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Rainer Treptow (Hrsg.): Katastrophenhilfe und Humanitäre Hilfe

Rezensiert von Dipl.-Theol., Dipl.-Soz.Arb. Kai Herberhold, 28.07.2007

Cover Rainer Treptow (Hrsg.): Katastrophenhilfe und Humanitäre Hilfe ISBN 978-3-497-01896-3

Rainer Treptow (Hrsg.): Katastrophenhilfe und Humanitäre Hilfe. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2007. 207 Seiten. ISBN 978-3-497-01896-3. D: 16,90 EUR, A: 17,40 EUR, CH: 29,70 sFr.

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Thema und Entstehungshintergrund

Die Aufmerksamkeit für "Katastrophenhilfe und Humanitäre Hilfe" - so der Titel des vorliegenden Buches - steigt seit einigen Jahren stetig. (Völker-)Rechtliche, ethische, zivil-militärische, psychologische, medizinische, entwicklungspolitische und katastrophenpräventive Fragen und Konzepte der Humanitären Hilfe werden von den Autorinnen und Autoren ebenso vorgestellt und diskutiert, wie Dilemmata und Konfliktfälle der Beteiligten. Herausgeber ist Rainer Treptow, Professor für Erziehungswissenschaft (Schwerpunkt Sozialpädagogik) an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Das aus der interdisziplinären Vortragsreihe "Humanitäre Hilfe und Katastrophenhilfe - Bilanz und Perspektiven" (Wintersemester 2005/06) im Rahmen des "Studium Generale" hervorgegangene Buch hält, was der Titel verspricht. Es gibt einen guten Überblick aus verschiedenen Perspektiven, die keineswegs harmonisiert werden. In diesem Band sind die überarbeiteten Vorlesungen zusammengefasst sowie zusätzlich die Beiträge von Annette Schmidt und Erik Rattat eingearbeitet.

Aufbau

Das Buch umfasst eine Einführung (7-30), drei auf einander abgestimmte Teile mit zehn Beiträgen, ein Autoren- (193 f.) und Literaturverzeichnis (195-205) sowie ein Sachregister (206 f.). Der Teil I: Recht, Macht und Moral umfasst vier Beiträge (1-4). Der Teil II: Katastrophenmedizin und Traumabewältigung enthält drei Beiträge (5-7). Der Teil III: Armutsbekämpfung, Krisenprävention und Bildung besteht aus drei Kapiteln (8-10).

Katastrophenhilfe und Humanitäre Hilfe - zur Einführung

Rainer Treptow führt in die Gesamtthematik ein, indem er an zurückliegende Katastrophen erinnert (das Erdbeben von Lissabon 1755 und die beiden Weltkriege), die zu "Erschütterungen" (9) des jeweiligen Weltbildes führten, auf die reagiert werden musste. Treptow zeigt verschiedene jüngere Ereignisse auf, in deren Folge humanitäre Einsätze notwendig wurden: z.B. Stürme, Dürren, Beben, die Anschläge in New York und die Elbeflut 2002 oder das Reaktor-Unglück in Tschernobyl 1986. Eine besondere Erschütterung ergibt sich, wenn Helfer selbst zu Opfern werden, "weil die Neutralität selbst der unbewaffneten Helfer von politischen oder militärischen Konfliktparteien nicht anerkannt" wird (12). Es liegt Treptow sichtlich fern, solche Geschehnisse "als eine apokalyptische Grundbedrohung zu verdichten" (14), da dies lediglich Ängste schüre, die letztlich aber weder den Menschen noch dem Thema weiterhelfen.

Eine wichtige und bisher wenig bearbeitete Frage wirft Treptow auf, wenn er konstatiert, dass die Soziale Arbeit zwar stark in der Humanitären Hilfe engagiert sei, sie aber ein "Schattendasein" (20) in den Sozialwissenschaften friste. Hier besteht erhöhter Handlungsbedarf der eigenen Zunft. Damit verbunden ist die Schwierigkeit der "Theoriefähigkeit" Humanitärer Hilfe, die Treptow in einem Exkurs beleuchtet. Auf die Komplexität (Kompetenz- und Finanzierungsfragen, rechtliche, politische und moralische Notwendigkeiten etc.) verschiedener Ebenen der Humanitären Hilfe weist Treptow deutlich mit dem Satz "Hier besteht ein gewisser Orientierungsbedarf" (24) hin.

