Evangelia Tsiafouli, Sven Sohr: Die Kunst des Trauerns
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 21.05.2007
Evangelia Tsiafouli, Sven Sohr: Die Kunst des Trauerns. Trauer zulassen - Trauer verarbeiten - Trauernde begleiten. Roter-Faden-Verlag (Bielefeld) 2007. 130 Seiten. ISBN 978-3-9810420-2-3. 18,00 EUR.
Entstehungshintergrund
Durch zahlreiche Selbsthilfegruppen und die Hospizbewegung ist die Sterbe- und Trauerbegleitung mittlerweile in das öffentliche Interesse gerückt. Diese Entwicklung spiegelt auch der Büchermarkt wider: Seit dem Jahr 2000 sind grob geschätzt etwa 150 Trauerratgeber erschienen. - Trotz dieser Indizien für eine gesteigerte Bereitschaft, sich mit dem Thema Tod, Sterben und Trauer auseinanderzusetzen, zeigen viele Menschen noch eine große Unsicherheit beim Umgang mit dieser Thematik, vor allem mit den betroffen Personen.
Umso gebotener erscheint es daher, dass professionelle Helfer aus sozialen und medizinisch-pflegerischen Berufen Schlüsselkompetenzen für die Begegnung mit Sterbenden und Trauernden erwerben.
Dies ist das erklärte Ziel des vorliegenden Lehrbuchs von Evangelia Tsiafouli und Sven Sohr. Hervorzuheben ist dabei die praktische Ausrichtung der Veröffentlichung, in der "zwanzig Übungen zum Umgang mit Tod und Sterben" angeboten werden. Mit diesem Konzept knüpft Sohr an sein erfolgreiches Praxisbuch über "Die Kunst der Kommunikation" an, das 2006 erschien.
Autorin und Autor
- Evangelia Tsiafouli, Jahrgang 1967, ist ausgebildete Krankenschwester. Während ihres späteren Studiums an der FH Bielefeld hat sie eine Diplomarbeit über Trauerarbeit bei ihrem damaligen Dozenten Sven Sohr verfasst. Evangelia Tsiafouli ist derzeit Lehrerin an einer Krankenpflegeschule und in der Fort- und Weiterbildung tätig.
- Sven Sohr, ebenfalls 1967 geboren, ist Diplom-Psychologe, Philosoph und promovierter Soziologe. Zwischen 2001 und 2005 vertrat er eine Professur in Psychologie an der FH Bielefeld. Sohr führt seit 2006 ein Coaching-Institut in Berlin.
Die Autorin und der Autor blicken auf eine gemeinsame Ausbildung in Trauerbegleitung am Canacakis-Institut zurück, die offenbar wesentliche Perspektiven für das vorliegende Buch lieferte - und der sich wohl auch das Geleitwort von Jorgos Canacakis verdankt.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in vier Teile aufgegliedert: in die beiden umfänglichsten Teile A (Theorie) und B (Praxisübungen) von Evangelia Tsiafouli sowie die Teile C (Reflexionen) und D (Rezensionen) von Sven Sohr.
Die beiden getrennten Vorworte verdeutlichen, dass Autorin und Autor eigenständige Teile beisteuern: Evangelia Tsiafouli beginnt mit einer persönlichen Erfahrung und erläutert daran die Entstehung des Buches. Zudem legt sie ihr Baustein-Konzept dar, demzufolge der Theorieteil in verschiedene logische Abschnitte: (A) Trauer zulassen - (B) Trauer bewältigen - (C) Trauernde begleiten unterteilt ist. Dies ist aus meiner Sicht eine äußerst praktische Herangehensweise an ein oft so unübersichtliches und verwirrendes Gebiet.
Sven Sohr dagegen nimmt die gesamte Veröffentlichung in den Blick und erörtert die einzelnen Teile; auch er stellt dar, wie das Thema in seiner Biographie verwurzelt ist.
Teil A - Theorie: Unter der Perspektive "Trauer zulassen" erläutert Evangelina Tsiafouli die ungünstigen Bedingungen, unter denen in unserer Gesellschaft Trauerarbeit geschieht.
Im Baustein "Trauer bewältigen" bringt die Autorin die klassischen Sterbe- und Trauerphasen nach Kast, Kübler-Ross sowie das Phasenmodell von Worden in einem knappen Abriss und geht breiter auf Canacakis“ Trans-Zyklen- und Trauerumwandlungs-Modell ein. Sie liefert damit ein psychologisches Basiswissen, wenngleich die Unterscheidung von Sterbe- und Trauerphasen nicht immer ganz deutlich wird.
Der Baustein "Trauernde begleiten" reißt dann sehr knapp die Sterbe- und Bestattungsrituale der Weltreligionen an, um dann nochmals auf die Voraussetzungen in Gesellschaft, Medizin und Pflege einzugehen - was meines Erachtens eher in den ersten Baustein gehört hätte. Ebenso komprimiert werden dann Informationen zur Begleitung Sterbender und Trauernder gegeben, wobei Tsiafouli zwischen Erwachsenen und Kindern unterscheidet und beide Gruppe getrennt erläutert. Biografiearbeit, Empathie und Aktives Zuhören werden als Methoden der Begleitung auf zwei Buchseiten dargestellt.
