François Höpflinger, Cornelia Hummel et al.: Enkelkinder und ihre Grosseltern
Rezensiert von Prof. Dr. Harald Uhlendorff, 22.03.2007
François Höpflinger, Cornelia Hummel, Valérie Hugentobler: Enkelkinder und ihre Grosseltern. Intergenerationelle Beziehungen im Wandel. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen (Zürich) 2006. 132 Seiten. ISBN 978-3-03-777041-2. 18,50 EUR. CH: 28,00 sFr.
Die Studie
Der Studie liegt eine Befragung von 685 Jugendlichen im Alter von 12 bis 16 Jahren aus urbanen Regionen der Schweiz zugrunde. Die Jugendlichen beschreiben dabei ihre Beziehung zu 1759 Großmüttern und Großvätern. Daneben wurden 579 dieser Großeltern nach ihrem Verhältnis zum interviewten Enkel befragt, so dass die Sichtweise beider Generationen aufeinander bezogen werden kann. Stellenweise werden diese Interviews durch Daten aus einer repräsentativen Befragung von über 60jährigen Frauen und Männer aus der deutschsprachigen Schweiz ergänzt.
Großvater- und Großmutterschaft - zur Entwicklung eines positiven Altersbildes
Auf der Grundlage familienhistorischer Betrachtungen wird hier die Entwicklung der Großmutter- und der Großvaterrolle diskutiert. Die Autoren vergleichen dazu die heutige, oft idealisierte Einschätzung von Großelternschaft mit früheren Einstellungen gegenüber der ältesten Familiengeneration. Danach ging die Entwicklung zur heutigen Großelternrolle im Rahmen der bürgerlichen Familie zum Teil mit einer "Entmachtung älterer Menschen innerhalb des familialen Autoritätsgefüges" einher. So wurde z.B. der Großvater als Lehrmeister vom Großvater als Märchenerzähler verdrängt.
Sozio-demografischer Hintergrund: Gemeinsame Lebensspanne und Zusammenwohnen der Generationen
Die hohe Lebenserwartung führt heute dazu, dass fast alle Kinder und Jugendlichen wenigstens eine Großmutter oder einen Großvater kennenlernen können. Gleichzeitig ist der Tod einer Großmutter oder noch häufiger eines Großvaters für die Enkel ein schwerwiegendes Lebensereignis, das etwa 75 % der 12- bis 16jährigen bereits widerfahren ist und verarbeitet werden musste. Dass Großeltern mit ihren Enkeln im gemeinsamen Haushalt leben, ist in der Schweiz, wie auch in Deutschland, recht selten. In den USA wohnen dagegen - verursacht durch soziale und ökonomische Probleme - deutlich mehr Großeltern mit ihren Enkelkindern zusammen.
Beziehungen zu Großeltern aus der Sicht der 12- 16-jährigen Enkel
In diesem Abschnitt wird die Perspektive der Enkel empirisch ausgeleuchtet. Hier wird deutlich, dass lebendige Großeltern-Enkel-Beziehungen eine relativ gute körperliche und psychische Gesundheit der älteren Generation voraussetzen. Der Gesundheitszustand ist dabei eindeutig wichtiger als das Alter der Großeltern.
Die meisten Enkel nehmen ihre Großeltern als großzügig und liebevoll, gesellig, humorvoll und tolerant wahr (etwa 70 bis 85 % der Großeltern). Deutlich weniger Großeltern werden als streng oder ungeduldig beschrieben (34 % bzw. 23 %), letzteres trifft eher auf Großväter zu und eher auf Großeltern, die im gleichen Haushalt mit den Enkelkindern leben. Die Enkel erwarten in erster Linie von ihren Großeltern, dass sie "einfach da" sind, wenn sie gebraucht werden. Diese unbestimmten, eher diffusen und offenen Erwartungen ermöglichen einen großen Freiraum für die Ausgestaltung der Großeltern-Enkel-Beziehung. Großeltern sind damit ein bedeutsames familiales Potenzial, auf das sich Enkelkinder in der Regel auch verlassen können.
Besonders zu Großeltern, die im Ausland leben, wünschen sich die Enkel häufigere Kontakte. "Ausländische Großeltern sind Teil der Herkunfts- und Migrationsgeschichte und die Kontakte zu ausländischen Großeltern können bei Teenagern aus Migrantenfamilien ein bedeutsames Element der eigenen Identitätsfindung darstellen."
Die Beziehung zwischen Großeltern und jugendlichen Enkelkindern wird in erster Linie über persönliche Zusammenkünfte und über Kontakte per Telefon (Festnetz) gepflegt. Aber auch Handy, SMS und E-Mail fangen an, eine wichtige Rolle zu spielen. Einige Großeltern bemühen sich technologisch aktuell zu bleiben und lassen sich von ihren Enkeln in den Gebrauch des Internets einführen; dabei scheint der Wunsch nach einer guten Beziehung zu den Enkeln ein wichtiger Ansporn zu sein. Andere Großeltern schenken ihren Enkeln Handygutscheine und sichern damit diese Form der gemeinsamen Kommunikation.