Die Veränderungen auf dem Gebiet der Humanitären Hilfe beschreibt der Autor treffend mit der "Neuorganisation von Einrichtungen der Katastrophenhilfe", dem "Ausbau von Organen der inneren Sicherheit" sowie der Entwicklung von Qualitätsstandards. Auch die Bundeswehr wurde einer Umorganisation unterzogen, um besser für "so genannte humanitäre Interventionen" (25) gerüstet zu sein. Hier ergeben sich bedenkenswerte Fragen nach "Formen der Zusammenarbeit und der Abgrenzung zwischen Militär und Hilfsorganisationen" (25), die auch in den Artikeln der Autoren Rattat, Lieser, von Pilar und Richter im vorliegenden Sammelband aufgegriffen und aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert werden.

Am Schluss stellt Treptow drei "kritische Anfragen", die auch in den folgenden Beiträgen immer wieder - aus unterschiedlichen Blickwinkeln - eine Rolle spielen: "Humanitäre Hilfe statt Politik?" wirft die Frage nach der Rolle Humanitärer Hilfe im Kontrast zu langfristig angelegter Hilfe und einer weltweiten Wirtschafts- und Außenpolitik auf. "Wird die Humanitäre Hilfe für kriegerische Zwecke instrumentalisiert?" (26) lenkt den Blick auf das Problem zivil-militärischer Zusammenarbeit. Hinter der Frage "Ist der Humanitarismus in der Krise?" (27) verbergen sich die Probleme eines quasi offenen Marktes der Hilfe und der Konkurrenz unter Hilfsorganisationen.

1. Die Stellung der Humanitären Hilfe im Völkerrecht

Hans-Joachim Heintze arbeitet am Institut für Friedenssicherungsrecht und humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum und ist Mitglied des Lehrkörpers des European Network on Humanitarian Action (NOHA). Heintze gibt in seinem Beitrag einen informativen Überblick über das internationale Völkerrecht, die historische Entwicklung der Genfer Abkommen und ihrer Zusatzprotokolle sowie die Auslegung in heutigen Konfliktfällen.

Kriege sind keine "rechtsfreien Räume" (32), die Regelungen in den Zusatzprotokollen von 1977 (ZP I und II: Bürgerkrieg) zu den Genfer Abkommen für Humanitäre Hilfe bieten aber einige "Schlupflöcher" (33). Heintze kommt zu dem Fazit, dass durch diese eine "vorsichtige Verbesserung der Lage Hilfsbedürftiger" (37) erreicht werden konnte. Der Einfluss der Menschenrechte wuchs seither immer weiter, so dass es heute unter Rechtswissenschaftlern nahezu Konsens ist, dass die "Staatengemeinschaft […] eine Verpflichtung [habe], Opfern von Menschenrechtsverletzungen Schutz zu gewähren" (37). Dies wird z.B. durch so genannte "humanitäre Interventionen" (vgl. Somalia und Ruanda in den 1990er Jahren) versucht. Die Intervenierenden müssen dann auch für die Humanitäre Hilfe sorgen, was die Schwierigkeit birgt, dass die Humanitäre Hilfe dann nicht mehr neutral und unabhängig sein kann, insbesondere wenn die Hilfe durch militärische Kräfte selbst geleistet wird. Heintze konstatiert daher 1. eine notwendige intensive Diskussion der Probleme zivil-militärischer Zusammenarbeit und 2. eine "Interventionsmüdigkeit" (38) seit dem Kosovo- Einsatz, aufgrund der Pflicht der intervenierenden Kräfte zur Nachsorge. Dies führte dazu, dass z.B. in Darfur keine Intervention mehr stattfand - mit den bis heute entsetzlichen Folgen für die Bevölkerung.

