Heiko Kleve: Ambivalenz, System und Erfolg
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 27.05.2007

Heiko Kleve: Ambivalenz, System und Erfolg. Provokationen postmoderner Sozialarbeit. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2007. 160 Seiten. ISBN 978-3-89670-558-7. D: 17,95 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 32,00 sFr.
Aufbau und Leitfrage
Das vorliegende Buch ist zwischen Einleitung einer-, sowie dem Literaturverzeichnis und Angaben zum Autor in drei Teile mit insgesamt neun Kapiteln - drei im ersten, zwei im zweiten und vier im dritten Teil - gegliedert. Der Buchtitel nennt mit "Ambivalenz", "System" und "Erfolg" das jeweils zentrale Stichwort eines der drei Teile; wer frühere Publikationen des Autors kennt, wird über "Erfolg" erstaunt sein, das markiert etwas Neues. Man muss das Buch nicht linear von vorn nach hinten lesen, sondern kann auch beim zweiten oder dritten Teil beginnen, weil man in allen Teilen auf die zentrale Leitfrage des Buches stößt, "wie erfolgreiche Praxis und Theorie der Sozialen Arbeit unter systemischen und postmodernen (insbesondere ambivalenten) Kontextbedingungen möglich ist" (S. 10)
Inhalt
In Teil 1: Provokationen der Ambivalenz wird im 1. Kapitel die These entwickelt und illustriert, dass Sozialarbeitswissenschaft Theorien benötigt, die die in der Praxis der Sozialen Arbeit unumgängliche Ambivalenz reflektieren können. Im 2. Kapitel wird handlungsmethodisches Bewältigen von Ambivalenz und im 3. Kapitel reflexionsmethodisches Vorgehen beim Umgang mit Ambivalenz dargestellt.
Teil 2: Postmoderne Sozialarbeit und Sozialstaatstransformation - Eine ambivalenzreflexive Positionsbestimmung wird zuvor entwickelte postmoderne Perspektive ergänzt um den systemtheoretisch-konstruktivistischen Ansatz. Im 4. Kapitel wird zunächst entfaltet, was dieser Ansatz mit dem ihm eigenen Unterscheidungen an Beobachtungen und Bewertungen erlaubt (und auch: was nicht), worauf hin im 5. Kapitel eine "Systemtheorie effektiver Sozialarbeit" skizziert wird.
Damit ist der Übergang geschaffen zu Teil 3: Provokationen des Erfolgs. Was damit gemeint ist wird in den vier Abschlusskapiteln entfaltet, die vier verschiedenen Themenfelder mit beträchtlicher Bedeutung für die Soziale Arbeit gewidmet sind :
- Sozialraumorientierung (6. Kap.),
- Arbeit mit Familien (7. Kap.),
- Elternarbeit (8. Kap.) und
- Kooperation zwischen Jugendamt und Freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe.
Diskussion
Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt. Und auch Rezensieren ist Beobachten; genauer: ein doppeltes Beobachten, da zugleich ein Beobachter (Autor) ins Auge gefasst wird als auch das, was jener betrachtet (Soziale Arbeit als Theorie und Praxis). Zur ersten Rezensentenpflicht - und der hoffe ich mit den bisherigen Ausführungen nachgekommen zu sein - gehört sich (zunächst einmal) auf die Perspektive des Beobachters 1. Ordnung (Autors) einzulassen. Zur Rezensentenpflicht gehört aber auch, darauf aufmerksam zu machen, dass man auf Grund anderer Unterscheidungen zu anderen Beobachtungen, Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen kommen kann. Mit Heiko Kleve weiß ich mich eins darin, dass die Frage des Erfolgs Sozialer Arbeit verstärkt auf die Tagesordnung gehört.
