Gabi Elverich, Annita Kalpaka et al. (Hrsg.): Spurensicherung – Reflexion von Bildungsarbeit [..]
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 02.03.2007
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Gabi Elverich, Annita Kalpaka, Karin Reindlmeier (Hrsg.): Spurensicherung – Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft. IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation (Frankfurt) 2006. 300 Seiten. ISBN 978-3-88939-815-4. 21,90 EUR.
Stolpersteine und Leerstellen in der antirassistischen Bildungsarbeit
Es könnte so leicht sein, ein friedliches, humanes und gerechtes Zusammenleben der Menschen auf der Erde zu ermöglichen, gelänge es das durchzusetzen, was in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als wichtige Feststellung geschrieben steht, dass nämlich "die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnende Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet". Doch wie wir wissen, alltäglich und allerorts erkennen müssen, ist das "Recht auf Menschenrechtsbildung" (Claudia Lohrenscheit, 2004; vgl. die Rezension dazu) für viele Menschen in vielen Ländern der Erde eine Illusion und ein scheinbar unerreichbares Ziel. Im Diskurs darüber, wie die Menschen in der sich immer interdependenter entwickelnden Welt, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden und zwar lokal, national und global, zu einem friedlichen gesellschaftlichen Zusammenleben kommen können, wird immer wieder der Begriff des "Perspektivenwechsels" benutzt; was bedeutet, dass in einer multikulturellen und Einwanderungsgesellschaft sich Jeder seiner eigenen kulturellen Identität versichern und fähig sein sollte, die Identität des Anderen zu erkennen und anzuerkennen.
Inhalt
Das Autorenteam, das sich auf den Weg gemacht hat, den Spuren nachzugehen, die bei diesem Prozess in der deutschen Einwanderungsgesellschaft erkennbar sind, als feste Tritte, als Abdrücke und als leisesohlige Eindrücke, stellt fest, dass in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mehrere Schieflagen, weiße Flecke und Leerstellen auffindbar sind: Theorieproduktion und Fachdiskurs würden zwar durchaus kritisch verlaufen, fänden aber wenig Eingang in die gesellschaftliche Praxis. Sie weisen dabei auf die Tatsache hin, dass die Theoriekonzepte, Initiativen und Anregungen zur praktischen Umsetzung für eine antirassistische Bildungsarbeit vielfach von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft ausgehen und damit die Perspektiven der "Dominanzkultur" widerspiegeln. Die Herausgeberinnen - Gabi Elverich, Stipendiation der Heinrich-Böll-Stiftung und Promovendin an der Universität Göttingen (Jg. 1972), Annita Kalpaka, Erziehungswissenschaftlerin an der Fachhochschule Wiesbaden, Fachbereich Sozialwesen (1955) und Karin Reindlmeier, Referentin in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung (1973) - legen in ihrer Reflexion den Schwerpunkt auf die Darstellung von Versuchen, die vielfältigen theoretischen Erkenntnisse und Konzepte aus der Rassismusforschung in die schulische und vor allem außerschulische Bildungsarbeit umzusetzen. Dabei gehen sie in ihrem Grundverständnis davon aus, dass Rassismus ein gesellschaftliches Strukturprinzip darstellt. Sie legen fünf Prinzipien zugrunde, die es ihnen ermöglichen, sowohl Bestandsaufnahmen von Gegenwärtigem vorzunehmen, als auch Perspektiven von Künftigem aufzuzeigen:
- "Kultur als Prozess begreifen", und zwar sowohl im Sinne eines dynamischen Verständnisses, als auch die Frage nach der Macht im kulturellen Denken und Handeln zu stellen.
- "Konstruktionen aufdecken", was bedeutet, die so genannten Selbstverständlichkeiten im alltäglichen Zusammenleben der Menschen zu hinterfragen und deren Rassismen zu verdeutlichen.
- "Die gesellschaftliche Ebene mit einbeziehen", das heißt, sich der gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse bewusst zu werden und den Rechtsrahmen dabei einzubeziehen.
- "Perspektiven von MigrantInnen wahr-nehmen", will heißen, Menschen mit Migrationshintergrund als handelnde Subjekte und auf Augenhöhe anzuerkennen.
- "Nach dem Eigeninteresse suchen", also zu ergründen, welche Zusammenhänge es zu den verschiedenen gesellschaftlich verankerten Ausschließungspraxen gibt und das eigene Beteiligt sein dabei deutlich zu machen.