2. Zwischen Macht und Moral. Humanitäre Hilfe der Nichtregierungsorganisationen

Jürgen Lieser, der Beauftragte für "Caritas international" im Berliner Büro des Deutschen Caritasverbandes und Stellvertretende Vorsitzende des Verbandes Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO), nimmt in seinem Artikel "Spannungsfelder, Konflikte und Dilemmata" (40) Humanitärer Hilfe in den Blick. Lieser schreibt aus seinen eigenen praktischen Erfahrungen heraus einen sehr anschaulichen und differenziert darstellenden Beitrag, in dem er die Chancen der Humanitären Hilfe gerade im Umgang mit Medien und den transportierten Bildern wie auch die eigenen Vorstellungen von Humanitärer Hilfe betrachtet. Speziell widmet er sich den Perspektiven einer zivil-militärischen Zusammenarbeit, die er kritisch prüft. Ebenso sachlich wie informativ beleuchtet er aber auch die vielfältigen Probleme und Grenzen der angesprochenen Bereiche. Die in Deutschland gegenseitig herrschende "Anerkennung und Wertschätzung" (43) von Regierung und NGOs hebt Lieser positiv hervor. Dieses positive Verhältnis sei auf europäischer Ebene leider nicht festzustellen.

Der Autor setzt sich (selbst-)kritisch mit dem Bild des Helfers auseinander. Er sieht einen eindeutigen Zusammenhang mit Politik und Macht, wenn er klar und deutlich formuliert: "wer immer noch glaubt, Humanitäre Hilfe könne politisch neutral sein, quasi im politischen Vakuum agieren, einfach nur Gutes tun […], der ist naiv oder ignorant" (44 f.). Differenziert beschreibt Lieser das Dreiecksverhältnis von Politik, Medien und Hilfsorganisationen, die zur wechselseitigen Stabilität beitragen. Gerade das Bild vom "omnipotenten Helfer" und den "ohnmächtigen, hilflosen Opfern" (46 f.) sei eben nicht korrekt, sondern müsse oft gerade entgegengesetzt gezeichnet werden. Hier sieht der Verfasser auch eine "Anfrage an die Spender und an deren Erwartungen" (48) hinsichtlich der Humanitären Hilfe.

Als wichtige Aufgabe der Humanitären Hilfe beschreibt Lieser die "langfristige Armutsbekämpfung" (49), z.B. nach dem Erdbeben in Mexiko (1985), welches sich sehr positiv auf die "Wohnversorgung und Betreuung von alten Menschen" auswirkte und bis heute die Betroffenen veranlasst, "vom ’gesegneten Erdbeben’ zu sprechen" (50). Anerkannte und praktizierte Qualitätsstandards bei der Kooperation der verschiedenen Träger und der Politik sehr viel stärker "bei der Vergabe öffentlicher Mittel für Nothilfe und Entwicklungshilfe" (51) zu berücksichtigen, ist ihm ein wichtiges Anliegen.

Die Entwicklung "Humanitäre Hilfe in politisch-militärische Strategien einzubinden..." (53), führe zu dem Dilemma, dass humanitäre Organisationen ihrer Aufgabe nicht mehr uneingeschränkt nachkommen können. In einer engen zivil-militärischen Zusammenarbeit sieht er das große Problem einer politischen Instrumentalisierung Humanitärer Hilfe.

3. Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit der deutschen Streitkräfte mit nichtstaatlichen Organisationen bei Friedensmissionen

Oberstleutnant im Generalstab Erik Rattat arbeitet im Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam und befasst sich in seinem Artikel aus der Sicht der Bundeswehr mit zivil-militärischer Zusammenarbeit. Die Ausführungen von Erik Rattat sind kritisch zu betrachten, da es neben den Schwierigkeiten der Zusammenarbeit auf beiden Seiten (vgl. die Beiträge Liesers und von Pilars) momentan an einer ausformulierten "Gesamtstrategie" (68) der Bundeswehr fehlt. Als größtes Problem bleibt die Instrumentalisierung der humanitären Organisationen durch das Militär bzw. die Politik und damit eine Gefährdung der Helferinnen und Helfer und ihres Auftrags, für Betroffene zu agieren.

Rattat vertritt ein praxisgeleitetes Konzept der "zivil-militärischen Zusammenarbeit/Ausland (ZMZ/A)" (64), wenn er sich dafür ausspricht, dass "Duplizitäten im Handeln […] vermieden werden" und Synergiebildung die Zusammenarbeit von teils hoch spezialisierten nichtstaatlichen Organisationen und Streitkräften prägen müsse.

Obwohl der Autor nichtstaatlichen Organisationen zunächst eine unbestrittene Bedeutung bei Friedensmissionen beimisst, lässt Rattat auch keine Zweifel an den Nachteilen, die eine Zusammenarbeit des Militärs mit NGOs mit sich bringe (z.B. Koordinationsprobleme und Verschwendung von Ressourcen).

