Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.03.2007

Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne.
Rowohlt Verlag
(Reinbek) 2006.
570 Seiten.
ISBN 978-3-499-55677-7.
16,90 EUR.
Reihe: rororo - 55677 - Rowohlts Enzyklopädie.
Indem wir die Dinge untersuchen, analysieren wir uns selbst
"Wir glauben nicht an den Fetischismus, aber wir sind fetischistisch" - das ist so ein Satz, der unser angeblich modernes, aufgeklärtes und souveränes Denken über die Dinge, die um uns sind, sichtbar und unsichtbar, bei denen die Wirklichkeiten in Mystizismen verschwinden, ins Wanken geraten lässt. Bei denen wir insgeheim vermuten, dass hinter den allzu leicht in die Schublade mit der Bezeichnung "Primitivität, Phantasmagorien" einzuordnenden Phänomenen beim Umgang mit den Dingen der Welt doch etwas sein könnte, was wir dann mit der vagen Vermutung und in Anlehnung an Shakespeares Hamlet ausdrücken: "Es gibt Dinge mehr zwischen Himmel und Erde, als ihr euch in euerem Wissen und in euerer Phantasie vorstellen könnt".
Autor und Thema
Hartmut Böhme, geb. 1944, Kulturtheoretiker und Mentalitätsgeschichtler an der Berliner Humboldt-Universität, rüttelt an den vermeintlichen Grundfesten unserer kulturellen Aufgeklärtheit und Sachlichkeit, indem er sich mit klugen Analysen auf die Suche macht, eine Deutungsgeschichte des Fetischismus in den Religionswissenschaften, der Ethnologie, Ökonomie, der Kulturwissenschaften, bis hin zur Psychoanalyse und zum Feminismus in den "modernen" Gesellschaften zu schreiben, also, wie er im Untertitel des Buches formuliert, "eine andere Theorie der Moderne" zu formulieren. Dabei kommt er zu der Erkenntnis, dass die Bemühungen der Theoretiker, die vielfältigen Fetischismen den "primitiven" Kulturen, etwa in Afrika, zuzuweisen, die Phänomene im "Inneren" der europäischen Kulturen schuf und verstärkte: "Je antifetischistischer die mentale Haltung, desto fetischistischer die Praxis". Der Autor tritt nicht an als einer, der sich den "Hokuspokus" herbei wünscht, sondern mit dem Ziel, durch eine "Rehabilitierung des Fetischismus" eine echte und aussagekräftige Kulturanalyse der modernen Gesellschaften erst möglich zu machen. Während er an dem überkommenen und selten hinterfragten kulturellen Selbstbewusstsein kratzt - die Moderne ist viel weniger aufgeklärt, als sie dies von sich annimmt - plädiert er für einen positiven Umgang mit Fetischismen, weil - und das ist eine Provokation - würde man Fetischismus in unserer Gesellschaft abschaffen (wollen), "so würde nicht das Reich der Freiheit anbrechen, sondern die Gesellschaft zusammenbrechen". Es sei notwendig, den Fetischismus zu europäisieren, ihn also "auf den Stand der Dinge in unserer Kultur" zu bringen.
Aufbau und Inhalt
- Dazu nähert er sich im ersten Teil des Buches erst einmal der "Welt der Dinge", indem er in historischen, kulturtheoretischen und literarischen Quellen die "Phänomenologie der Dinge" aufzeigt und in zahlreichen Beispielen nachweist, "dass die Dinge uns haben und nicht wir die Dinge…". Die Eroberung der Städte (Menschen) durch die Computer macht in vielerlei Hinsicht die "Dinglichkeit" deutlich, in die das Menschsein mündet. Böhmes Rat dazu: Eine Entdifferenzierung der Dinge könne nur durch Fetischisierung aufgefangen werden.
- Im zweiten Teil diskutiert der Autor "Fetischismus in Religion und Ethnographie"; beginnend bei den biblischen Traditionen, bis hin zum Bilderkult und -verbot in den Weltanschauungen. Die ethnographische Vorgeschichte des Fetischismus beginnt mit der europäischen Kolonisierung, vor allem in Afrika. Das religiös und von Höherwertigkeitsvorstellungen der Kolonialherren geprägte Ziel war nicht, den beobachteten und vielfach missverstandenen Fetischismus der Eingeborenen aufzuklären, also "ihn zu verstehen, sondern ihn zu bekämpfen und aufzulösen". Dabei kam gar nicht in den Blick, dass mit den magischen Zeremonien gemeinschaftliche Ordnungssysteme praktiziert wurden; der Umgang mit Fetischen war für die Kolonialherren vielmehr Orientierungs- und Ordnungsstörung. Diese Arroganz der kulturellen Überheblichkeiten gilt es zu verändern. Besonders stark in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung des Autors mit den philosophischen, ethnologischen und kolonialtheoretischen Vertretern und Konzepten, wie sie von Auguste Comte bis hin zu stalinistischen, nationalsozialistischen und kapitalistischen Herrschaftsdenken bis heute sichtbar und erkennbar sind.
- Der dritte Teil muss sich zwangsläufig beschäftigen mit dem Umgang mit den Dingen, der Entdeckung und Auseinandersetzung mit dem Warenfetischismus. Die Parallelen, die Böhme hier zieht von den nichtökonomischen Regularien gesellschaftlichen Lebens bis hin zu den ökonomischen Prozessen als "mächtige Bestimmungsfaktoren auch für Sitten, Weltbilder, Politik", sind für die andere Auseinandersetzung mit der Moderne spannend und erhellend; bis hin zu Marx und "über Marx hinaus" - der Verdinglichung unseres Lebens und der "Totalisierung der kulturindustriellen Manipulationsmacht".
- Es kann nicht ausbleiben, dass sich der Autor auch mit den mit am sichtbarsten in unserer Konsumwelt sich darstellenden und beherrschenden fetischistischen Adaptionen im vierten Kapitel beschäftigt: Sexualität und Psychoanalyse; erhellende Informationen über die verschiedenen Konzepte und Theorien, von Freud und über Freud hinaus, bis hin zur Entfremdung menschlichen Daseins als Perversion, und nicht zuletzt in der Auseinandersetzung um "das Ungenügen der Psychoanalyse" und natürlich mit der Fetischismuskritik. Für uns etwa sind alltäglich erlebbar, aber kaum mehr ernsthaft wahrnehmbar das, was der Autor "fetischistische (Selbst-)Stilisierungen" nennt, die nicht mehr als "privatneurotische Pathologien" empfunden werden, sondern zu "anerkannten Mustern des Lifestyles…, ja zu Bedingungen der eigenen Sichtbarmachung" mutiert sind.
Fazit
Der Traum, den die Aufklärung träumte, dass die Welt durchgreifend säkularisiert werden könne, dass kein Zauber, kein Aberglaube mehr die Menschen beherrschen solle, dass die Religion(en) sich auf einen "vernünftigen Gott" konzentrieren möge, dem sich die Menschen in ihrem Tun und Trachten freiwillig unterwürfen - bleibt einer! Wenn eine Relativierung und objektive Herbeiholung des Fetischismus als ein "anderes Denken" angezeigt ist, in einer Welt, die sich immer schneller interdependenter entwickelt, in der das Individuum im Brei des Werbungs-, Waren- und Konsumfetischismus unterzugehen droht "gehören Analyse und Kritik des Fetischismus zusammen". Voila!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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