Während persönliche Kontakte und telefonische Festnetzkontakte zwischen Großeltern und Enkeln vor allem dann stattfinden, wenn die Großeltern eine gute Beziehung zu den Eltern pflegen, sind die Großeltern-Enkel-Kontakte über Handy, SMS und E-Mail unabhängig von der Qualität der Beziehung zwischen Großeltern und Eltern, werden also selbständig und ohne Eingreifen der mittleren Generation gepflegt. Hier deutet sich eine neue Eigenständigkeit der Großeltern-Enkel-Beziehung an. Da sich die jüngere Großelterngeneration leichter damit tut, Handy, SMS und E-Mail in die Kontaktaufnahme zum Enkel einzubeziehen, werden diese Kommunikationsformen in den kommenden Jahren vermutlich weiter zunehmen.
Großelternschaft - aus Perspektive der Großeltern
Anhand des umfangreichen Datenmaterials werden in diesem Kapitel die sozialen Netzwerke älterer Menschen und die darin realisierten intergenerationellen Hilfen ausführlich vorgestellt. Besonders interessant erscheinen mir die Auswertungen zum großväterlichen Engagement: Die Qualität von aktueller Großvaterschaft gegenüber 12 - 16jährigen Jugendlichen scheint stark in der gemeinsamen Geschichte der Großvater-Enkelkind-Beziehung verankert zu sein: Wenn sich die Großväter früher stark um das Enkelkind gekümmert haben, ist die Beziehung heute wichtiger und bedeutender für Großväter und auch für die Enkel. Für Großmütter und ihre Enkel ist dieser Zusammenhang nicht so klar. Die Autoren führen das darauf zurück, dass traditioneller Weise zur Großmutterschaft auch Mithilfe bei der Säuglings- und Kleinkindbetreuung gehört, und "wenn Großmütter generell stärker bei der Kinderbetreuung aktiv sind, wird damit auch der Effekt auf das spätere Verhalten geringer. Bei Großvätern fehlt diese sozial-normative Selbstverständlichkeit, und aktives großväterliches Engagement ist stärker eine individuell zu konstruierende Realität. … Sie müssen ihr großväterliches Engagement selbst entwickeln, und je früher es ihnen gelingt, desto besser sind die Chancen für eine positive intergenerationale Beziehung auch gegenüber heranwachsenden Enkelkindern."
Die zwei Generationen im Paarvergleich
Mehr als 90 % der befragten Großeltern-Enkel Paare schätzen die Beziehung übereinstimmend als wichtig ein. Fragt man nach Kontaktwünschen, sind es eher die Großeltern, die gerne noch etwas mehr Nähe wünschen. Während zwischen Großeltern und jugendlichen Enkeln relativ viel über die Schule oder über soziale und moralische Fragen gesprochen wird, gibt es Themen, die von beiden Seiten eindeutig gemieden werden: nämlich die Bereiche Verliebtheit der Jugendlichen, körperlich intime Aspekte und "Geheimnisse" wie Rauchen, Alkoholkonsum und Stehlen. Diese Themen sind für gleichaltrige Freunden reserviert. Die Autoren betonen, dass bei guten Beziehungen zwischen jugendlichen Enkeln und ihren Großeltern wichtige Intimitätsschranken von beiden Seiten respektiert werden.
Jugendliche achten sehr darauf, dass sie ernst genommen werden: So zeigt sich die höchste Beziehungsqualität zwischen alt und jung, wenn die Enkel und die Großeltern ihre Ansichten gegenseitig anerkennen und wertschätzen. Großeltern stehen damit vor der Aufgabe, gemeinsam mit ihren Enkeln eine immer mehr partnerschaftliche Gesprächs- und Diskussionskultur aufzubauen.
Am Ende des Buches sagen die Autoren voraus, dass wegen Geburtenrückgang und hoher Lebenserwartung immer mehr Großeltern auf immer weniger Enkel treffen werden. Auch wird Großelternschaft für viele Menschen nicht mehr so selbstverständlich sein wie in den vergangenen Jahrzehnten. Hier stellt sich die Frage, wie fehlende familiale Generationenbeziehungen in Zukunft durch andere Formen intergenerationaler Kontakte ergänzt werden können (z.B. durch Wahlgroßelternschaft oder durch "Senioren im Klassenzimmer"; Jacobs, 2006).