Die Zusammenarbeit der Bundeswehr mit NGOs sei eher kurzfristig angelegt, so dass es oft nur zu "oberflächlichen Kontakten und einem misstrauischen Nebeneinander" (65) komme. Humanitäre Hilfe sei nämlich für das Militär "nie Selbstzweck", aber für die "vergleichsweise kleine Querschnittsmenge" (67) der Zusammenarbeit seien einheitliche Standards wichtig.

4. Die Aufgaben des Militärs und die Humanitäre Hilfe

Seit 2003 ist Ingo Richter, Professor für Öffentliches Recht, Vorstand der Irmgard-Coninx-Stiftung im Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin. Seine Ausführungen sind äußerst kenntnisreich und bedenkenswert, die neue Strategie der NATO (auch der Bundeswehr) ist sicher kritisch zu betrachten. In Abgrenzung zu Rattat sieht Richter hier zutreffend, ähnlich wie Lieser und von Pilar, eine Gefahr für die Hilfsorganisationen und ihren ureigenen Auftrag der Humanitären Hilfe.

Richter befasst sich in seinem Beitrag intensiv mit der historischen Rolle des Militärs und der Humanitären Hilfe. Er beginnt mit den PRT (= Provincial Reconstruction Teams) in Afghanistan: "alles in allem: Die PRT bauen das Land wieder auf" (71). Was zunächst so positiv klingt, bekommt einen merkwürdigen Beigeschmack, wenn Richter fortfährt, die PRT "überwinden damit die traditionelle Arbeitsteilung und Trennung der verschiedenen staatlichen Behörden im Auslandseinsatz [É], d.h. die Arbeit der humanitären Hilfsorganisationen ist in die PRTs integriert" (71). Richter kommt so zu der These, dass die Humanitäre Hilfe heute "in einem engen Zusammenhang mit den Aufgaben des Militärs" (72) stehe. Diese zunächst paradox klingende These beleuchtet und erklärt Richter in seinem Artikel vor dem Hintergrund der "Entwicklung der Aufgaben des Militärs im vergangenen Jahrhundert" (72).

Die Entwicklungen beispielsweise während des Zweiten Weltkriegs "zwangen die Organisationen in den Wirkungsbereich des Militärs, wo sie […] völlig überfordert waren" (77). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges standen "sich zwei hochgerüstete Mächte mit ihren jeweiligen Verbündeten" (78) gegenüber. Die Hilfsorganisationen wurden - zumindest in der Bundesrepublik - in die Planungen für den atomaren Ernstfall mit einbezogen und durch die sogenannten Notstandsgesetze "unter die Oberhoheit des Militärs" verpflichtet. Dass die Notstandsgesetze heute noch gelten, sieht Richter als anschaulichen "Beweis für meine These vom Zusammenhang militärischer und humanitärer Organisationen" (79).

Die neuen Herausforderungen für die Staatengemeinschaft sieht er in den internationalen Friedenssicherungsmissionen. Dafür bedienen sie sich der sogenannten Civil-Military-Cooperation (CIMIC), einer NATO-Strategie, der sich auch die Europäische Union offiziell angeschlossen hat (vgl. Beitrag Rattat). Nationale Interessen seien mit Hilfe der humanitären Organisationen besser zu erreichen, weshalb diese "von Anfang an in die militärische Planung einbezogen werden" (86) müssen. Daher müssten sich die humanitären Organisationen grundsätzlich fragen lassen, ob die Prinzipien des Roten Kreuzes Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität heute noch Geltung haben und wie diese Geltung umgesetzt werden könne.

5. Posttraumatische Belastungsstörungen und deren Bewältigung

Martin Hautzinger ist Professor für Psychologie, Leiter der Abteilung Klinische und Entwicklungspsychologie und der psychotherapeutischen Hochschulambulanz am Psychologischen Institut der Universität Tübingen sowie als "Leiter der Arbeitsgruppe Psychotraumatologie und Notfallpsychologie" (28) tätig. Hautzinger gibt mit seinem, auch für medizinisch-psychologische Laien überwiegend gut verständlich geschriebenen Artikel einen guten Überblick zum Thema Bewältigung von (Posttraumatischen) Belastungsstörungen. Besonders bemerkenswert sind dabei die Erfolgsaussichten der kurzen therapeutischen Interventionen und der Frühintervention.

