazit
Für alle, denen die Frage der Partizipation von Kindern und Jugendlichen als wichtig erscheint und die sich selbst als Anwälte der Kinder und Jugendlichen sehen, bietet diese Expertise nicht nur viele nützliche Informationen, sie lädt auch zu einer anregenden und kontroversen Debatte über die Zukunft der modernen, oder für manche, der postmodernen Gesellschaft ein, in der die Wert- und Strukturfragen unter der Berücksichtigung der Kinder - und Jugendproblematik neu diskutiert werden müssen, wenn sich diese Gesellschaft den gesellschaftlichen, politischen und ökologischen Herausforderungen lösungsorientiert stellen will.
Rezension von
Prof. Dr. Piotr Salustowicz
Es gibt 4 Rezensionen von Piotr Salustowicz.
Zitiervorschlag
Piotr Salustowicz. Rezension vom 26.04.2007 zu:
Thomas Olk, Roland Roth: Mehr Partizipation wagen. Argumente für eine verstärkte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Verlag Bertelsmann Stiftung
(Gütersloh) 2007.
ISBN 978-3-89204-922-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4642.php, Datum des Zugriffs 30.01.2023.
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