Diskussion
In der Beziehung zum Enkel ergeben sich einige Unterschiede zwischen Großmüttern und Großvätern, wobei sich die Großmütter durchschnittlich etwas stärker engagiert zeigen. Ein vergleichbarer Unterschied tritt auf, wenn man die mütterliche mit der väterlichen Verwandtschaftslinie vergleicht: Großeltern mütterlicherseits sind engagierter als Großeltern väterlicherseits (s.a. Höpflinger & Hummel, 2006). Diese Unterschiede sind nicht sehr ausgeprägt, vielleicht zeigt sich darin bereits eine neue Großväterlichkeit wie sie nach einer nun schon jahrzehntelang andauernden Veränderung der Vaterrolle zu erwarten wäre (z.B. Matzner, 1998). Insgesamt halte ich es für ein besonderes Verdienst des vorliegenden Buches, dass die Großväter hier gleichberechtigt mit den Großmüttern betrachtet wurden. Oftmals beschränken sich die wissenschaftlichen Betrachtungen leider auf die Großmütter.
Durch die Befragung der Enkel ist die überaus wichtige Rolle der Gesundheit der Großeltern für die Ausgestaltung der Enkel-Großeltern-Beziehung deutlich geworden. Dieser Zusammenhang wird immer dann unterschätzt, wenn nur Großeltern befragt werden, insbes. weil vorwiegend gesunde Großeltern an wissenschaftlichen Untersuchungen teilnehmen (z.B. in der ansonsten sehr anschaulichen und verdienstvollen deutschen Studie von Herlyn et. al., 1998; s.a. Uhlendorff, 2003). Gleichzeitig führt die Befragung von Enkelkindern dazu, weniger sozial erwünschte Antworten zu erhalten, weil Enkel, im Vergleich zu Großeltern, nicht die Adressaten einengender Rollenerwartungen sind.
Aus einer alterspsychotherapeutischen Perspektive erscheint mir besonders wichtig, dass sich die ältere Generation mit den "Entwicklungsaufgaben des hohen Lebensalters" (z.B. Lang & Baltes, 1997) auseinandersetzt. Hinsichtlich der Beziehung zum Enkel heißt das, sich immer wieder auf die wachsenden Potenziale des Enkels einzustellen und eine zunehmend gleichberechtigte Gesprächskultur anzuerkennen. Eine im rezensierten Buch eingangs zitierte Großmutter beschreibt das wie folgt: "Großmütter und Enkelkinder haben, wenn sie beisammen sind, immer das gleiche Alter! Das heißt Großmütter passen sich immer dem Alter der Enkelkinder an". Bedenkt man, dass soziale Netzwerke mit zunehmendem Alter deutlich familienorientierter werden, dann ist es sehr gut nachvollziehbar, dass Großeltern viel Konzentration und Energie in die Beziehung zum Enkel einbringen.
Fazit
Zusammengenommen kann ich dieses systematisch aufgebaute und verständlich geschriebene Buch guten Gewissens weiterempfehlen. Dem Leser werden vielfältige und gut nachvollziehbare Analysen auf der Grundlage einer sorgfältig ausgeführten empirischen Untersuchung angeboten. Besonders gut hat mir persönlich gefallen, dass die Autoren immer wieder soziologisch, entwicklungspsychologisch oder auch aktuell bedeutsame Aspekte herausgreifen und ihre Daten zu diesen Themen vertieft ausleuchten und diskutieren.
Literatur
- Herlyn, I. et al. (1998). Großmutterschaft im weiblichen Lebenszusammenhang. eine Untersuchung zu familialen Generationsbeziehungen aus der Perspektive von Großmüttern. Pfaffenweiler: Centaurus.
- Höpflinger, F. & Hummel, C. (2006). Heranwachsende Enkelkinder und ihre Großeltern. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 39, 33-40-
- Jacobs, T. (2006). Dialog der Generationen: Leben, Gesellschaft, Schule. Baltmannsweiler: Schneider.
- Lang, F. & Baltes, M. M. (1997). Brauchen alte Menschen junge Menschen? Überlegungen zu den Entwicklungsaufgaben im hohen Lebensalter? In L. Krappmann & A. Lepenies (Hrsg.), Alt und Jung: Spannung und Solidarität zwischen den Generationen. Frankfurt/Main: Campus
- Matzner, M. (1998). Vaterschaft heute: Klischees und soziale Wirklichkeit. Frankfurt/Main: Campus.
- Uhlendorff, H. (2003). Großeltern und Enkelkinder: Sozialwissenschaftliche Perspektiven und Forschungsergebnisse hinsichtlich einer selten untersuchten Beziehung. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 50, 111-128.
Rezension von
Prof. Dr. Harald Uhlendorff
Psychologischer Psychotherapeut
apl. Prof. am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Potsdam
Tätigkeitsfelder: Gleichaltrigenbeziehungen von Kindern und Jugendlichen, Erziehung in Schule und Familie, Entwicklung im höheren Erwachsenalter, psychische Belastungen im Beruf
Es gibt 10 Rezensionen von Harald Uhlendorff.
Zitiervorschlag
Harald Uhlendorff. Rezension vom 22.03.2007 zu:
François Höpflinger, Cornelia Hummel, Valérie Hugentobler: Enkelkinder und ihre Grosseltern. Intergenerationelle Beziehungen im Wandel. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen
(Zürich) 2006.
ISBN 978-3-03-777041-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4702.php, Datum des Zugriffs 09.10.2024.
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