Wolfgang Budde, Frank Früchtel et al. (Hrsg.): Sozialraumorientierung. Wege zu einer veränderten Praxis
Rezensiert von Prof. Dr. Werner Schönig, 23.12.2007

Wolfgang Budde, Frank Früchtel, Wolfgang Hinte (Hrsg.): Sozialraumorientierung. Wege zu einer veränderten Praxis. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2006. 317 Seiten. ISBN 978-3-531-15090-1. 24,90 EUR.
Thema
Nachdem die ersten Turbulenzen verklungen sind und sich die frühen Theoriedebatten totgelaufen haben, ist es um das Thema Sozialraumorientierung merklich ruhiger geworden. Dies ist ein gutes Zeichen, sofern es darauf hinweist, dass nun wieder die Praxis am Zuge ist, dort an der konkreten Umsetzung gearbeitet wird und gerade hierdurch das Konzept Sozialraumorientierung seine fachliche Reifung erfährt. Schreitet die Praxis voran, so wird die Theorieentwicklung keine Probleme haben, flankierende Informationen zu liefern und diesen Reifungsprozess zu begleiten. Die interessierte Öffentlichkeit schaut daher heute mit besonderem Interesse auf die mutigen Innovatoren aus der sozialen Praxis, die mit eigenem Engagement und nicht ohne persönliches Risiko die Reichweite und die Grenzen der Sozialraumorientierung für die Soziale Arbeit ausloten.
Es ist das besondere Verdienst der Herausgeber, die mittlerweile entstandene Publikationslücke von Praxisbeispielen zur Sozialraumorientierung erkannt und jene Lücke zum Anlass für einen Sammelband genommen zu haben. In einer Zeit, in der man kaum noch Lust verspürt, einen weiteren uninspirierten Sammelband zur Hand zu nehmen, freut es den Leser besonders, dass hier Form und Inhalt übereinstimmen und tatsächlich in diesem Band relevante Beiträge zum Thema sinnvoll versammelt werden.
Aufbau und Inhalt
- Die einleitenden Beiträge der Herausgeber (Wolfgang Hinte mit der Einleitung sowie Wolfgang Budde und Frank Früchtel zum Überblick über Felder der Sozialraumorientierung) nehmen sich denn auch erfreulich zurück und lassen genug Raum für die anschließenden Praxisberichte. Die gewohnt forschen Formulierungen Hintes, die am besten als motivierender Aufschlag zur Thematik gelesen werden sollten, verdeutlichen dem Leser plausibel die Intention des Sammelbandes. Gerade weil Hinte hier - wie sonst auch - die Position eines streitbaren Protagonisten einnimmt und hierzu an einigen Stellen auf Erfahrungen aus einer intensiven Beratungstätigkeit zurückgreifen kann, fügt sich sein Beitrag sehr gut zu den anschließenden Praxisberichten, die ja ebenfalls von Protagonisten verfasst wurden. Etwas störend ist allerdings die faktische Engführung des Themas, die erst im Laufe der Lektüre deutlich wird: Sozialraumorientierung wird in diesem Band nur als sozialräumliche Jugendhilfe thematisiert, was einen großen Teil des gesamten Handlungskonzepts Sozialraumorientierung (z.B. Altenarbeit, Gemeinwesenarbeit, Sozialarbeitspolitik, lokale Ökonomie) unberücksichtigt lässt. Eine solche thematische Konzentration ist legitim, nur hätte sie besser bereits im Titel vermerkt werden sollen. Im Anschluss an den Beitrag Hintes ist der Beitrag von Budde/Früchtel inhaltlich ambitionierter und versucht eine Überblicksdarstellung. Angesichts des begrenzten Seitenumfangs wird in der Tat ein interessanter Überblick gegeben, nur bleiben hier einige Fragen offen. Insbesondere gilt dies für die illustrierenden Abbildungen, die vermutlich noch nicht der abschließende Stand konzeptioneller Überlegungen sind und die im Text ausführlicher erläutert werden sollten. Betrachtet man beide einleitenden Beiträge zusammen, so ist auffällig, dass beide Beiträge nur bedingt aufeinander abgestimmt sind (so scheinen sich Details bezüglich des Raumkonzepts (S. 13 bzw. S. 27) zu widersprechen) und es mag den notorisch kritischen Leser stören, dass beide Beiträge von einem tiefen Sendungsbewusstsein durchdrungen sind, das grundsätzliche Zweifel an der Sozialraumorientierung - zumindest in der Jugendhilfe - nicht thematisiert.
