Stefan Weber: Das Google-Copy-Paste-Syndrom
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 27.03.2007
Stefan Weber: Das Google-Copy-Paste-Syndrom. Wie Netzplagiate Ausbildung und Wissen gefährden.
dpunkt.verlag
(Heidelberg) 2007.
166 Seiten.
ISBN 978-3-936931-37-2.
D: 16,00 EUR,
A: 16,50 EUR,
CH: 28,00 sFr.
Reihe: Telepolis.
Thema
Der Einsatz von so genannten "Neuen Medien" hat die Lernkultur unserer Wissensgesellschaft fundamental beeinflusst. Nicht immer mit den erhofften Resultaten: "Examensarbeit in fünf Minuten. Das Kopieren wissenschaftlicher Arbeiten aus dem Internet wird zum Sport", titelte Die Zeit (50/2001) beispielhaft für weitere Stimmen in den Netz- und Printmedien. Längst stellen auch für Hochschulen die Internet-Plagiate mehr als nur Ärgernisse dar.
So kommt Stefan Webers Buch in der Thematik nicht unvorhergesehen - in der Schlussfolgerung ist es allerdings radikaler: Webers These zufolge ist die Qualität des Wissens in Schule und Hochschule durch Text-Klau, vor allem über das Internet, ernsthaft gefährdet. Es verfestige sich ein unseliger Kreislauf, der von fehlendem Unrechtsbewusstsein auf der einen und mangelnder Problemwahrnehmung auf der anderen Seite gestützt werde. Dabei betreffe das Problem nicht nur Referate, sondern auch Diplomarbeiten und Dissertationen. Und was, wenn die so graduierten Plagiatoren später selbst Methoden wissenschaftlichen Arbeitens an Studierende weitergeben sollen?
Autor
Stefan Weber, Jahrgang 1970, ist habilitierter Medienwissenschaftler an der Universität Salzburg und hat bereits mehrere Bücher zur Medientheorie und Journalistik verfasst. Webers Biographie macht das besondere Verhältnis zur Buchthematik deutlich: Wurde seine Dissertation doch selbst mehrere Male - zum Teil recht ausgiebig in einer anderen Doktorarbeit - plagiiert. In den vergangenen Jahren hat sich Stefan Weber als "Plagiatsjäger" einen Ruf erworben. In der Hochschulszene ist er für seinen provokanten Stil im Umgang mit Kolleg/innen und Studierenden bekannt, der für rege Diskussionen sorgt.
Aufbau und Inhalt
Nach einigen prophylaktischen Hinweisen zur Lektüre des Buches beginnt das Buch mit dem kurzen zweiten Kapitel, das betitelt ist mit: "Ein Verdacht". Eigentlich ist es mehr eine Feststellung, von der Weber zu überzeugen sucht: Dass wir uns bereits mitten in einer "Textkultur ohne Hirn" befänden (S. 3). Schuld an dieser Misere ist dem Autor zufolge das "Google-Copy-Paste Syndrom" (kurz: GCP): Informationen werden dabei im Internet „ergoogelt“ und dann - zumeist oft ohne Kenntlichmachung der Quelle - in neue Texte kopiert. Weber möchte zeigen, dass es sich um eine gängige Praxis handelt, die im Einzelfall dreister angewendet wird als gemeinhin möglich scheint.
Mit den systematischen Grundlagen des Quellenproblems im Internet setzt sich dann Kapitel drei: "Vorboten" auseinander. Zunächst rückt Weber zehn als "Mythen" bezeichnete Paradigmen der Medienwissenschaft zurecht. Meiner Ansicht nach muss dieser Rundumschlag aufgrund seiner Kürze schon oberflächlich ausfallen, wenngleich auch ein Körnchen Wahrheit in den Details stecken mag. Etwa, wenn der Begriff "konstruktivistisches Lernen" auf Banalitäten reduziert wird. Dem entgegen halte ich konstruktivistisches E-Learning zum Beispiel für einen ambitionierten und noch nicht ganz ausgereizten Ansatz.