Akute und posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) treten nach Erlebnissen auf, "die von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß waren" (90). Eine solche Belastung wird zum Trauma, wenn die Bedrohung als "außerhalb der normalen menschlichen Erfahrungen" (91) erlebt wird und das Leben und die körperliche Integrität bedroht. Als diagnostische Kriterien führt Hautzinger den Stressor (Bedrohungserfahrung) und eine vielfältige Symptomatik an. Eigene Bearbeitungsmechanismen führen allerdings dazu, dass nur bei etwa 30% der Fälle nach einem Jahr noch mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu rechnen ist.

Psychologische Behandlungsformen für Patienten mit PTBS wurden "erst in den letzten Jahren […] entwickelt und empirisch überprüft" (101). Es ist wichtig, die Patienten darüber aufzuklären, dass "die Beschwerden […] zu einem kohärenten Störungsbild gehören, das gut behandelbar ist" (103). Die Patienten können, beispielsweise durch systematische Desensibilisierung und gestufte Annäherung, die Kontrolle über sich selbst und das eigene Leben wieder gewinnen. Mit der Erkenntnis, dass Prävention und frühe Intervention sinnvoll und hilfreich sind - gerade kognitiv-verhaltenstherapeutisch angelegte (Kurz-)Verfahren - schließt Hautzinger seine Ausführungen. Darin konstatiert er, dass insbesondere bei der Methode des "Critical Incident Stress Debriefing" nach Mitchell noch "wissenschaftliche, gut kontrollierte Interventionsstudien" (107) zur Beurteilung dieses Verfahrens fehlen.

6. Wachsende Anforderungen an die Katastrophenmedizin

Bernhard Domres ist (Unfall-)Chirurg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin. Er leitete viele Jahre am Uniklinikum Tübingen die "Arbeitsgruppe Katastrophenmedizin, Krisenmanagement und Humanitäre Hilfe (AGKM)". Insbesondere die ethischen und sprachlichen Aspekte sowie der Umgang mit dem Datenschutz zeugen von einem rücksichtsvollen Blick für die Patienten und einem engagierten Auftreten gegenüber ihnen auch unter den Gegebenheiten eines MANV oder einer Katastrophe. Der Teil über Dekontamination ist sehr speziell, aber dennoch gut lesbar.

Domres setzt sich in seinem Beitrag mit den erhöhten Anforderungen an die Katastrophenmedizin in heutiger Zeit auseinander. Als Antwort auf die für die Praxis äußerst relevante Frage "Sind wir für den Massenanfall Verletzter gerüstet?" (109) stellt Domres das "Konzept zur überörtlichen Hilfe beim MANV" (= Massenanfall Verletzter) vor. Verschiedene Einsatzabschnitte gewährleisten hier eine reibungslose Zusammenarbeit der Dienste und Organisationen. Die neu eingerichtete "Vorsichtung" (= Sweeping Triage) verfolgt das Ziel, "die in Lebensgefahr befindlichen Verletzten rascher der ärztlichen Sichtung und Behandlung zuzuleiten" (110) und gleichzeitig den Krankenhäusern ein Zeitfenster zu verschaffen, um sich auf die große Zahl Verletzter vorzubereiten.

Der Autor widmet ein eigenes Kapitel ethischen Aspekten der Katastrophenmedizin. Das "Überleben und die Gesundheit einer möglichst großen Zahl der Kranken bzw. Verletzten zu sichern und zu erhalten" (117) habe im Katastrophenfall höchste Priorität, und zwar ausschließlich unter Gesichtspunkten medizinischer Dringlichkeit. Wichtig ist es Domres - auch unter Katastrophenbedingungen - die Patientenrechte vor Missbrauch zu schützen.

Er hält auch sprachliche Standards für notwendig. Deutlich spricht er sich für den Begriff der "Sichtung anstelle von ’Triage’" (118) aus, da der Begriff Triage ursprünglich für die Sortierung von Kaffeebohnen verwendet wurde und somit ungeeignet ist, die vorgesehene Behandlung eines Patienten durch einen Arzt zu beschreiben. Zum Abschluss stellt der Verfasser fest, dass Deutschland "zu den Staaten [gehöre], die über den besten Katastrophenschutz verfügen" (119).

