Bundesverband Darstellendes Spiel (Hrsg.): perfekt. verspielt. Fokus Schultheater
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 30.08.2007
Bundesverband Darstellendes Spiel (Hrsg.): perfekt. verspielt. Fokus Schultheater.
Edition Körber
(Hamburg) 2007.
116 Seiten.
ISBN 978-3-89684-185-8.
14,00 EUR.
Reihe: Fokus Schultheater - 06. Mit DVD.
Entstehungshintergrund
Die vom Bundesverband Darstellendes Spiel herausgegebenen Hefte "Fokus Schultheater" haben seit Jahren einen "klassischen" Aufbau für die Aufarbeitung des jährlich stattfindenden Schultheaters der Länder und der begleitenden Fachtagungen:
- zunächst problematisierende Theorie-Artikel,
- dann ausführliche, kritisch reflektierende Aufführungsberichte,
- schließlich Notizen aus den begleitenden Werkstätten und Theorieforen.
Weil das seit 1985 jeweils in einem anderen Bundesland stattfindende Schultheater der Länder in jedem Jahr ein besonderes Thema behandelt, ergeben die jeweiligen Aufarbeitungen kein Sammelsurium, sondern eine fundierte Auseinandersetzung mit einem spezifischen Problem der (schulischen) Spiel- und Theaterpädagogik. So gab es bisher Theatertreffen, Tagungen und zusammenfassende Hefte zu Themen wie
- Musik (1986),
- Eigenproduktion (87),
- Maske (90),
- Märchen und Mythen (93),
- Theater auf der Straße (97),
- Geschichte(n) erzählen (99).
Thema
Das jüngste Heft referiert und problematisiert das Bremer Treffen von 2006 "Theater im Fluss", nennt also ein Thema nur indirekt, und auch der Titel des Heftes "perfekt.verspielt" braucht eine Erklärung. "Im Fluss" spielt an auf Bremen, die Weser, die Spielstätten des Festivals am Fluss - aber auch auf ständig weiter gehende, fließende Entwicklungen im professionellen wie im Schultheater; "perfekt.verspielt" zielt auf den „performativen Umgang mit dem Nicht-Perfekten“, soll "den Fokus auf den souveränen Umgang mit dem Nicht-Perfekten im Sinne einer sehr wirksamen ästhetischen Produktivkraft lenken", denn: "Das Nicht-Perfekte hat als ästhetische Orientierung ein enormes Potenzial - als Leitbegriff kann es dazu dienen, letztlich alle Theatermittel mit seiner Hilfe unter einer neuen Perspektive zu sehen". So die Herausgeber Volker Jurké, Dieter Linck, Gunter Mieruch in ihrem Editorial (Seite 5,6).
Aufbau und Inhalt
- Das erste Kapitel “Fachdebatten“ beginnt Jens Roselt mit
einer präzisen Beschreibung und Analyse von "Call Cutta", einem
Projekt der Gruppe Rimini Protokoll; er kontrastiert und vergleicht diese
Aufführung mit dem "dramatischen Theater", das "von einer Hierarchisierung
der Theatermittel" ausging (11) und in dem der "Sinn des Theaters" in den
Worten liegen sollte, "die auf der Bühne gesprochen wurden, und in der
sinngemäßen Verkörperung der Figuren durch die Schauspieler, jedoch nicht
in der Sinnlichkeit ihrer Körper und der Eigendynamik ihrer Handlungen"
(12).
Obwohl "Call Cutta" ohne Zweifel "eine Reihe von Merkmalen aufweist, die für bestimmte Tendenzen im zeitgenössischen Theater charakteristisch sind" (9), würde ich es eher als eine alternative Stadtführung oder eine besondere Form von Schnitzeljagd bezeichnen; das ist freilich nur ein weiterer Hinweis darauf, wie dünn die Grenze zwischen (postdramatischem) Theater und "Realität" geworden ist. - - Ute Pinkert geht direkt auf den Fokus der Tagung, das Theater des
Nicht-Perfekten und die Rolle des Körpers, ein und
fragt:
- "Wie wird im Theater des Nicht-Perfekten gespielt bzw. 'geschauspielt'?
- Wie wird im Theater des Nicht-Perfekten mit Präsenz und Energie umgegangen?
- Worin könnte sich die Attraktivität dieser Spielform auch für den pädagogischen Bereich begründen?" (15).