Elverich und Reindlmeier entwickelten auf dieser Basis ein Fortbildungskonzept für MultiplikatorInnen der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit. Damit zeigen sie mit den dargestellten Methoden und Einheiten eine Reihe von Beispielen auf, wie in den Bereichen Konfliktbearbeitung, Gewaltprävention, Mediation, Zivilcourage, u.a., professionell gearbeitet werden kann.
Die Soziologin Ingmar Pech (1973) setzt sich in ihrem Beitrag mit dem aus den US-amerikanischen Critical Whiteness Studies übertragenen Begriff des "Whiteness" auseinander. Weiße Dominanz, Weiße Privilegiertheit, Weiße Strategie und Weiße Macht wird in der interkulturellen Kommunikation den Privilegierten selten bewusst: Whiteness als Normalität. Die Wirkungsmechanismen Weißer Dominanz wirkt, so die Autorin, dass eine Position eingenommen wird, "von der aus ein Blickwinkel für Selbstbilder und Perspektiven auf andere und die Welt eingenommen wird und Wissens- und Wahrnehmungsproduktionen erfolgen, aus der kulturelle Handlungsweisen und Identitätspositionen herausgebildet werden, die strukturelle Privilegien und gesellschaftliche Vorteile konstituiert". Die Auseinandersetzung mit der eigenen Whiteness kann es also ermöglichen, eine antirassistische Position einzunehmen und zu leben. Vom Rezensenten sei, nicht beckmesserisch, angemerkt, dass in diesem Zusammenhang das Buch von Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Unrast-Verlag, Münster 2005 eine Reihe von weiteren Anregungen zur Antirassismus-Diskussion anbietet.
Annita Kalpaka diskutiert in ihrem Text das Problem, wie Menschen mit Migrationshintergrund und Diskriminierungserfahrungen in der sozialpädagogischen Fachhochschul-Ausbildung gleichberechtigte und chancengleiche Möglichkeiten für ihre berufliche Entwicklung finden. Dabei ist ihre Erkenntnis, dass Minderheiten auch eigene "Räume" brauchen, "in denen sie sich ohne Rechtfertigungsdruck und ohne Reduzierung auf ihr ’Anderssein’ ihrer Selbstdefinition vergewissern und sich mit ihren vielfältigen Sichtweisen auseinander setzen können", erst einmal überraschend: Führt denn eine Separierung von gesellschaftlichen Gruppen nicht zu einem verstärkten "Wir"- und "Ihr"- Denken? Trägt denn eine Position "Wir sind hier, weil ihr da wart" nicht eher zur Des-, als zur Integration? Wird da nicht dem Konflikt, anstatt der Anpassung das Wort geredet? Doch der Titel des Beitrags weist derartige Vermutungen zurück: "Parallelgesellschaften in der Bildungsarbeit. Möglichkeiten und Dilemmata pädagogischen Handelns in ’geschützten’ Räumen". Es geht dabei um die wichtige und interessante Reflexion über ausgewählte Seminarsequenzen in der Ausbildung. Der "geschützte Raum" als bewusste Entscheidung und Rahmenbedingung für antirassistische Bildungsarbeit im Sinne von Empowerment, als Anstiftung zur Selbstbestimmung gewissermaßen, das ist ein neuer, bemerkenswerter methodischer, didaktischer und organisatorischer Blick, der auch für andere "Räume" anwendbar ist.
Nuran Yi?it (1974), Diplom-Pädagogin aus Berlin-Brandenburg und Halil Can (1968), Diplom-Politologe von der Humboldt-Universität Berlin, nehmen in ihrem Beitrag den politischen Begriff "People of Color" (PoC) auf, indem sie beispielhaft den Empowerment-Raum und die Aktivitäten der Projektinitiative HAKRA vorstellen, als "Weg der Gerechtigkeit" ("hak" vom Altägyptischen "Recht / Wahrheit", und "ra" als "Weg / Kosmos"). Ihr Ansatz dabei ist die Erkenntnis, "dass Veränderungen im alltäglichen, gesellschaftlichen Leben erst dann möglich und wirksam werden, wenn der Einzelne in die Lage versetzt wird, durch Bewusstwerdung und Selbstreflexion seine eigene Situation zu verstehen, um so Zugang zu den für die Veränderung notwendigen eigenen Ressourcen zu erlangen"; übrigens ein klassischer Erkenntnisprozess, wie ihn etwa Paulo Freire (vgl. dazu auch: www.paulo-freire-verlag.de) propagiert und realisiert hat. Ziel der Trainings- und Empowerment-Arbeit von HAKRA ist, die der Titel des Textes deutlich macht: "Die Überwindung der Ohn-Macht".
Gabriele Dina Rosenstreich (1966), freiberufliche Referentin in der Erwachsenenbildung, informiert über Empowerment und Powersharing in interkulturellen und Diversity-Workshops. Es geht dabei also um Zugehörigkeiten, Zwischenräume, Beteiligung und Macht in der antirassistischen (Erwachsenen-)Bildungsarbeit. Ihr Aufklärungs-, Trainings- und "mehrdimensionaler Bildungsansatz" öffnet im Diskurs der antirassistischen Arbeit eine Tür zu Initiativen, die bisher so wenig begangen wurden.
Karin Reindlmeier beginnt mit ihrer Frage "Alles Kultur?" den dritten Teil des Bandes, den die Herausgeberinnen mit "Schlaglichter auf das Handeln in Arbeitsfeldern der außerschulischen Jugendarbeit" benennen. Dabei kritisiert sie den undifferenzierten kulturellen Blick, der allenthalben bei den verschiedenen Konzepten der Bildungsarbeit mit Jugendlichen vorherrscht. Sie plädiert für eine kulturalismuskritische Praxis, die sie in zahlreichen Diskussions-, Trainings- und Übungssequenzen aufzeigt.
Annita Kalpaka schließlich beendet den Band mit einer kritischen Nachfrage nach den scheinbar selbstverständlichen Anforderungen an die Soziale Arbeit unter den Bedingungen von Migration und der Migrationsgesellschaft. Was heißt "interkulturell kompetentes Handeln", wenn dies im Zusammenhang mit der Beratung von Flüchtlingen erfolgt, die abgeschoben werden? Wie kann sich ein Sozialarbeiter im Spagat zwischen vorgegebenen Regeln, gesetzlichen Bestimmungen und interkultureller Kompetenz verhalten? Aus ihrer praktischen Erfahrung und theoretischen Reflexion destilliert die Autorin den scheinbar einfachen (unrealistischen?) Satz: "Das sogenannte „Interkulturelle“ (verweist) auf das Allgemeine", und es wird damit aufgedeckt, "was im Argen liegt und das Selbstverständnis Sozialer Arbeit grundsätzlich befragt". Da schimmert durch, was Annita Kalpaka zusammen mit Nora Räthzel in dem erstmals 1986 herausgegebenen Band "Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein" (1990) zu Bedenken gegeben hat. An dieser notwendigen Reflexion und Innenschau im Prozess der Bildung einer gerechten multikulturellen Gesellschaft hat sich bis heute nichts geändert.
Fazit
So ist die "Spurensicherung" als Spurensuche auf den Weg hin zu einer humanen Einwanderungsgesellschaft dann doch zu einem Handbuch geworden, das Studierende, Theoretiker und Praktiker getrost in ihre Handapparate stellen können. Der türkischstämmige Rundfunk- und Fernsehmoderator Birand Bingül hat kürzlich in der Wochenzeitung DIE ZEIT in deutscher und türkischer Sprache einen Aufruf gestartet mit der Aufforderung: "Deutschtürken, kämpft selbst für euere Integration - Almanya Türkleri, entegrasyonunuz için kendiniz mücadele verin!". Das Autorenteam stützt ihn dabei mit ihren Reflexionen und Theorie-Praxis-Erfahrungen! Und: Obwohl der Theorie-Praxis-Bericht sich in erster Linie an in den außerschulischen Bereichen der politischen und gesellschaftlichen Jugendbildung Tätigen und Engagierten wendet, bieten die zahlreichen interessanten Aspekte und Methoden durchaus auch Anregungen für die schulische Bildung und Erziehung. Vom argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges stammt die Metapher, dass der Spiegel, in den die Menschen schauen, ein bedrohendes Zerrbild seiner Gegenwart sei; er kann aber auch, sieht man ernsthaft und selbstkritisch in ihn hinein, die Wiederspiegelung von Selbsterkenntnis als interkulturelles und humanes Wesen sein.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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