7. Von Ärzten und Grenzen. Dilemmata der Humanitären Hilfe

Ulrike von Pilar war bis 2005 Geschäftsführerin der deutschen Sektion von Médecins Sans Frontières und ist seit 2006 Projektleiterin für Médecins Sans Frontières in Malawi. Sie benennt in ihrem Beitrag klar und deutlich die Möglichkeiten und besonders auch die Grenzen medizinischer Hilfe, die sie aus eigener Erfahrung kennt. Sie spricht sich für eine ehrliche Diskussion der für sie offenen Fragen aus, welche die Dilemmata einer Hilfsorganisation kennzeichnen.

Von Pilar nimmt schon anfangs die große Spanne des mit praktischen Beispielen gefüllten Beitrags vorweg: "Humanitäre Hilfe, […] wurde immer auch für ganz andere Interessen eingespannt und missbraucht: Waffentransporte getarnt als Humanitäre Hilfe, Humanitäre Hilfe als Bestechung" (122), die Liste lässt sich problemlos fortsetzen. Als ein Beispiel des Missbrauchs Humanitärer Hilfe nennt von Pilar die Hungersnot in der Ukraine 1921, die Lenin und seine Regierung mitverschuldete und dann für die eigene Politik nutzen wollte.

Humanitäre Hilfe trete an, um "die heute bedrohten Menschen jetzt zu retten" (128). Sie will daher eigentlich etwas sehr Einfaches: Wer immer Hilfe braucht (so er nicht kämpft), dem soll geholfen werden (Vgl. hierzu auch die Enzyklika "Deus caritas est" von Papst Benedikt XVI.). Gerade den "Schwächsten und […] Gefährdetsten" (131) müsse Hilfe geleistet werden. Zur notwendigen Unparteilichkeit und Unabhängigkeit gehört z.B. auch, nicht im Auftrag von Regierungen, sondern weitgehend mit Spenden zu arbeiten.

Zwei Beispiele humanitärer Arbeit folgen (Darfur und Ruanda): Humanitäre Hilfe müsse sich gerade in Darfur und Ruanda fragen lassen, ob sie nicht "unter Umständen mehr Schaden anrichtet als Nutzen bringt" (136), indem sie sich instrumentalisieren ließ und an der Aufrechterhaltung des status quo mitwirkte.

Von Pilar schließt einen leidenschaftlichen Appell für Handlungsfähigkeit humanitärer Hilfsorganisationen an, die "auf dem Wert […] jedes menschlichen Lebens" (140) bestehen und für die Schwächsten eintreten. Deutlich spricht sie sich gegen eine Vereinnahmung "im Namen ’höherer Ziele’" (141), wie z.B. den "global war on terror" aus. Von Pilar schließt mit der Erkenntnis, "Humanitäre Organisationen sind nicht ganz unschuldig" am Missbrauch der Hilfe, da einige "immer wieder öffentlich für oder gegen bestimmte politische oder sogar militärische Entscheidungen Stellung beziehen" (141) und sich vereinnahmen ließen.

8. Zur Verbindung von Armutsbekämpfung und Katastrophenvorsorge in der Entwicklungszusammenarbeit

Annette Schmidt studierte Ethnologie und Geographie und arbeitet als entwicklungspolitische Beraterin für verschiedene Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit. Ihr Beitrag macht auf sehr anschauliche Weise deutlich, wie komplexe Strukturen ineinander greifen und durch teils geringe Anstrengungen verändert werden können.

Dass Armut viele Facetten und Verständnisweisen hat, weist Schmidt in einem Durchgang durch die "Entstehungsgeschichte einer armutsorientierten Entwicklungspolitik" nach. Ausgehend von Modellen, die Armut vorwiegend als Einkommensarmut verstanden, über soziale Perspektiven und machtpolitische Fragen im Zusammenhang der Armut stellt sie dar, dass heute Armut als ein umfassendes Problem diskutiert wird, welches einen "Mangel an Verwirklichungschancen" (147) bedeutet und Forderungen nach politischer Partizipation einschließt. In der "Millenniumserklärung" werde zwar ein "weites Verständnis von Armut" vertreten, das aber in den "begleitenden acht Entwicklungszielen" (148) unscharf bleibe.