- Eben jene Zweifelsfreiheit ist auch der dominierende Tenor der folgenden Praxisberichte von Stähr (juristische Grundlagen), Brünjes (Berlin), Volk/Till (Berlin Tempelhof-Schöneberg), Josupeit (Ulm), Stephan (Kreis Nordfriesland), Strohmaier (Stuttgart) und Klausner/Rose/Schätzel/Stehle (Rosenheim). Jene Beiträge stellen nach Ansicht des Rezensenten die besondere Stärke dieses Sammelbandes dar. Bemerkenswert ist vor allem, wie genau die jeweiligen Konzepte referiert werden und anschaulich der tatsächliche Verlauf der Projekte berichtet wird. In der Summe der Beiträge, die vorab in der Regel nur auf einzelnen Tagungen vorgestellt wurden, erfährt der Leser vieles über die tatsächlichen Chancen und Probleme der Sozialraumorientierung im Bereich der Jugendhilfe. Allerdings sollte bei der Lektüre immer bedacht werden, dass hier Praktiker aus der Sozialverwaltung und freien Trägern qua Amt über ihre Arbeit berichten und sich insofern unvermeidlich die Erfolgsgeschichten aneinanderreihen. Von konkreten Rivalitäten, Blockaden und Scheitern ist nur andeutungsweise die Rede, höchstens von "Baustellen" (Brünjes, S. 100ff.), die vielerorts in Gestalt einer prekären Einbindung der freien Träger vor Ort sowie in der unzureichenden Finanz- und Stellensituation der Jugendhilfe existieren. Nach der Überblickslektüre der Praxisbeiträge drängt sich die klärende Feststellung auf, dass die Sozialraumorientierung "einen Rahmen, aber kein Schema" (Jouspeit, S. 145) bietet. Nur vor Ort und im Einzelfall kann über die adäquate Ausgestaltung des Konzepts entschieden werden.
- Im letzten Drittel verlässt der Sammelband im Wesentlichen wieder die Projektperspektive vor Ort und wendet sich konzentriert den methodischen Aspekten der Arbeit zu. Oberthemen sind hier Fragen der fallspezifischen und fallunspezifischen Arbeit (Budde/Früchtel sowie Stephan), der Evaluation (Weißenstein sowie Klausner/Rose/Schätzel/Stehle) und der Aus- und Fortbildung (Litges, Lütringhaus sowie Cyprian/Hammer). Jene dort versammelten Beiträge zeichnen sich durchweg durch einen engen Praxisbezug aus und reichen höchstens in einen mittleren Abstraktionsgrad hinein. Sie sind eine sehr nützliche Ergänzung der obigen Projektreferate und hier können Praxisvertreter und Wissenschaftler vielfältige Anregungen für die eigene Arbeit finden. Voraussetzung für diese Anregungen ist, dass sie sich die Frage stellen, ob und wie diese methodischen Hinweise auf die eigene Arbeit übertragen werden können bzw. was diese Methodik für die Konzeptentwicklung bedeuten könnte. Spätestens hier wird deutlich, dass die Leser nach der Lektüre des Bandes den Großteil der eigenen Arbeit noch vor sich haben. Denn die einzelnen Beiträge rufen geradezu danach, kritisch reflektiert zu werden und in die eigene Arbeit hineinzuwirken.
Fazit
Es bleibt zu hoffen, dass noch mehrere ähnliche Sammelbände mit anderen Praxisbeispielen (gerne auch ohne Fokus auf die Jugendhilfe) folgen werden. Durch jene ergänzenden Bände könnte die Sozialraumorientierung ihrem eigenen Anspruch als eines der zentralen Konzepte Sozialer Arbeit zunehmend gerecht werden kann.
Rezension von
Prof. Dr. Werner Schönig
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Köln
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