Marjory Gordon: Handbuch Pflegediagnosen
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Schilder, 14.04.2014

Marjory Gordon: Handbuch Pflegediagnosen. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2013. 576 Seiten. ISBN 978-3-456-84415-2. 34,95 EUR. CH: 48,90 sFr.
Autorin
Die Autorin dieses Handbuchs zu Pflegediagnosen ist die bekannte amerikanische Pflegewissenschaftlerin Marjory Gordon, die wegweisend bei der Entwicklung von Pflegediagnosen und Pflegediagnostik in der Profession Pflegewissenschaft ist. Sie war beim Aufbau der nordamerikanischen Pflegediagnosenvereinigung International (NANDA International) beteiligt und stellte deren erste Präsidentin. Sehr bekannt ist die von ihr entwickelte Typologie der funktionellen Gesundheitsverhaltensmuster, die auch die Weiterentwicklung der NANDA-I-Klassifikation maßgeblich mit beeinflusst hat.
Entstehungshintergrund
Mit dieser Publikation liegt die mittlerweile 5. Auflage dieses in Deutschland als eines der zentralen Bücher zu Pflegediagnosen bekannten und weit verbreiteten Handbuchs vor. Dieser deutschsprachige Ausgabe liegen die 11. und 12. Auflage der amerikanischen Originalpublikation „Manual of Nursing Diagnosis“ zugrunde. In der deutschen Ausgabe wird dieses Handbuch von Jürgen Georg und Silvan Schmid herausgegeben. Es bezieht sich auf die vorletzte Version der NANDA-International Pflegediagnosen 2009-2011.
Aufbau und Inhalt
Das Handbuch ist anhand der nachfolgenden Abschnitte gegliedert:
- Geleitwort zur deutschsprachigen Ausgabe
- Vorwort
- Hinweis zum Gebrauch des Handbuchs für unterschiedliche Verwertungszwecke und zum Finden von Pflegediagnosen
- Danksagung des Verlages Jones & Bartlett
- Zum Gebrauch des Handbuchs
- Anmerkung
- Typologie funktioneller Gesundheitsverhaltensmuster
- Richtlinien für das Pflegeassessment nach funktionellen Gesundheitsverhaltensmustern
- Einsatz diagnostischer Kategorien (bzw. Pflegediagnosen) in der klinischen Praxis: Pflegediagnosen und -maßnahmen im Rahmen des Pflegeprozesses
- Pflegediagnostische Kategorien
- Anhang.
Nach einer Einführung in den Aufbau und die Logik des vorliegenden Handbuchs sowie in den Gegenstandsbereich der Pflegediagnostik und der Pflegediagnosen erläutert Marjory Gordon in dem Abschnitt Typologie funktioneller Gesundheitsverhaltensmuster die von ihr entwickelte konzeptionelle Grundlage von Pflegediagnosen, die zur Organisation des Pflegeassessments und als Klassifikation zur Ordnung von Pflegediagnosen fungiert. Zunächst werden die von Gordon selbst als Pflegemodell bezeichneten funktionellen Gesundheitsverhaltensmuster (fGVM) beschrieben, die jene Muster bezeichnen, die aus der Interaktion zwischen Patient und Umfeld erwachsen (S. 36) und als Ausdruck biopsychosozialer Integration zu verstehen sind. Pflegediagnosen bezeichnen „in ihrer Funktion beeinträchtigte, gestörte und oder dysfunktionale Gesundheitsverhaltensmuster, [die] im Laufe einer Krankheit auftreten, aber auch ihrerseits zu Krankheit führen“ können. Pflegefachpersonen schließen auf das Vorhandensein von Pflegediagnosen, indem sie Pflegeassessmentdaten hinsichtlich einer oder mehrerer der folgenden Punkte vergleichen:
- „die individuellen Ausgangswerte des Patienten,
- etablierte Normen für bestimmte Altersgruppen und
- kulturelle, soziale [entwicklungsbezogene, physiologische, psychische] oder andere Normen“ (S. 36-37).
Alle elf der folgenden fGVM werden dann inhaltlich kurz definiert und beschrieben:
- Wahrnehmung und Umgang mit der eigenen Gesundheit,
- Ernährung und Stoffwechsel,
- Ausscheidung,
- Aktivität und Bewegung,
- Schlaf und Ruhe,
- Kognition und Perzeption (Denken und Wahrnehmen),
- Selbstwahrnehmung und Selbstbild,
- Rollen und Beziehungen,
- Sexualität und Reproduktion,
- Bewältigungsverhalten und Stresstoleranz,
- Werte und Überzeugungen.