Katastrophenvorsorge bemühe sich darum, im Vorfeld von Katastrophen Risiken zu minimieren. Schmidt veranschaulicht an konkreten, gelungenen Beispielen die vielschichtigen Beziehungen zwischen Armut und Katastrophenanfälligkeit einerseits und zwischen Armutsbekämpfung und Katastrophenvorsorge andererseits: So sorgte die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Mosambik gemeinsam mit der Bevölkerung für die Katastrophenvorsorge auf unterschiedlichen politischen Ebenen. Mit Hilfe der Katholischen Universität Mosambik wurde eine Risikoanalyse erarbeitet, deren Ergebnisse u.a. "für eine angepasste Raumplanung" (159) und die Entwicklung der Region dienen.

Kritisch merkt Schmidt an, dass diese Maßnahmen zwar einleuchtend seien, dass aber auch in Deutschland die Zuständigkeiten für die Thematik in zwei unterschiedlichen Ministerien lägen (vgl. den Beitrag von Lieser).

9. Krisenprävention, Konfliktlösung, Friedenskonsolidierung: der deutsche Ansatz

Ortwin Hennig war als Botschafter und Beauftragter für Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung tätig. Er ist seit 2006 Vize-Präsident und Leiter des Konfliktpräventionsprogramms des EastWest Institute in Brüssel.

Hennig stellt in seinem Beitrag den "deutschen Ansatz" vor, welchen die Bundesregierung etablieren möchte, um nachhaltige Friedenskonsolidierung zu betreiben. Ziel des Aktionsplanes ist dabei immer die Errichtung eines Rechtsstaates und ein staatliches Gewaltmonopol. Hennig wirbt hier für ein Konzept umfassender Außenpolitik, welches möglichst alle Beteiligten (z.B. zivile und militärische Akteure, nichtstaatliche Kooperationspartner, Medien- und Wirtschaftsvertreter) zur Kooperation bewegen und auch mit Hilfe überstaatlicher Organisationen (EU, OSZE, NATO, UNO) die Nachhaltigkeit der Bemühungen stärken will.

Das Konzept verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz für Konfliktlösungen. Ob dieser Ansatz gelingen kann, hängt von vielen Faktoren ab, die unkalkulierbar scheinen und sehr viel Vorarbeit benötigen. Daher ist das Konzept sehr anspruchsvoll und muss differenziert betrachtet werden. Positiv hervorzuheben ist die Wertschätzung Hennigs bzw. der Bundesregierung gegenüber Nichtregierungsorganisationen und deren Arbeit. Aber gerade weil sich die "Erfolge krisenpräventiver Arbeit nur schwer messen" (176) lassen, scheint eine gewisse Skepsis gegenüber diesem Konzept angezeigt.

10. Aus Katastrophen lernen? Humanitäre Hilfe als Bildungsaufgabe

Micha Brumlik lehrt am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er ist der ehemalige Direktor des "Fritz-Bauer-Instituts" (Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust) in Frankfurt am Main. Die Fragen zur westlichen Gesellschaft und Politik, die Brumlik aufwirft, verdienen eine differenzierte Auseinandersetzung. Der Autor nähert sich dem Thema aus literarischer Sicht und beleuchtet das große Thema des Buches damit aus einer gänzlich anderen Perspektive. Gerade dieser Blick - auch auf die (helfende) westliche Welt - macht den Reiz des Beitrages aus, der aus sich heraus etwas mehr Bescheidenheit und Demut einfordert.

Brumlik legt anhand von unterschiedlichen literarischen Werken dar, welche Wirkungen Katastrophenerfahrungen auf eine weltbürgerliche Bildung haben können. Er beschreibt Immanuel Kants Sichtweise auf das Erdbeben in Lissabon 1755, der, statt die Theodizee-Frage zu stellen, "lieber nüchterne Menschenliebe" (180) einfordert, die der Mensch daraus lernen könne und so - indem er Gott von der Verantwortung entlastet - dem Menschen "die ganze Wucht der Verantwortung für die Vermeidung des Leidens" (181) aufbürdet.