- Auch Ulrike Hentschel beschreibt und analysiert zunächst Beispiele
des professionellen Theaters (Matthias Lilienthals "Theater in privaten Räumen unter dem Titel 'X
Wohnungen...'"; "Deutschland 2" vom Regieteam Rimini Protokoll), in denen der "Einbruch des Realen"
deutlich wird, und fragt dann, "in welcher Weise und mit welcher
Zielsetzung realitätsbezogene Verfahren des Performancetheaters für
theaterpädagogische Arbeit, der es um die ästhetische Bildung ihrer
Adressaten geht, produktiv werden können, ohne dass dabei lediglich ein
naheliegender modischer Trend bedient wird" (26). Durch einen Verweis auf Bourdieu (Sozialer Sinn, Suhrkamp 1993) gelingt Hentschel ein überzeugender Hinweis auf die Tragweite
spielerischer Aktion. "Bourdieu
vergleicht das alltägliche Handeln im sozialen Feld mit dem Erlernen der
Muttersprache, in die man 'hineingeboren' wird, die einem jedenfalls
selbstverständlich ist. Das spielerische Als-ob-Handeln hingegen vergleicht
er mit dem Erlernen einer Fremdsprache, die als Sprache, d.h. als
willkürliches Zeichensystem wahrgenommen wird. 'Beim Spiel zeigt sich das
Feld ... eindeutig, wie es ist, nämlich als willkürliche und künstliche
soziale Konstruktion'" (29).
Ein zweiter Hinweis gilt Schechner und seinem Begriff des "recodierten Verhaltens": "Die aufgeführte Handlung ist immer eine Hervorhebung für andere (ein Publikum, eine Gemeinde), und sie ist immer über etwas, ist als etwas zu verstehen" (27). - - Annemarie Matzke, selber Mitspielerin bei der Gruppe "She She Pop", nutzt die eigene Gruppe als Exempel. Beide sind vor allem an dem "Verhältnis von Selbst-Inszenierung und dem realen Spiel auf der Bühne" interessiert (32), wollen "Selbstdarstellung als Praxis und Form" reflektieren. "Welche Strategien werden angewendet, um sich selbst zu inszenieren? Wie können diese Strategien bewusst eingesetzt werden?" (33). Dabei ist das "Besondere an den Spielaufbauten (d.h. den Spielregeln!) von She She Pop... , dass sie in den Spielrahmen Theater einen zweiten Spielrahmen installieren, der seine Begrenzungen und Regeln offen legt und die spielerische Kommunikation selbst zum Gegenstand macht" (33). "Im Gegensatz zur schauspielerischen Darstellung einer Figur ... entwickeln wir in den beschriebenen Inszenierungen eine 'Spiel-Identität' als (Spiel-)Figuren im Verlauf des Spiels. ... Aus den erzählten Geschichten, ... nicht zuletzt aus dem Zusammenspiel und aus der Konkurrenz mit den Mitspielerinnen sowie durch die Interaktion mit den Zuschauern entsteht eine 'Instant-Biografie', die Geschichte der Spielerin im Spiel" (35). Dabei "bieten die Spielaufbauten (Spielregeln) eine andere Form des Schutzes. Sie rahmen jede Form der Selbst-Darstellung" und sie geben auch "dem Zuschauer eine spezifische Rolle vor, zu der er sich verhalten muss" (35). -
- Nach diesem von hohem Reflexionsniveau gekennzeichneten Anfangskapitel folgen unter der Überschrift Didaktik und Praxis (37 - 61) ausführliche, kritisch analysierende Beschreibungen von 16 Aufführungen. Anschließend (62 - 73) werden Überlegungen und Ergebnisse der fünf Fachforen vorgestellt. Die Berichte aus Forum 1 und 2 tragen eher zur Verwirrung der eingangs etablierten Terminologie zum Nicht-Perfekten bei; Karl-A. S. Meyer (Forum 3) referiert ausführlich Kirby und führt dessen Ansatz stringent weiter; Karl-Heinz Wenzel (Forum 4) arbeitet "Grundregeln des Nicht-Perfekten in der postdramatischen Dekonstruktion" am Beispiel der Aufführung "Sara" heraus, die er "mustergültig" nennt (68) und die auch in den Aufführungsbeschreibungen besonders hervorgehoben wird: Sie "kann durchaus als Musterbeispiel für das Festival-Motto 'Theater im Fluss' gelten. Zwischen den Ufern dramatischer und dramaturgischer Essenz hin und her wechselnd, treibt das Stück mit unheimlicher Power vorwärts, nimmt sich aber trotzdem an den entscheidenden Stellen die Zeit zum Verweilen, um dem Zuschauer das zu gewähren, was er sich am sehnlichsten wünscht: den Genuss des Augenblicks" (58). Gunter Mieruch und das Fachforum 5 schließlich wenden sich der Problematik von Behinderung, dem "Umgang mit dem imperfekten Körper" zu - damit eine weitere Facette des Themas mutig aufgreifend. -
- Abgedruckt im Heft wird der Spieltext von "Sara" nach Miss Sara Sampson von G.E. Lessing (76 -90); beigelegt ist eine DVD mit einer Filmaufzeichnung. Die Spielleiterin Eleonora Venado stellt ausführlich ihr "Konzept zu 'Sara'" vor (91 - 101); die "intensiven konzeptionellen Vorarbeiten" (56) werden dabei sichtbar. Auch Wenzel notierte in seiner kritischen Analyse: "Der Präsentation war deutlich anzumerken, dass sich ein Großteil der Arbeit in der Konzeptarbeit außerhalb der Bühne abgespielt haben musste" (69).