Anschließend unterstellt Weber, dass eine unbekannte - aber für den Autor keineswegs zu vernachlässigende - Zahl Studierender die Suchmaschine Google als alleiniges Recherchewerkzeug benutzt: Was erstens zu oberflächlichen Ergebnissen führe. Zweitens werde die Recherche auf diese Weise häufig zu Wikipedia umgeleitet. Weber illustriert anschaulich anhand unterschiedlicher Fälle, wie verbreitet seiner Meinung nach unbelegte Zitatübernahmen aus Internetquellen in Journalistik und Studium sind. Ebenso anschaulich legt der Autor das Quellenproblem von Wikipedia dar und begründet seine These, wonach Textplagiate durch das System dieser Online-Enzyklopädie geradezu begünstigt werden (S. 31).
Das knapp achtzigseitige vierte Kapitel widmet sich dann der "Austreibung des Geistes aus der Textproduktion". In diesem fast eigenständigen Hauptteil der Veröffentlichung geht es um Plagiate im engeren Sinne. Weber trägt hier unzählige Details und Aspekte des internetbasierten Plagiatproblems zusammen. Er arbeitet anhand verschiedener Quellen zunächst Kriterien und Typologien heraus. Spannend sind die Kennzahlenzum Plagiarismus an Universitäten: Weber zieht mehr oder weniger sorgfältig recherchierte Studien (s.u.) des In- und Auslands zu diesem Thema heran, die er als Untermauerung seiner Vermutung deutet, wonach etwa dreißig Prozent aller Studierenden Plagiarismus in unterschiedlichem Umfang betreiben. Selbst Wissenschaftler seien vom Text- und Ideen-Klau nicht ausgeschlossen, wenngleich hierzu weniger empirische Daten vorlägen.
Unter dem Stichwort "Plagiate n-ter Ordnung" zeigt Weber dann auf, wie selbst plagiierte Internetquellen aus Referatsbörsen immer wieder Vorlagen für neue Plagiate abgeben.
Im weiteren Verlauf spickt Weber seinen Text mit besonders schweren und kuriosen Fällen und wehrt sich gegen eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung des Plagiarimus.
Strukturiert stellt Weber die Ursachen einer GCP-Kultur dar: Neben meines Erachtens durchaus bedenkenswerten Aspekten bemüht der Autor leider auch Klischees wie die allgemein abnehmende Lesekompetenz oder die zunehmende Unfähigkeit zur Konzentration auf Texte. Interessant ist allerdings, dass er auch den Begründungen der Plagiatoren selbst Raum gibt.
Wenn Weber anschließend mit Lösungsansätzen aufwartet, dann bringt er eine Reihe von Vorschlägen, die im Vergleich zur Ursachenzuschreibung etwas durchdachter und weniger offensiv wirken: Angefangen bei Hochschul-Richtlinien, über den Einsatz von Antiplagiatssoftware und Aufklärungsarbeit bis hin zur Einrichtung von Strukturen im akademischen Betrieb. Insgesamt macht dieser Abschnitt konstruktive Vorschläge zum Herangehen an das komplexe Problem.
Das fünfte Kapitel: "Textkultur ohne Hirn statt Global Brain" führt dann leider wieder vom eigentlichen Thema weg und gerät zu einer globalen Abrechnung mit den Kulturwissenschaften. Von der Schmähung der SMS-Kultur über den Vorwurf trivialer "Mickymausforschung" kommt auch das Bullshit-Konzept Harry G. Frankfurts ausgiebig zur Anwendung. Zugegeben: Manche der von Weber zitierten Sätze haben Kritik verdient. Kernige Äußerungen wie: "Copy/Paste als Reaktion auf Bullshit-Diskurse, auf gut Deutsch: die Verdopplung der Scheiße" (S. 147) tragen vielleicht mehr zur Profilierung des Autors als zur Sache bei.
Zielgruppe
Das Buch richtet sich mit seiner Google-Copy-Paste-Problematik ganz besonders an Lehrkräfte in Schule und Hochschule (und an Verantwortliche dort), ferner an Medienpädagog/innen, Medien- und Sozialwissenschaftler/innen. Es dürfte aber auch von Studierenden und interessierten Laien mit Gewinn gelesen werden.
Diskussion
Bezogen auf die zentrale These seines Buches, das Google-Copy-Paste-Syndrom, hat Weber meines Erachtens eine ernstzunehmende Herausforderung für Schule und Hochschule skizziert. Der Autor stellt die Mechanismen und Folgen einer Monokultur der Recherchewerkzeuge und -techniken nachvollziehbar dar.