Die folgenden Kapitel, in denen Brumlik u.a. Hannah Arendt und Charles Baudelaire zu Wort kommen lässt, gipfeln in der Frage: "Sind in der heutigen Weltgesellschaft Foren und Arenen denkbar und vorfindlich, in denen jene Menschenliebe, die Kant schon vor mehr als 200 Jahren einforderte, folgenreich erlernt und ausgeübt werden kann?" (185)

Dass das "Lernen in der Weltgesellschaft" (185) bisweilen zumindest Schwierigkeiten mit der "Weltöffentlichkeit" (185) - die sich westlich geprägt sieht - nach sich ziehen kann, zeigt der Autor am Beispiel der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy.

Kritische Würdigung

Das vorliegende Buch ist ein sehr heterogenes Werk. Den einzelnen Autoren gelingt es anschaulich und überwiegend ausgezeichnet, das Thema "Katastrophenhilfe und Humanitäre Hilfe" aus ihrem jeweiligen Blickwinkel nahe zu bringen. Durch die vielen - teils sehr aktuellen - Darstellungen und Beispiele aus den Tätigkeitsbereichen der Autoren bekommt das Buch eine praktische Relevanz. Neben der Praxis kommt auch die wissenschaftliche Sichtweise nicht zu kurz, viele Fragen werden aus den unterschiedlichen Perspektiven heraus (neu) gestellt und bewirken beim Leser vertiefte Einsichten, die durch das ausführliche Literaturverzeichnis noch unterstützt werden.

Als eine weitere Perspektive - gerade unter dem Aspekt der weltweiten Humanitären Hilfe - wäre eine dezidiert religiöse Sicht wünschenswert gewesen. Christen wollen gegen das Leid ankämpfen, weil Gott für die Menschen da ist (vgl. Ex 3,14 f.) und auch im Elend nicht von ihrer Seite weicht. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit anderen Religionen wie z.B. dem Islam in diesem Bereich - auch im Umgang mit Leid - aufzuzeigen, wäre Aufgabe eines (oder mehrerer) Religionsvertreter/s gewesen.

Zielgruppen

Im Buch werden Zielgruppen nicht explizit genannt. Geeignet scheint es für Leserinnen und Leser, die sich aus Interesse mit der Thematik befassen wollen ebenso wie für Helfer und Helferinnen und Führungskräfte, die sich mit relevanten Fragen für einen Einsatz befassen oder ihre Tätigkeit reflektieren bzw. hinterfragen wollen. Auch Mitarbeiter in NGOs und Militärangehörige profitieren von der Lektüre, um bereits vor dem Aufeinandertreffen im Einsatz die Chancen und Grenzen einer Zusammenarbeit auszuloten. Nicht zuletzt ist es eine sinnvolle Lektüre für wissenschaftliches Personal im Bereich der Sozialwissenschaften und der Sozialen Arbeit, um den aufgeworfenen Fragen näher zu kommen, auch wissenschaftlich reflektiert und nicht nur praktisch.

Fazit

Das Buch zeugt vom Engagement und der Erfahrung der Autorinnen und Autoren in ihren jeweiligen Bereichen der Humanitären Hilfe. Bei Humanitärer Hilfe und Katastrophenhilfe handelt es sich um eine komplexe Aufgabe, die darauf angewiesen ist, dass die Beteiligten immer wieder miteinander ins Gespräch kommen, um gemeinsam an nachhaltigen und gleichzeitig praktikablen Lösungen zu arbeiten. Die Beiträge geben einen umfassenden, guten Überblick zum Thema sowie viele Anregungen zum weiteren Lesen. Wichtige, zum Teil offene Fragen werden aus verschiedenen Blickwinkeln gestellt, auch gegensätzliche Positionen und Probleme finden ihren Platz (vgl. Beiträge von Lieser, von Pilar, Rattat und Richter). Die engagierten Beiträge Liesers und von Pilars zählen meiner Ansicht nach zu den besten im vorliegenden Band, da hier die Sichtweise der Helferinnen und Helfer im konkreten Einsatz nachdrücklich klar gemacht wird und auch die Schwierigkeiten der vor Ort Tätigen deutlich werden. Insgesamt machen die verschiedenen professionellen Hintergründe und Akzente der Autoren die Spannung und das Interessante des Buches aus.

Rezension von
Dipl.-Theol., Dipl.-Soz.Arb. Kai Herberhold
Pädagogischer Leiter Bildungshaus Mariengrund
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Es gibt 6 Rezensionen von Kai Herberhold.

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ISSN 2190-9245