Der Text ist mit seinen Literaturverweisen sachlich-wissenschaftlich gehalten. Praktisch erweisen sich die vorgeschalteten Übersichten und Zusammenfassungen am Ende eines Bausteines.
Der Praxis-Teil (B) enthält 20 Übungen in methodisch unterschiedlicher Form (z.B. Fallarbeit, Selbstreflexion, Rollenspiel, Assoziationsübung, Arbeit mit Märchen und Phantasiereise), die nach Aussagen der Autorin eine Anregung zur praktischen Auseinandersetzung mit der Thematik bieten sollen. Wiederum orientiert an den drei Bausteinen: "Trauer zulassen - Trauer bewältigen - Trauernde begleiten" wird zunächst eine eigene Position zur Trauer angebahnt, die Wahrnehmung von Bewältigungsstrategien geschult und Themen aus der Begleitung Sterbender/Trauernder fokussiert.
Beispielsweise soll in Gruppenarbeit versucht werden, aus kurzen Fall-Szenen Strategien im Umgang mit Schwerkranken und ihren Angehörigen zu entwickeln. Oder Bedürfnisse von Sterbenden anhand der bekannten Phasenmodelle zu vergegenwärtigen.
Zehn vertiefende Texte aus der Feder von Sven Sohr bietet Teil C - Reflexionen. Zu bunt gewürfelten Begriffen, von "Aufklärungsgesprächen" über die "Hospizbewegung" bis zu "Suizid" und "Todeskonzepte" fasst der Autor die seiner Ansicht nach wichtigsten Aspekte auf jeweils einer Buchseite zusammen. Bei dem einen oder anderen Stichwort wären Literaturhinweise zur Vertiefung angebracht.
Unter dem Stichwort: "Rezensionen" werden von Sohr in Teil D zehn richtungsweisende Werke aus der Thanatologie der vergangenen vier Jahrzehnte vorgestellt. Darunter fallen unter anderem Werke aus Theologie, Nahtodforschung, Trauerbegleitung und Psychotherapie. Der Autor hat sie exemplarisch zur Verdeutlichung der Interdisziplinarität dieser noch jungen Wissenschaft ausgewählt.
Das Literaturverzeichnis bezieht sich vor allem auf den Theorieteil (A), mehrere in Teil D rezensierte Bücher fehlen hier, und es weist leider auch einige Druckfehler auf.
Diskussion und Bewertung
Bei dem Buch geht es um die Vermittlung von Schlüsselkompetenzen in der Begleitung Sterbender und Trauernder. Seine Stärke ist, dass es eine Menge an Informationen in komprimierter und äußerst strukturierter Weise liefert. Damit ist es gut geeignet für einen Überblick, der im Detail durch die originalen Veröffentlichungen vertieft werden kann.
Mit den praktischen Übungen begibt sich das Buch auf eine Gratwanderung zwischen Pragmatik und existentieller Dimension des Themas. Canacakis beispielsweise beschreibt in seinem Buch "Ich sehe deine Tränen" die Kunst zu Trauern als einen sehr komplexen psychischen Prozess. Ein praktisches Lehrbuch, welches in knapper Form Schlüsselkompetenzen vermitteln will - die zweifellos notwendig sind - läuft dabei Gefahr, die Sterbe- und Trauerbegleitung unbewusst auf das Machen und Wissen zu verkürzen.
Ein wiederkehrendes Problem für Ratgeber und Lehrbücher hierzu ist die Wahr(nehm)ung der Individualität. Hinter Sterben, Trauer und Verlusterfahrungen stehen immer einzigartige Biografien und Schicksale, die gehört werden wollen. Es ist daher nicht leicht für Lehrbücher, die streckenweise die sachliche Distanziertheit einer wissenschaftlichen Arbeit verströmen und komprimierte Informationen bieten, den Blick hierauf zu lenken. Auch der Titel "Lehrbuch mit 20 Übungen zum Umgang mit Tod und Sterben" klingt vor diesem Hintergrund etwas aktivistisch. Es ist darum gut, dass Autor und Autorin den Text mit ihren persönlichen Erfahrungen rahmen und im Praxisteil auch auf Fallbeispiele eingehen.
Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen bietet das Buch jedoch für die Zielgruppe (s.u.) einen gelungenen Ansatz, Theorie und Praxis zu verbinden. Meiner Meinung nach wird aus dem Theorie- und Praxisteil erst im Austausch mit einer Gruppe und unter Anleitung eines entsprechend geschulten Dozenten eine stimmige Einheit - worauf die Autorin selbst hinweist (S.12). Der Beachtung der Zielgruppe hätte ich mehr Beachtung gewünscht. