Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Dimitré Dinev, Erich Hackl et al.: Tandem. Polizisten treffen Migranten

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 09.03.2007

Cover Dimitré Dinev, Erich Hackl et al.: Tandem. Polizisten treffen Migranten ISBN 978-3-85476-177-8

Dimitré Dinev, Erich Hackl, Alma Hadzibeganovic, Heinz Janisch, Vladimir Vertilib: Tandem. Polizisten treffen Migranten. Literarische Protokolle. Mandelbaum (Wien) 2006. 143 Seiten. ISBN 978-3-85476-177-8. 15,80 EUR. CH: 24,00 sFr.
Weitere Autorinnen: Renate Welsh-Rabady, Christa Zettel. Mit Fotos von Michaela Bruckmüller u.a.. Hrsg. von Susanna Gratzl, Maria Hirtenlehner und Herbert Langthaler.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Ein schwieriger Dialog

Der Begriff "Tandem" wird im Duden-Fremdwörterbuch mit drei Bedeutungen ausgewiesen: 1., ein Wagen mit zwei hintereinander gespannten Pferden; 2., ein Doppelsitzerfahrrad mit zwei hintereinander angeordneten Sitzen und Tretlagern; 3., zwei hintereinander geschaltete Antriebe, die auf die gleiche Welle wirken. Dieser technologische Begriff wird mittlerweile adaptiert für Initiativen, bei denen ein "Miteinander in der Verschiedenheit" zum Ausdruck kommen soll; z. B. nennt sich das Koordinierungszentrum des Deutsch-Tschechischen Jugendaustauschs im bayerischen Regensburg und tschechischen Pilsen "tandem"; oder als "Tandem" wird die Methode zum Fremdsprachenlernen in zweisprachigen Regionen bezeichnet (z. B. Baskenland, Südtirol). Der "Tandem"- Begriff, der dem hier zu besprechenden Buch zu Grunde liegt, bezieht sich auf eine Initiative, die in Spanien entstand und "Lernen im Kulturkontakt" ermöglichen soll; nämlich das Zusammenbringen und -wirken von jeweils zwei Menschen aus verschiedenen Kulturen und Herkünften, zwischen Einheimischen und MigrantInnen (Tandem®-Fundaziao, Donostia/San Sebastián>.

Inhalt

In den "Literarischen Protokollen" wird ein bemerkenswertes Projekt dokumentiert: "Polizeiliches Handeln in einer multikulturellen Gesellschaft". Ziel des vom österreichischen Innenministerium in Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlerinnen Susanna Gratzl und Maria Hirtenlehner von der Universität Wien, sowie dem Journalisten Herbert Langthaler in Österreich durchgeführten "Interkultur-Tandem" - Vorhabens ist es, längerfristige, lehrgangsorientierte Begegnungen von PolizistInnen mit zugewanderten Menschen zu arrangieren, "um sich über Identität, Kulturunterschiede, Vorurteile, Rassismus auszutauschen". Diese erst einmal distanziert und mit negativer Konnotation anmutende Zielsetzung macht schon deutlich, dass es sich um einen "schwierigen Dialog" handelt. In der Vorbereitungsphase stellte sich nämlich heraus, dass die meisten PolizistInnen, die sich freiwillig für die Teilnahme an dem Projekt gemeldet haben, "kaum oder nie privaten Kontakt mit ZuwanderInnen" gehabt haben; genauso hätten die teilnehmenden Flüchtlinge oder MigrantInnen nie "zuvor entspannte, persönliche Begegnungen mit VertreterInnen der Exekutive gehabt". Empathie, als für jeden gelingenden interkulturellen Kontakt notwendige Bereitschaft und Kompetenz, ist deshalb Voraussetzung für den angestrebten Perspektivenwechsel bei den Tandem-Paaren. Die Seminare für die Polizisten finden in vier Wochen-Blöcken, verteilt über zwei Semester statt. Die Migranten werden nach einem freiwilligen Meldeverfahren ausgewählt, bei gemeinsam arrangierten Zusammenkünften mit den Angehörigen der Exekutive zu Tandem-Paaren zusammen gebracht und an insgesamt fünf Abenden zu je vier Stunden zu Fragen des polizeilichen Alltags, zur Migrationsentwicklung im Land und in Europa, zur rechtlichen und psychologischen Situation der Eingewanderten und Flüchtlingen, zu Aspekten der Menschenrechte und Diskriminierung, Konfliktmanagement und Persönlichkeitsbildung geschult. Diese offiziellen Treffen und die vielfältigen informellen Aktivitäten, die von den "Tandems" im Laufe des mittlerweile siebenjährigen Projektzeitraums entwickelt wurden, die Erfahrungen, Erfolge, aber auch Misserfolge, werden in dem Büchlein emphatisch und mit einfachen Worten dargestellt. Über alle Erfahrungen, Erlebnisse, Herzklopfen, Zweifel und manchmal auch Scheitern könnte man jedoch den Satz schreiben, der sich wie ein roter Faden durch die Texte zieht: "Es gibt das Glück der Begegnung". Die Fragen nach Heimat, Stand- und Fluchtpunkt, letztlich nach der Identität ist vielleicht mit der Aussage eines der Teilnehmer aus dem Migrationsbereich zu charakterisieren: "Ehrlich gesagt, … ich weiß nicht, welche Nationalität ich eigentlich habe. Ursprünglich hatte ich die Staatsbürgerschaft Kaschmirs, dann die pakistanische. Ich hätte im Prinzip auch Anspruch darauf, in Indien zu leben. Ich habe einen österreichischen Pass. Meine Familie stammt aus Kaschmir. Und wir sind, väterlicherseits, auch Afghanen".