Auf dieser Basis widmet sich Marjory Gordon den Richtlinien für das Pflegeassessment nach den funktionellen Gesundheitsverhaltensmustern. Auf der Basis der Darstellung des Pflegeassessments, das nach Gordon die zwei Phasen Pflegeanamnese (subjektive Datenerhebung) und körperliche Untersuchung (objektive Daten) umfasst, werden Bögen für das Pflegeassessment zur systematischen Informationsgewinnung bei den folgenden Zielgruppen erörtert: Erwachsene, Säuglinge oder Kleinkinder, Familie, Gemeinde oder soziale Gemeinschaften und Akutkranke. Die Pflegeassessmentbögen werden jeweils kurz begründet und dann strukturiert nach den fGVM ausgeführt, wobei die Fragen jeweils nach Anamnese und Untersuchung getrennt werden. Diese Pflegeassessmentbögen enthalten die Fragen zum Screening und zur Erhebung grundlegender Pflegedatensätze auf der Basis der fGVM und können nach Gordon (S. 45) „in jedem Fachgebiet, für jede Altersgruppe und an jedem Punkt des Kontinuums zwischen Gesundheit und Krankheit“ Verwendung finden. Sie sollen zu Daten führen, die wiederum auf Probleme oder potentielle Probleme bzw. funktionale oder dysfunktionale GVM verweisen, die dann als diagnostische Hypothesen die weitere Diagnosefindung lenken.
Das Kapitel Einsatz diagnostischer Kategorien (bzw. Pflegediagnosen) in der klinischen Praxis: Pflegediagnosen und -maßnahmen im Rahmen des Pflegeprozesses enthält allgemeine knappe Hinweise zum Vorgehen bei der Diagnostik im Pflegeprozess. So wird die Bedeutung diagnostischer Kennzeichen oder Symptome und pflegediagnostischer Kategorien und Begriffe geklärt (S. 79-83). Gordon führt weiter die Nutzung von Pflegediagnosen in der Dokumentation und Kommunikation, im Rahmen von Konsultationen, im Qualitätsmanagement, zur Bestimmung von Pflegekosten, zur Kostenerstattung in der Pflege und Personalplanung, zur Ausrichtung des Case Managements, als mögliche Beiträge zu Critical Pathways, als Schwerpunkte klinischer Pflegeforschung und Theorieentwicklung mittlerer Reichweite aus. In einem zweiseitigen Diagramm werden der Diagnostische Prozess und Elemente des Pflegeprozesses veranschaulicht (S. 84-85). Der Abschnitt Pflegedokumentation - Format und Beispiel – skizziert die Bedeutung der Dokumentation in der Pflege, geht kurz auf die problemorientierte Patientenakte als weit verbreitetes Dokumentationsformat ein und erläutert deren Inhalte (S. 86-87). Es folgen problemorientierte Dokumentationsrichtlinien und Prüfkriterien sowie Vorgaben für die Dokumentation und den diagnostischen Prozess. Die für die Abbildung des Pflegeprozesses erforderlichen Informationen in der Benennung des Problems, des Pflegeziels und des Pflegeverordnungsbereichs werden erörtert. Außerdem werden Kriterien für die Formulierung diagnostischer Aussagen, Ergebnisaussagen (Pflegeziel) und zur Pflegeverordnung dargelegt (S. 88-90). Im Rahmen eines Fallbeispiels wird die Anwendung von Pflegediagnosen veranschaulicht (S. 90-100).
Der umfangreichste Abschnitt dieses Handbuchs enthält auf den Seiten 101-518 die Darstellung der Pflegediagnostischen Kategorien innerhalb der jeweiligen funktionellen Gesundheitsverhaltensmuster sowie der konkreten Pflegediagnosen innerhalb dieser. Das einzelne Gesundheitsverhaltensmuster wird jeweils mit einer Übersicht der in ihr enthaltenen diagnostischen Kategorien mit der Angabe der entsprechenden Seitenzahl eingeleitet. In einer Fußnote im Inhaltsverzeichnis (S. 7) wird vom deutschen Herausgeber darauf hingewiesen, dass es sich bei den mit fetter Schrift gekennzeichneten Diagnosen um offiziell von der NANDA International angenommene Diagnosen handelt, wohingegen die mit normaler Schrift formatierten entweder von Marjory Gordon oder von den Herausgebern ergänzte nicht offizielle NANDA-I Pflegediagnosen sind. Der entsprechende Hinweis der Herausgeber (S. 7) im Inhaltsverzeichnis verdeutlicht, dass diese von NANDA-I noch nicht überprüft wurden, jedoch in der klinischen Praxis für nützlich erachtet wurden.