Darin, was man unter "Erfolg" verstehen kann, darf und soll, unterscheiden wir uns aber. Jedenfalls sind das, was Heiko Kleve im dritten Teil seines Buches als Erfolg-reiche oder Erfolg-versprechende Strategien, Handlungsansätze oder Methoden darstellt, keine Belege für "effektive" und "effiziente" Vorgehensweisen, zu denen er die Soziale Arbeit - nach meiner Meinung: zu Recht - einleitend (S. 9) heraus gefordert sieht. Der Begriff "effektiv" und der daran anknüpfende Begriff "effizient" gehört im internationalen Raum zu den Denk- und Sprachfiguren einer Evidenz-basierten Praxis, deren Bedeutung für das Gebiet der Sozialen Arbeit in Skandinavien sowie jenseits des Ärmelkanals und des Atlantiks hoch, in Deutschland hingegen niedrig ist (so zuletzt Otto 2007). Wenn man Vorgehensweisen der Sozialen Arbeit, die nach internationaler Sprachregelung als effektiv und effizient anzusehen sind (vgl. etwa Heekerens 2006), vergleicht mit dem, was Heiko Kleve dritten Teil seines Buches anbietet, wird deutlich: da gibt es Unterschiede, die Unterschiede machen. Man sieht: Heiko Kleve hat bis zum Schluss durchgehalten, was auch ich fürs Lernen sehr nützlich finde: die Provokation (oder "Verstörung" in der Sprache der systemisch-konstruktivistischen Interventionslehre).
Zielgruppe
Welchen Leser(innen) ist ein solches Buch zu empfehlen? Auf die Nützlichkeit - und dabei ist der Horizont weiter als bei bloßer unmittelbar praktischen Nützlichkeit - hin betrachtet: allen, die an der Diskussion um die Sozialarbeitswissenschaft interessiert sind (bzw. es sein sollten), also alle, die in der Disziplin und/oder Profession Soziale Arbeit tätig sind bzw. sich darauf vorbereiten. Die Frage der Lesbarkeit möchte ich so beantworten: Leser(innen) mit unterschiedlichem Vorwissensstand werden Verschiedenes als leicht verständlich ansehen. Meine Erfahrung im Umgang mit Büchern komplexen Inhalts - und dazu gehört das vorliegende Buch - ist aber auch die, dass ich selbst beim zweiten oder dritten Lesen Anderes lese und verstehe als beim ersten oder zweiten Mal.
Fazit
In den Bibliotheken der einschlägigen Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit sollte das Buch in mehreren Exemplaren vorhanden sein und in allen Lehrveranstaltungen zur Sozialarbeitswissenschaft als Pflichtlektüre ausgewiesen sein; Heiko Kleve gehört einmal seit "Die Sozialarbeit ohne Eigenschaften" (Kleve 2000) zu den wenigen profilierten deutschsprachigen Teilnehmern um die immer wieder neu zu stellende und erneut zu beantwortende Frage, was Sozialarbeitswissenschaft denn sein kann und leisten solle.
Ergänzende Literatur
- Heekerens, Hans-Peter: Ein effektives und effizientes Verfahren bei schweren Störungen des Sozialverhaltens: die Multisystemische Therapie. Neue praxis, 2006, 38, 658-664.
- Kleve, Heiko: Die Sozialarbeit ohne Eigenschaften. Fragemente einer postmodernen Professions- und Wissenschaftstheorie Sozialer Arbeit. (Freiburg i.B.) Lambertus Verlag, 2000.
- Otto, Hans-Uwe: Zum aktuellen Diskurs um Ergebnisse und Wirkungen im Feld der Sozialpädagogik und Sozialarbeit - Literaturvergleich nationaler und internationaler Diskussion. Expertise im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ. Zusammenfassung. FORUM Jugendhilfe 1/2007; 18-20.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Es gibt 178 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.
Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 27.05.2007 zu:
Heiko Kleve: Ambivalenz, System und Erfolg. Provokationen postmoderner Sozialarbeit. Carl Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2007.
ISBN 978-3-89670-558-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4763.php, Datum des Zugriffs 09.12.2023.
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