In hauptsächlichen Punkten der Analyse möchte ich Weber zustimmen: Zwar dürfte auch im „vordigitalen Zeitalter“ geschummelt worden sein. Doch die breite Verfügbarkeit immer mehr digitaler Textquellen eröffnet dem bequemen und schnellen Kopieren entsprechend viele Gelegenheiten. Die von Weber bemängelte Vergabe von Hausarbeits-Standardthemen, Unwissenheit auf Seiten der Lehrkräfte und mangelndes Unrechtsbewusstsein auf Seiten der Täter/innen tun ihr Übriges dazu. Hier gilt es allerdings nicht, alle Studierenden in Generalverdacht zu nehmen, wogegen sich der Autor meiner Meinung nach nicht ausreichend verwahrt. Überhaupt halte ich es auch aufgrund der unterschiedlichen Plagiats-Typologien und Umfelder für sehr schwierig, eine einheitliche und plastische Zahl (z.B. "30%") zur Delinquenzrate Studierender beispielsweise gewinnen zu wollen. Viel wichtiger ist es, das Problem als weitreichend zu erkennen und auf eine „integere“ Textkultur angesichts des Internet hinzuarbeiten: Das Medium ist eben doch die Botschaft, wie McLuhan einst behauptet hat. Und Weber hat Möglichkeiten aufgezeigt, diese Botschaft mitzugestalten. Allerdings verpackt der Autor seine Darstellung teilweise sehr provokativ, was dem Anliegen des Sensibel-Machens meinem Empfinden nach nicht immer zuträglich ist. Allerdings möchte ich Teile des streckenweise polemischen Tons einem Autor zugute halten, der selbst mehrfach Opfer des Plagiarismus geworden ist und sich zweitens als Publizist am Markt profilieren will: "Klappern gehört zum Handwerk".
Anders zu bewerten sind jedoch die Klischees, derer sich Weber anscheinend gern bedient, zum Beispiel im Bereich der Ursachenforschung: Schuld seien die mangelnde Lesekompetenz, der Technik-Overflow, Faulheit, Dummheit, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, usw. Dies mag im Einzelfall zutreffen, wahrscheinlich aber nicht in der Fülle und für alle Studierenden zugleich. Zumal diese Thesen gar nicht empirisch gesichert werden, finde ich es umso bedenklicher, wenn im Resümee auf Seite 157 praktisch der Anschein erweckt wird, es handele sich um überprüfte Aussagen.
Pikanterweise liefert Weber unfreiwillig selbst ein Beispiel dafür, wie schnell so genannte "Second-Order-Effekte" entstehen. Ich überprüfte ein Internet-Zitat auf Seite 50, welches eine Plagiats-Studie der Uni Münster erwähnt (die Webers These untermauert). Der von Weber gegebene Literaturnachweis führtallerdings nicht zur Internetressource der Studie selbst, sondern nur zu ihrer knapp dreizeiligen Erwähnung in einem Artikel bei de.internet.com (Dieser Anbieter hat den Artikel und Wortlaut von focus.de übernommen.).
Abermals weist Weber auf diese Studie auf Seite 55 hin und hebt deren Aktualität hervor. Anhand der Literaturnachweise entsteht allerdings der Eindruck, dass der Autor diese Studie nur aus der sehr knappen Zusammenfassung bei de.internet.com rezipiert hat. Eine weitere Plagiats-Studie der Uni Bielefeld, die meinen Recherchen zufolge ausführlich im Internet dokumentiert ist, zitiert Weber aus einer Tageszeitung.
Fazit
Weber hat ein ebenso anregendes wie provozierendes Buch geschrieben. Wer beim Lesen genug Abstand zu seinem teilweise polemischen Stil und dem Hang zu Klischees wahren kann, der erhält eine interessante und engagierte Einführung. Plagiarismus ist eine ernstzunehmende Thematik, für die sich meiner Meinung nach alle (Hochschul-) Lehrkräfte und Studierende, ja eigentlich alle Personen, die das Internet als Informationsmedium verwenden, ein Problembewusstsein erwerben sollten.
Und wer sich der Perspektive des Autors nicht immer ganz anschließen mag, der bekommt zumindest genügend Stoff für kontroverse Diskussionen…
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 27.03.2007 zu:
Stefan Weber: Das Google-Copy-Paste-Syndrom. Wie Netzplagiate Ausbildung und Wissen gefährden. dpunkt.verlag
(Heidelberg) 2007.
ISBN 978-3-936931-37-2.
Reihe: Telepolis.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4723.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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