Burkhard Müller: Sozialpädagogisches Können
Rezensiert von Prof. Mag. Dr. Peter Pantuček-Eisenbacher, 20.09.2007

Burkhard Müller: Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2006. 4. Auflage. 203 Seiten. ISBN 978-3-7841-1649-5. 15,00 EUR. CH: 26,50 sFr.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-7841-2757-6 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Nichts weniger als das sozialpädagogische "Können" versucht Burkhard Müller zu ergründen. Tatsächlich begleiten die Sozialarbeit / Sozialpädagogik seit ihrer Entstehung Abhandlungen darüber, was denn den Kern ihrer durchaus gefragten Tätigkeit ausmache. Zweifelsohne ist das ein Paradox: Während die Nützlichkeit des Berufs wohl durch seine andauernde Existenz, ja sein Wachstum, hinlänglich außer Diskussion stehen dürfte, bleibt anscheinend unklar, was die Profis da denn eigentlich machen und was das Professionelle daran ist. Einen Diskurs kann man (zumindest im deutschen Sprachraum) diese inzwischen lange Liste von Schriften, die sich damit befassen, allerdings leider nicht nennen. Allzu selten wird explizit argumentierend oder polemisierend auf konkurrierende Erklärungsversuche eingegangen. Liest man ein Buch zum Thema, kann man meinen, der Autor (oder die Autorin) beantworte als erster oder erste die Frage, erfindet die Begriffe dazu neu. In den Literaturbezügen bleiben jene, die andere Gebäude zu errichten versuchten, i.d.R. ausgeklammert, nicht-deutsche Fachliteratur scheint nicht zu existieren. Der vorliegende Band ist ein gutes Beispiel für diese Mängel der Disziplin (die von einzelnen AutorInnen nur schwer auszugleichen sind), und doch ist er wichtig und ist seine Lektüre lohnend.
Entstehung
Der Text ist nicht neu. "Sozialpädagogisches Können" erschien erstmals 1993. Der Lambertus-Verlag bemüht sich derzeit, einige "Klassiker" aus seinem Repertoire überarbeitet neu aufzulegen, so konnte auch Burkhard Müller noch einmal über seinen Text gehen, ihn ergänzen und stellenweise erneuern. Die Einladung zur Überarbeitung 13 Jahre nach der Erstauflage zeigt, dass weiterhin Nachfrage nach dem Text besteht. Er scheint nützlich zu sein.
Aufbau und Inhalt
Burkhard Müller benützt eine Reihe von Fallvignetten aus den verschiedensten Arbeitsfeldern, die Studierende eingebracht haben, um seine Themen zu entwickeln. So nähert er sich dem Allgemeinen, die einzelnen Handlungsfelder übergreifenden, Können der Profession. Es gelingt ihm zu zeigen, dass das, was er Sozialpädagogik nennt (ich würde den international kompatibleren Terminus Sozialarbeit bevorzugen), über alle Handlungsfelder hinweg einen anspruchsvollen gemeinsamen professionellen Kern hat. Dieser Kern besteht nach Müller in der Multiperspektivität der Arbeit mit dem Fall. Neben diesem Begriff der Multiperspektivität wurden auch seine Bezeichnungen für drei Dimensionen jedes Falles als "Fall von …", "Fall für …" und "Fall mit …" als nützliche Topoi von vielen AutorInnen aufgegriffen.
Der Autor reflektiert über die kurzen Fallgeschichten, die stets viele Fragen offenlassen, und gibt so Beispiele für kasuistische Reflexionen. Aus der Diskussion der Geschichten entwickelt er seine Überlegungen zur grundlegenden Struktur sozialpädagogischer Fälle und Arbeitsregeln für die Anamnese, die sozialpädagogische Diagnose, Intervention und Evaluation.
Die Kapitelfolge startet mit der Frage, wie der Fall zum Fall wird. Im zweiten Abschnitt erläutert Müller die Dimensionen des Falles ("von", "für", "mit"), um anschließend den Prozess der Fallarbeit mit Anamnese, Diagnose, Intervention und Evaluation zu diskutieren. Bevor er jedem dieser Abschnitte ein Kapitel widmet, beschäftigt er sich noch ausführlich mit dem Beispiel der Hilfeplanung im KJHG und damit auch mit der Rolle gesetzlicher Rahmenbedingungen im Hilfsprozess.