Dann folgen jeweils die einzelnen Pflegediagnosen-Konzepte. Diese enthalten den jeweiligen Pflegediagnosentitel, deren englische Übersetzung, alphanumerischer Kode, insofern vorhanden das Evidenzniveau (Level of Evidence, LOE), welches das Ausmaß des der jeweiligen Pflegediagnose zugrunde gelegten wissenschaftlichen Nachweises angibt, die Zuordnung in der Domäne und Klasse bzw. bei Mehrfachzuordnung zu den entsprechenden Domänen und Klassen der Taxonomie II. Dann wird der vorliegende Diagnosetyp ausgewiesen und die Zuordnung zum jeweiligen funktionellen Gesundheitsverhaltensmuster herausgestellt. Auf die Definition der jeweiligen Pflegediagnose folgen deren Elemente in Abhängigkeit des jeweiligen Diagnosetyps im PR- oder PES-Format: Risikofaktoren (R) für Risikopflegediagnosen, Einflussfaktoren (E) und Kennzeichen oder Symptome (S) für aktuelle Pflegediagnosen. Eine Gesundheitsförderungs-Pflegediagnose enthält als Elemente neben dem Pflegediagnosentitel Einflussfaktoren (E) und Symptome und Merkmale (S). Demgegenüber verhält sich die Architektur einer Syndrom-Pflegediagnose je nach ihrem Status: als aktuelles Syndrom, wie beim Vergewaltigungssyndrom, weist sie eine PES-Struktur und als ein eine Gefahr anzeigendes Syndrom, wie bei der Gefahr eines Immobilitätssyndroms, eine PR-Struktur auf. Im letzten Fall werden entsprechend potentielle Komplikationen aufgelistet. Bei ergänzten inoffiziellen Pflegediagnosen fehlt folgerichtig die Zuordnung zur Taxonomie II. Diese Elemente werden mitunter durch in eckige Klammern gesetzte Angaben der deutschen Herausgeber ergänzt. Außerdem enthält jedes Pflegediagnosenkonzept eine Angabe zum Pflegeergebnis (Outcome), das der Nursing Outcome Classification (NOC) entlehnt ist. Bei fehlenden Angaben findet sich der Hinweis „zu bearbeiten durch die NANDA-I“ (S. 106). Bei einigen Pflegediagnosentitel, wie Gesundheitsmanagementdefizit, findet sich der Hinweis „zu spezifizieren“ (S. 109). Da es sich bei den Pflegediagnosen um eine in der Veränderung begriffene Klassifikation handelt, werden in Fußnoten Veränderungen ausgewiesen, etwa in Form von Namensänderungen von Pflegediagnosen durch die NANDA-I (S. 106, 107). Auch auf Besonderheiten im Handbuch von Gordon wird hingewiesen: so wird die von NANDA-I in „Unwirksames Management der eigenen Gesundheit“ geänderte Pflegediagnose von Gordon mit der ursprünglichen Bezeichnung und Form weiterhin als „unwirksames Therapiemanagement“ extra aufgeführt (S. 137). Einige Pflegediagnosen, auch die der NANDA-I, wie Gesundheitsmanagement, enthalten als Hauptkennzeichen und als Nebenkennzeichen ausgewiesene Kennzeichen und Symptome und die Ausweisung einer Risikogruppe (z. B. S. 109, S. 116, S. 129, S. 155, 156). Manche Pflegediagnosen, wie Dekubitus (S. 152), werden durch Hinweise im Hinblick auf klinische Leitfäden sowie wie hier die neue Gradeinteilung von Dekubitus mit entsprechendem Literaturhinweis, ergänzt. Die von Gordon ergänzte Diagnose Dekubitusgefahr enthält eine von Gerhard Schröder formulierte Definition (S. 155). Die Diagnosen Intertrigo und Intertrigogefahr werden als vom deutschen Herausgeber Jürgen Georg ergänzte Diagnosen mit einem Literaturhinweis ausgewiesen (S. 173, 174). In der Übersicht auf Seite 149 werden sie jedoch fälschlicherweise als NANDA-I-Pflegediagnosen gekennzeichnet. Einige Diagnosen, wie Schluckstörung oder Verschlechterung des Allgemeinzustands des Erwachsenen, enthalten jeweils nach Gordon und nach NANDA-I getrennt aufgeführte Einflussfaktoren, Kennzeichen und Symptome (S. 186-189, 201). Die Diagnose Aktivitätsintoleranz wird durch eine Klassifikation der Funktionsstufen von Gordon ergänzt (S. 238). Einige Diagnosen enthalten den Hinweis, dass die aufgeführten Risikofaktoren die Überweisung an einen Mediziner erfordern, z. B. bei der Gefahr einer renalen Durchblutungsstörung und der Gefahr einer zerebralen Durchblutungsstörung (S. 250, 251). Wiederum andere Diagnosen fordern eine ärztliche Evaluation, wie z. B. beeinträchtigter Gasaustausch (S. 262). In Fußnoten finden sich weiter Hinweise zu früheren Diagnosebezeichnungen oder auch Unterschiede in den Bezeichnungen von Diagnosen, wie die Umbenennung der NANDA-I-Pflegediagnose Soziale Isolation und Soziale Zurückweisung von Gordon (S. 455).
Anhang
Der Anhang enthält ein Glossar wichtiger Begriffe oder Abkürzungen (S. 519-524), das Vorgehen zur Erstellung einer Pflegediagnosen (S. 525-527), ein deutschsprachiges vom Herausgeber Jürgen Georg zusammengestelltes Literaturverzeichnis (S. 528-542), ein Verzeichnis über Fachzeitschriften (S. 543-544), ein Autoren- und Herausgeberverzeichnis (S. 545-547), ein Interview mit Marjory Gordon, was 2005 mit Jürgen Georg und Prof. Dr. Maria Müller-Staub geführt wurde (S. 548-559), ein Verzeichnis weiterführender Pflegeliteratur zu Pflegediagnosen im Verlag Hans Huber (S. 560-562) und schließlich ein Sachwortverzeichnis (S. 563-571).
Diskussion
Dieses in neuer Form und mit der vorletzten Version der NANDA-I-Pflegediagnosen sowie den Ergänzungen durch informelle Pflegediagnosen der amerikanischen Autorin und der deutschen Herausgeber aktualisierte Handbuch, hebt sich von anderen Publikationen über NANDA-I-Pflegediagnosen durch wichtige Hinweise zur Gestaltung des diagnostischen Prozesses, Beispiele zur Anwendung von Pflegediagnosen, Erläuterungen zur Entwicklung und Veränderungen der Klassifikation, einer erweiterten Anzahl von Pflegediagnosen und einem umfangreichen Materialteil von anderen ähnlich gelagerten Publikationen ab. Es ist damit sowohl für Lernende und Lehrende in der akademischen Pflege, wie auch für Anwender in der Pflegepraxis, geeignet. Sowohl die thematische Ordnung der Pflegediagnosen nach den fGVM als auch die alphabetische Sortierung, ermöglichen ein schnelles Auffinden der einzelnen Pflegediagnosen. Die Pflegediagnostischen Konzepte selbst sind optisch gut strukturiert. Auch die Ergänzung um weitere Komponenten wie zum Outcome oder zur Risikogruppe, können die Verwendung des Handbuchs in der Pflegepraxis erleichtern.
Doch bei all diesen positiven Befunden bleiben auch offene Fragen:
Gordon verwendet bekanntermaßen in Abweichung von NANDA-International zur Klassifikation der Pflegediagnosen nicht die offizielle NANDA-Taxonomie, sondern die von ihr entwickelten funktionellen Gesundheitsverhaltensmuster. Hier stellt sich die Frage, wo deren Konstruktionsprinzipien und die Zuordnungsregeln der Pflegediagnosen zu den Pflegediagnostischen Kategorien begründet und transparent dargestellt sind. Dem zentralen Grundlagenwerk: Gordon, M., Bartholomeyczik, S. (2001) „Pflegediagnosen, Theoretische Grundlagen“, Urban & Fischer, München, können zwar die konzeptionellen Grundlagen entnommen werden. Doch wäre auch für dieses Handbuch mit den aktuellen Änderungen zum besseren Verständnis eine griffig zusammenfassende Grundlegung nützlich. Insbesondere für Pflegewissenschafler/innen und an der Weiterentwicklung der Klassifikation Interessierte wären diese Informationen hilfreich. So fallen Unterschiede in den Zuordnungen der Pflegediagnosen zu den Klassifikationen NANDA-I-Taxonomie II und fGVM auf: beispielsweise ist die Pflegediagnose Blutungsgefahr innerhalb der Taxonomie II der Domäne Aktivität/ Ruhe zugeordnet und dem funktionellen Gesundheitsverhaltensmuster Wahrnehmung und Umgang mit der eigenen Gesundheit. Dies weist auf konzeptionelle Unterschiede innerhalb dieser beiden Klassifikationen hin. Wo sind diese begründet? So ist beispielsweise die in der NANDA-Taxonomie II Domäne Wachstum und Entwicklung einsortierte Pflegediagnose Verzögerte(s) Wachstum und Entwicklung in Gordons fGVM Aktivität und Ruhe sortiert. Doch die Definition dieses fGVM von Gordon (S. 38) lässt einen entsprechenden expliziten Hinweis zum Thema Entwicklung vermissen. Schaut man sich die Zuordnungen der einzelnen entwicklungsbezogenen Pflegediagnosen in den fGVM an, so wird deutlich, dass diese dort unterschiedlichen fGVM zugeordnet sind, neben der besagten etwa Rollen und Beziehungen, wenn die Entwicklungsthematik mit Kommunikation oder sozialen Aspekten gekoppelt ist. Hier scheint zumindest eine Überarbeitung der Definition Aktivität und Ruhe im Hinblick auf die Ergänzung von sich auf die Physis auswirkenden Entwicklungsaspekten angezeigt.