- Schultheater ist also AUCH ein intellektuelles
Abenteuer. Oder, wie Gerhard Lippert im Schlusssatz seines das Heft abschließenden Literaturberichts (104 - 111) formuliert: "Schultheater lebt
schon länger von performativen Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und
Rezeptionsprozessen“. Oder, noch etwas schärfer zugespitzt: Im
Profi-Theater werden Spielformen „erprobt, mit denen das Schultheater
schon lange arbeitet. Fast etwas verwundert darf man also im Stadttheater
nun das bestaunen, was in der schulischen Theaterarbeit längst Standard
ist - oder zumindest sein sollte" (Editorial, 5).
Ein etwas genauerer Blick in die Theater- und Kulturgeschichte würde freilich zeigen, dass viele der überaus modernen Formen bereits ein beträchtliches Alter haben. Darauf, so lässt sich vermuten, spielt auch der Hefttitel "perfekt.verspielt" an; er parodiert zugleich allzu ernsthafte postdramatische Problematisierungen und allzu subtile Begriffsklaubereien - Schultheater darf nicht nur spielen, sondern sich sogar ver-spielen.
Zwei Anmerkungen
- Es ist schade, dass die einzelnen Beiträge des Heftes weithin unverbunden nebeneinander stehen und nicht nachträglich noch aufeinander bezogen wurden. Kirby etwa wird bereits bei Pinkert kurz expliziert (S. 17); für den Leser, der mit diesem Autor nicht gleich eine klare Vorstellung verbinden kann, wäre ein Hinweis auf die umfangreichere Darstellung bei Mayer (66 ff) sicherlich hilfreich! Und ganz zu schweigen von Verweisen auf frühere Hefte, durch die aus "Fokus Schultheater" ein echtes Studienhandbuch werden könnte. -
- Im Heft hat sich ein seltsamer Begriff von Rollenspiel "eingenistet", etwa auf den Seiten 6, 16, 17, 25, 35, 68 (also von durchaus unterschiedlichen Autoren). Bisher wurde Rollenspiel, soweit ich sehe, weithin einheitlich als improvisiertes Spiel von Kindern (Vater-Mutter-Kind) oder als NICHT für Zuschauer gedachtes untersuchendes und ebenfalls improvisiertes Spiel in Trainingsgruppen verstanden; wenn es um Theater und Schauspieler ging, wurde vom "Spielen einer Rolle" gesprochen oder geschrieben (bzw. von Rollenarbeit, der Arbeit an einer Rolle). - Immer wieder also terminologische Verwirrungen in der Spiel- und Theaterpädagogik.
Fazit
Ein material-, kenntnis- und anspielungsreiches Heft, zusammen mit den bisherigen Themenheften vom Schultheater der Länder ein wahres Kompendium der Theaterpädagogik, insbesondere an Schulen, formschön mit vielen Fotos ediert von der Körber-Stiftung. Also kein simples Werkheft, keine schlichte Sammlung von Anregungen für Spielleiter, sondern eine Publikation von Qualität und intellektuellem Anspruch, die studiert werden sollte.
Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
Mailformular
Es gibt 60 Rezensionen von Hans Wolfgang Nickel.
Zitiervorschlag
Hans Wolfgang Nickel. Rezension vom 30.08.2007 zu:
Bundesverband Darstellendes Spiel (Hrsg.): perfekt. verspielt. Fokus Schultheater. Edition Körber
(Hamburg) 2007.
ISBN 978-3-89684-185-8.
Reihe: Fokus Schultheater - 06. Mit DVD.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4774.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.