Rüdiger Jacob: Sozial- und Gesundheitsberichterstattung
Rezensiert von PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas von Lengerke, 08.07.2007

Rüdiger Jacob: Sozial- und Gesundheitsberichterstattung. Hintergründe, Defizite, Möglichkeiten. Peter Lang Verlag (Bern · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford) 2006. 367 Seiten. ISBN 978-3-631-55700-6. D: 44,80 EUR, A: 44,80 EUR.
Autor
Dr. habil. Rüdiger Jacob ist Akademischer Oberrat am Fachbereich IV der Universität Trier, Fach Soziologie, Schwerpunkt Methodenlehre und Empirische Sozialforschung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Methoden der Empirischen Sozialforschung, Wissenschaftstheorie sowie Medizin- und Sportsoziologie. Seit 1996 kooperiert er mit Gesundheitsämtern und dem rheinland-pfälzischen Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen zur kommunalen und regionalen Gesundheitsberichterstattung sowie mit den Gesundheitsämtern Trier und Cochem und der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz im Rahmen von Gesundheits-, Patienten- und Ärztesurveys. Seit 2005 leitet er die wissenschaftliche Begleitung des Modellprojektes "Sektorenübergreifende elektronische Patientenakte Rheinland-Pfalz".
Thema
Sozial- und wohl noch stärker Gesundheitsberichterstattung (SBE, GBE) haben in Deutschland traditionell einen schweren Stand. Beispiel Gesundheitsverhaltensberichterstattung: Während in den USA das Behavioral Risk Factor Surveillance System (www.cdc.gov/brfss) bereits seit 1984 kontinuierlich und landesweit epidemiologische Daten und Informationen zu wichtigen gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen liefert, ist die entsprechende Datenlage hierzulande bisher bescheidener (siehe auch z. B. von Lengerke T, Abu-Omar K. Verhaltensepidemiologie: Einblicke in ein neues Wissensgebiet. In T. von Lengerke, Hrsg., Public Health-Psychologie: Individuum und Bevölkerung zwischen Verhältnissen und Verhalten. Weinheim: Juventa, 2007 in Druck). Doch selbst wenn man berücksichtigt, dass sich die Situation zuletzt z. B. durch die telefonischen Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts deutlich verbessert, ist GBE - schon grundsätzlich - natürlich nicht voraussetzungslos. So treffen die sie tragenden Akteure implizit oder (im positiven Fall) explizit immer theoretische, methodologische und nutzungsbezogene Entscheidungen. Auch sind Präferenzen, die diese Entscheidungen mit bedingen, oft historisch gewachsen, so dass ein Verständnis der Geschichte von SBE und GBE gerade auch für Fachleute, die wissenschaftlich oder praktisch in diesen Bereichen tätig sind, als Hintergrund zur (Selbst-)Reflexion zwischen materiellen Restriktionen und forschungs- bzw. gesundheitspolitischen Opportunitäten hilfreich sein kann. Solcherart historische und grundsätzliche Erwägungen enthält der vorliegende Band.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich zwischen Einleitung und Schlussbemerkungen in vier Kapitel.
- In Kapitel I und II gibt Jacob jeweils zunächst eine Einführung in Definitionen, Formen und Aufgaben von Sozialberichtserstattung bzw. Gesundheitsberichterstattung. Den Schwerpunkt beider Kapitel bildet dann jeweils eine ausführliche Darstellung Zur Geschichte von Statistik und Sozialberichterstattung bzw. Zur Geschichte von Gesundheitsberichterstattung (I.4. bzw. II.2.), die durch Beschreibungen der heutigen Situation in Deutschland komplementiert werden (I.5. Sozialberichterstattung in Deutschland und II.4. Gesundheitsberichterstattung heute). Daneben geht der Autor im Kapitel zur GBE eigens auf Folgen des demographischen Übergangs für das Sozial- und Gesundheitswesen (II.2.) und die Gesundheitssicherung als staatliche Aufgabe (II.3) ein.