Kleinere Fehler finden sich in der Bezeichnung der Pflegediagnose als Vergewaltigungsreaktion statt -syndrom stumme Reaktion auf Seite 468. Zudem: NANDA-I kennt auch in der betreffenden Auflage von 2010 nur eine Diagnose, nämlich: Vergewaltigungssyndrom. Demzufolge hätten die bei Gordon enthaltenen Pflegediagnosen Vergewaltigungssyndrom: gemischte Reaktion und Vergewaltigungssyndrom: stumme Reaktion normal und nicht fett formatiert werden müssen. Auf S. 465 findet sich hier der Hinweis der Herausgeber, dass die drei Komponenten in dieser Publikation getrennt aufgeführt werden (ohne Spezifizierung, als stumme und als gemischte Reaktion).
Die Hinzufügung weiterer Pflegediagnosen von Gordon selbst, wie Kontraktur- oder Dekubitusgefahr, und von dem deutschen Herausgeber des Buchs Jürgen Georg (Instrumentelles Selbstversorgungsdefizit, S. 291), teilweise mit weiterer Ausarbeitung deutscher Autoren (Dekubitusgefahr, durch Gerhard Schröder) (s. entsprechenden Hinweis in der Fußnote auf Seite 7) hat mehrere Implikationen. Auf der Seite der klinisch-praktischen Verwendung von Pflegediagnosen in der Praxis ergeben sich Vorteile für den Anwender dadurch, diese in der originalen NANDA-Taxonomie fehlenden pflegepraxisrelevanten Pflegediagnosen nicht selbst formulieren zu müssen. Am Beispiel der NANDA-I-Pflegediagnosenkonzepte Gewebeschädigung und Hautschädigung wird deutlich, dass die NANDA-Taxonomie II klinisch relevante Lücken aufweist, die die Ergänzung entsprechender Pflegediagnosen wie Dekubitus erforderlich machen, da diese dekubitusrelevante Schädigungen der Muskulatur, Sehnen und Bänder aussparen, weil sie sich lediglich auf Schädigungen der Schleimhaut, Hornhaut, Haut, subkutanes Gewebe, Epidermis und Dermis beziehen (S. 166-167). Aufseiten der weiteren Entwicklung der NANDA-Taxonomie könnten diese (noch) informellen Pflegediagnosen weitere Anreize zur Aufnahme und Prüfung dieser ergeben. Hier wird im Handbuch darauf hingewiesen, dass diese informellen Pflegediagnosen zur Formalisierung eingereicht werden sollen. Im Hinblick auf die theoretische Bedeutung der NANDA-Klassifikation besteht hingegen bis dahin die Gefahr, dass diese Eigenkreationen zur Verwässerung des Theoriekörpers führen könnten. Pflegediagnosen sollten zukünftig weiter zentral nach den etablierten Regeln entwickelt werden, um die Funktionalität der NANDA-Klassifikation sowohl im klinisch-praktischen wie konzeptionellen Bereich aufrechtzuerhalten. Doch weil sie wichtige klinische Lücken füllen, darf deren Verwendung in der Pflegepraxis nicht bis zu deren Formalisierung aufgeschoben werden.
Fazit
Insgesamt ist damit dieses etablierte Handbuch zu Pflegediagnosen sowohl für Pflegepraktiker in verschiedenster Funktion, für Lehrende und Lernende in den unterschiedlichen Bildungsbereichen als auch für Pflegewissenschafler zu empfehlen.
Rezension von
Prof. Dr. Michael Schilder
Professor für klinische Pflegewissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt
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