Die Überschriften der Kapitel zu den Prozessphasen deuten Müllers Verständnis sozialpädagogischer Professionalität an: "Aufmerksamer Umgang mit Nichtwissen" (Anamnese), "Wer hat welches Problem" (Diagnose), "Was tun?" (Intervention), "Was hat's gebracht?" (Evaluation). Es ist ein Verständnis, das informiertes Abwägen und Vermitteln auf der Basis von Pragmatismus und gesundem Menschenverstand, von Wissen und Denken als "informierter Bürger", und von ExpertInnentum im Sinne des kompetenten Anwendens eines "anerkannten Allgemeinen" auf den Fall umfasst.
Die Arbeitsregeln verweisen auf die nötige Bescheidenheit im Umgang mit Deutungen, auf Offenheit, auf Sorgfalt. Sie sind allen PraktikerInnen dringend ans Herz zu legen.
Vorangestellt ist dem Haupttext ein Abschnitt für Lehrende, in dem Müller seinen Zugang zur Methodenlehre im Rahmen des fachlichen Diskurses verortet. Nachgestellt sind Überlegungen zu Professionalität und Qualifikation.
Zielgruppen
Der Autor betont mehrfach, dass der Text (der sich ja auch studentischer Fallbeispiele bedient) zuallererst für Studierende geschrieben ist. Angesichts dessen, dass die nötige Mehrperspektivität der Fallbetrachtung in den Organisationszusammenhängen der Praxis ständig gefährdet ist (worauf Müller im Text auch mehrmals hinweist), dürfte seine Lektüre allerdings auch für PraktikerInnen der Sozialen Arbeit lohnend zu sein.
Diskussion
Auch wenn man dem Text anmerkt, dass seine Erstfassung schon mehr als ein Jahrzehnt alt ist, ist seine Aktualität ungebrochen. Er ist recht gut lesbar, wenn man bereit ist, reflexiven und analytischen kasuistischen Gedankengängen zu folgen. Und diese Bereitschaft ist bei Studierenden und PraktikerInnen der Sozialen Arbeit wohl vorauszusetzen.
Man kann diesen Band als "Klassiker" bezeichnen und als solchen lesen. Wie ein echter Klassiker befasst er sich mit relativ zeitlosen Fragen seines Gegenstands, das sichert ihm Geltung und den LeserInnen Gewinn weit über den (verflossenen) Neuigkeitswert hinaus.
Fazit
Man kann dem Verlag für die Initiative zur Überarbeitung und Neuherausgabe des Textes danken. Dass die Lektüre lohnend ist, habe ich wohl deutlich gemacht. Beim Wieder-Lesen nach einem Jahrzehnt freut man sich unter anderem über die konsequent kasuistische Ausrichtung und über das kluge Beharren auf der Komplexität des Gegenstandes. Charakteristisch für Publikationen aus dem Stall der Sozialpädagogik ist der "pädagogische Bias", also das Auffassen der Sozialen Arbeit als vorrangig pädagogische Aufgabe. Soziologische oder andere sozialwissenschaftliche Bezüge fehlen nahezu völlig, Bezüge zu den Lebenswelten der KlientInnen bleiben episodisch. So geht auch ein Bezug auf einen eigenen diagnostischen Gegenstand der Sozialen Arbeit ab, der wohl in den Fragen der Inklusion und der Einbindung der KlientInnen in soziale Netze zu suchen wäre. Müller entwickelt das Modell sozialpädagogischen Könnens allein auf Basis der Arbeitssituation der Fachkräfte zwischen den Ansprüchen und Deutungen der fallbeteiligten KlientInnen und gesellschaftlichen Institutionen. Aber vielleicht ist das nötig, um die Multiperspektivität der Fallbearbeitung als professionelle Herausforderung wieder einmal in den Vordergrund der Aufmerksamkeit zu bringen und verdienstvoll für "kasuistische Räume" zu plädieren.
Rezension von
Prof. Mag. Dr. Peter Pantuček-Eisenbacher
Diplomsozialarbeiter, Soziologe, Supervisor (ÖVS)
Leiter Department Soziale Arbeit, Master-Stdgg. Soziale Arbeit
Fachhochschule St.Pölten GmbH
University of Applied Sciences
Website
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