- Unter der Überschrift Normen wird in Kapitel III zunächst das Postulat des Kritischen Rationalismus (dessen Wissenschaftsauffassung sich Jacob ausdrücklich anschließt; siehe auch Einleitung, S. 17) zur Trennung deskriptiver und präskriptiver Aussagen benannt und die prinzipielle Problematik seiner Anwendung in Medizin, Gesundheitswissenschaften und GBE skizziert. So stellen weder Wahl noch Definition von Indikatoren objektive Procedere dar. Dementsprechend setzt sich Jacob in Kapitel III.1. - Definitionen - mit den Begriffen "Gesundheit" (III.1.1.) und "Krankheiten" (III.1.2.) auseinander, wobei er empfiehlt, "Gesundheit" wegen der mannigfaltigen Probleme ihrer positiver Definition vor allem als Abwesenheit von Krankheit(en) zu definieren. Kapitel III.2 (Zwang) beschreibt Konsequenzen im Hinblick auf staatliche Überwachungsaufgaben, mögliche Einschränkungen von Grundrechten und Fragen der Verteilung materieller Ressourcen. Dabei setzt die Nachvollziehbarkeit solcher Verteilung klare operationale Gesundheitsziele voraus, die in Kapitel III.3. mit einem Schwerpunkt auf die Krankheitsprävention besprochen werden.
- Schließlich präsentiert Jacob in Kapitel IV. - Daten - die Datenlage in Deutschland zu Morbidität (IV.1.) Mortalität (IV.2.), Prävention und gesundheitsrelevante Verhaltensweisen (IV.3.), Inkompatible Daten und Datenerfassungsprobleme (IV.4.), Zugangsverweigerungen und Datenschutz (IV.5.) und - ausführlich - Surveys (IV.6.). So merkt er an, dass im Indikatorenkatalog für die GBE der Länder "... die Auswahl der Indikatoren willkürlich und unsystematisch erscheint und bestimmte Themen überhaupt nicht behandelt werden" (S. 252), und stellt zu alltagstheoretischen Krankheitsvorstellungen und Einschätzungen des Gesundheitssystems - subjektiven Indikatoren also - Ergebnisse eines eigenen, repräsentativen Surveys vor (s. IV.6.).
Qualität und Nutzen des Buches
Meine Einschätzung dieses Buches möchte ich nach Form und Inhalt unterteilen. Formal hat sich mir dieses Buch aus mehreren Gründen schwer erschlossen. Die Formatierung finde ich persönlich in Sachen Zeilenabstand zu großzügig. Die Überschriften finde ich vor allem in den Kapiteln III. und IV. alles Andere als sprechend (z. B. "Daten"; "Zwang"; "Surveys"). Noch mehr hat mich gestört, dass die Unterkapitel im Text nicht als I.1. bis IV.6., sondern 1. bis 6. nummeriert sind (wobei zugleich in der Kopfzeile nur die Seitenzahlen bei der Orientierung helfen). Auch enthält das Buch keine einzige Abbildung. Schließlich sind 438 Fußnoten auf 367 Seiten wenigstens Geschmackssache.
Inhaltlich fällt meine Bilanz deutlich positiver aus. Zwar bin ich nicht so überzeugt wie Jacob, dass der Kritische Rationalismus die wissenschaftstheoretische Basis von SBE und GBE sein sollte - zumindest hege ich noch immer Sympathie für Positionen, wie sie z. B. in folgendem Zitat von Vedung (1997, S. 192) zum Ausdruck kommen: "Evaluation methodology must be adjusted to the rules of the political game, not the other way around" (aus: Vedung E. Public policy and program evaluation. New Brunswick, NJ: Transaction Publishers, 1997). Doch dies ist weites Feld und soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Die Kapitel und historischen Überblicke zur SBE und GBE fand ich sehr gut recherchiert, spannend zu lesen und auch im Detail informativ; so war mir nicht bekannt, dass sich der Begriff "Gesundheitswissenschaften" bis ins Jahre 1925 zurück verfolgen lässt (S. 93). In der zweiten Hälfte des Buches sind für mich besonders die Diskussionen der Gesundheits- und Krankheitsbegriffe, des Verhältnisses von Verhaltens- und Verhältnisprävention und der methodischen Probleme der Inkompatibilität von Daten, der Verweigerung von Datenzugängen und der Gewinnung von Daten in Surveys erwähnenswert. Der kritische Hinweis, dass Jacob in seinen Schlussbemerkungen im Rahmen seines Plädoyers für eine interdisziplinäre und auch akademisch basierte Arbeitsweise der SBE und GBE die Psychologen "unterschlägt" (er nennt Mediziner, Epidemiologen und Soziologen), sei mir als Psychologe, dessen Credo die stärkere Zusammenarbeit von Psychologie, Soziologie und Public Health ist, verziehen.
Fazit
Für interessierte Fachleute in Wissenschaft und Praxis ist dies ein gewinnbringendes Buch, das jenseits der Begeisterung über "Daten, Daten, Daten" gute historische Überblicke liefert und zur Reflexion über Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von SBE und GBE anregt.
Rezension von
PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas von Lengerke
Stv. Leiter der Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Psychologie der Medizinischen Hochschule Hannover
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