Kommentar

Sicherlich: Bei Intiativen wie dem "Interkultur-Tandem" werden erst einmal nur Menschen zusammen kommen, die "guten Willens" sind. Die Frage stellt sich also schon, ob hiermit nicht "Eulen nach Athen" getragen werden; und ob die Wirkungen und Ergebnisse des Projektes ausreichen und tatsächlich für die Zivilgesellschaft wirksam werden können. Was ist mit den anderen, den "Hartgesottenen" auf beiden Seiten? Nun: Einstellungsänderungen und damit die Reflexion von gesellschaftlichen Befindlichkeiten, haben nur dann eine Chance, wenn Initiativen wie diese optimistisch auf den Weg gebracht werden. Killerargumente, wie "Ohne-mich", "Verschleuderung-von-Steuergeldern", oder "Das-bringt-ja-sowieso-nichts", haben hier keinen Platz und keine Berechtigung.

Fazit

Die eindrucksvoll wiedergegebenen Schilderungen der "Tandem-Paare" über ihre persönlichen Erfahrungen bei dem Projekt, die positiven Auswirkungen und Einflüsse auf andere in ihrem jeweiligen Lebensumfeld, machen deutlich, dass Perspektivenwechsel so beginnen kann! Es wäre zu wünschen, dass die österreichische Initiative und die im Buch mitgeteilten Erfahrungen auch in anderen europäischen Ländern aufgenommen werden würden - auch und vor allem in Deutschland! Die "Interkultur-Tandem" - Methode kann durchaus als exemplarischer Versuch gewertet werden, die Zivilgesellschaften in Europa und darüber hinaus zu befruchten, der allzu bequemen und zudem falschen Einstellung - "Da-kann-man-nichts-machen" - eine aktive Kompetenz für ein friedliches Zusammenleben von Menschen in multikulturellen Gesellschaft entgegen zu setzen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular

Es gibt 1678 Rezensionen von Jos Schnurer.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 09.03.2007 zu: Dimitré Dinev, Erich Hackl, Alma Hadzibeganovic, Heinz Janisch, Vladimir Vertilib: Tandem. Polizisten treffen Migranten. Literarische Protokolle. Mandelbaum (Wien) 2006. ISBN 978-3-85476-177-8. Weitere Autorinnen: Renate Welsh-Rabady, Christa Zettel. Mit Fotos von Michaela Bruckmüller u.a.. Hrsg. von Susanna Gratzl, Maria Hirtenlehner und Herbert Langthaler. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4676.php, Datum des Zugriffs 02.12.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht