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Ronald Gebauer: Arbeit gegen Armut

Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 01.06.2007

Cover Ronald Gebauer: Arbeit gegen Armut ISBN 978-3-531-15222-6

Ronald Gebauer: Arbeit gegen Armut. Grundlagen, historische Genese und empirische Überprüfung des Armutsfallentheorems. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2007. 265 Seiten. ISBN 978-3-531-15222-6. 34,90 EUR.

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Autor

Ronald Gebauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 580 ("Gesellschaftliche Entwicklung nach dem Systemumbruch: Diskontinuität, Tradition, Strukturbildung") an der Universität Jena. Zu seinen Veröffentlichungen zählt u.a. "Wer sitzt in der Armutsfalle? Selbstbehauptung zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt. edition sigma (Berlin) 2002" (zusammen mit Hanna Petschauer und Georg Vobruba).

Thema / Hintergrund

Es wird immer wieder behauptet, dass Erwerbsfähige sich gegen die Aufnahme einer Arbeit im Niedriglohnsektor entschieden, weil die Sozialleistungen keine finanziellen Anreize dazu böten. Deshalb verblieben sie in Dauerbezug und Armut. Erwerbsfähige gehören raus aus dieser "Armutsfalle" und rein in die Erwerbsarbeit - zugespitzt in der Formel "Arbeit gegen Armut". Das "Armutsfallentheorem" gehört zum Standardrepertoire der Wirtschaftswissenschaften. Aufgrund dieser Annahme wird sozialpolitischer Reformbedarf abgeleitet, um Anreize zur Arbeitsaufnahme zu schaffen: Die Absenkung, zeitliche Begrenzung oder Abschaffung der Sozialleistungen sind deshalb regelmäßig im Gespräch. Aber verführen Sozialleistungen wirklich zur Untätigkeit? Ist, wer einmal im "Teufelskreis Armutsfalle" steckt, wirklich nicht willens zur Erwerbsarbeit? Ronald Gebauer geht diesen Fragen in seiner quantitativ ausgerichteten Dissertation nach.

Aufbau und Inhalt

  • Der Autor untersucht zunächst historisch-soziologisch die Behauptung, dass Arbeit der Schlüssel zur Lösung des Armutsproblems sei (Kapitel 1). Anhand des geschichtlichen Wandels der Armuts- und Arbeitsbegriffe zeigt er, dass dies keineswegs schon immer so gesehen worden ist. In den europäischen Gesellschaften der Spätantiken und des Mittelalters finden sich solche Gedanken nicht. Arbeit und Armut gingen für den Großteil der Bevölkerung Hand in Hand. Nur eine kleine Oberschicht konnte vom produzierten Überfluss leben. Die Vorstellung der Entgegensetzung von Arbeit und Armut habe sich erst in den Anfängen der industriellen Revolution herausgebildet.
  • Gebauer befragt die ökonomischen Theorietraditionen, ob sie Arbeitslosigkeit als freiwillig oder unfreiwillig begreifen (Kapitel 2). Die (Neo-)Klassik geht von der Freiwilligkeit der Arbeitslosigkeit aus, was auf ihre (defizitäre) Vorstellung eines Arbeitsmarktes als einen Markt wie jeden anderen zurückzuführen ist. Erst die Realität der Massenarbeitslosigkeit durch die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren hat dies in Frage gestellt. Mit der erneuten Massenarbeitslosigkeit seit den 1970er Jahren nach der Periode der "Vollbeschäftigung" in den westlichen Industriestaaten wurde in den Wirtschaftswissenschaften wieder die Idee vom freiwilligen Charakter der Arbeitslosigkeit prominent. Doch in der Zwischenzeit hat sich etwas geändert: Soziale Sicherungssysteme federn Arbeitslosigkeit und Armut ab.
  • In Kapitel 3 geht es deshalb um die Probleme der ökonomischen Theorie, das Vorhandensein von staatlicher Sozialpolitik zu erklären. Gebauer diskutiert ökonomische Modelle freiwilliger und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit. Er zeigt, dass schon kleine Änderungen der ökonomischen Modellannahmen zu anderen Ergebnisse führen. Ihre "verhaltensrelevanten Schlussfolgerungen, die aus der Anrechnung von Erwerbseinkommen auf Sozialleistungen gezogen werden" (94), seien höchst unsicher, so kritisiert er. Doch wie gestaltet sich die (Anreiz-)Situation unterschiedlicher Sozialleistungen wirklich?
  • Der Autor untersucht die institutionell festgelegten Anrechnungsregeln von Erwerbs- und Sozialeinkommen deutscher Sozialleistungssysteme (Kapitel 4). Er diskutiert sie anhand der Sozialhilfe und dem Arbeitslosengeld II und kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Situation von SozialleistungsempfängerInnen beim Wechsel in Niedriglohnjobs mit der Einführung von Hartz IV nicht wesentlich geändert hat.
  • Gebauer diskutiert die theoretischen Grundlagen des Armutsfallentheorems (5. Kapitel). Vereinfacht gesagt gibt es vier Ansätze zur Erklärung der Langzeitabhängigkeit von Sozialleistungen: Der Rational-Choice-Ansatz behauptet, dass sich SozialleistungsempfängerInnen aufgrund geringer finanzieller Anreize permanent gegen die Aufnahme eines Niedriglohnjobs entscheiden würden. VertreterInnen der funktionalistischen Schichtungstheorie glauben, dass Aufstiegserwartung und Leistungsbereitschaft der "Unterschicht" durch Sozialleistungen untergraben werden. Kulturalistische Ansätze gehen davon aus, dass sich subkulturelle Milieus mit sozial abweichenden Werten und Normen herausgebildet haben, in denen Sozialtransfers keine positiven Veränderungen erzielen können. Psychologische Ansätze sehen die Sozialleistungsabhängigkeit als Folge destruktiver Lern- und Gewöhnungseffekte. Der Autor kritisiert an diesen Ansätzen, dass einerseits von institutionellen Anreizen auf das Arbeitsmarktverhalten von Menschen kurzgeschlossen werde. Andererseits werde nicht zwischen den aggregierten Daten der Arbeitslosenstatistik und individuellen Arbeitslosigkeitsverläufen unterschieden. Das "Armutsfallen"-Problem sei aber eine empirische Frage, die durch die Auswertung von Datensätzen nachzuweisen sei. Dies geschehe in den Wirtschaftswissenschaften höchst selten.
  • Gebauer gibt Forschungsergebnisse zum empirisch belegbaren Arbeitsmarktverhalten wieder, um das Armutsfallentheorems zu widerlegen (Kapitel 6). Die meisten Untersuchungen zeigen, dass Sozialleistungsbezug überwiegend kurzfristiger Natur ist. Hier beruft er sich vor allem auf die Erkenntnisse der dynamischen Armutsforschung. Die "Armutsfalle" schnappe nur in seltenen Fällen zu.
  • Ausgehend von diesen Ergebnissen stellt Gebauer seine eigene Datenauswertung des Sozio-ökonomischen Panels zu Sozialhilfebezug und Erwerbsarbeit vor (Kapitel 7-9). Dabei kann er auf eine frühere Analyse zurückgreifen. In der damaligen Studie standen für eine Auswertung nur die Daten der Jahre 1991-1996 zu Verfügung. Jetzt erweitert er den Untersuchungszeitraum bis 1999. Zudem differenziert er - und das unterscheidet seine Untersuchung von den meisten anderen quantitativen Untersuchungen zur Dynamik des Sozialhilfebezugs - nach Abgangswegen aus der Sozialhilfe. Seine Ergebnisse zeigen, dass das Bild einer sozialen Hängematte nicht der Lebenswirklichkeit von SozialleistungsempfängerInnen entspricht und eine "Armutsfalle" an der Schnittstelle zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt nicht existiert: Die meisten Sozialhilfeepisoden sind kurz und die Abgänge in Erwerbsarbeit hoch. Erst bei Langzeitarbeitslosigkeit nimmt die Arbeitsmarktmobilität deutlich ab. Gebauer findet auch keine empirischen Hinweise darauf, dass Lohnabstände als Ausdruck finanzieller Anreize verhaltensrelevante Auswirkungen haben.
  • Gebauer schlägt abschließend (Kapitel 10) eine Erweiterung des Armutsfallentheorems vor, denn maßgebliche "Entscheidungskalküle sind nicht ausschließlich kurzfristiger und finanzieller Natur, sondern umfassen auch mittel- und langfristige, sowie nichtfinanzielle immaterielle Erwägungen." (236)

Fazit

Ronald Gebauer entlarvt mit seiner theoretischen und quantitativ-empirischen Arbeit das ökonomische Armutsfallentheorem aus einer soziologischen Perspektive als einen Mythos.

In Form, Inhalt und Sprache richtet sich dieses Buch an ein wissenschaftliches Fachpublikum. Für Menschen aus der Praxis taugt es wenig. Es ist schade, dass Gebauer sich in seiner Analyse auf statistisches Datenmaterial beschränkt. In der früheren Analyse hat er mit seinem Forschungsteam noch SozialhilfeempfängerInnen zu ihren Lebensorientierungen und Arbeitsmotivation interviewt. Dies hätte auch gut getan, um die vorliegende Untersuchung ein wenig "lebensnäher" und anschaulicher zu gestalten.

Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
Website

Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.

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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 01.06.2007 zu: Ronald Gebauer: Arbeit gegen Armut. Grundlagen, historische Genese und empirische Überprüfung des Armutsfallentheorems. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2007. ISBN 978-3-531-15222-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4789.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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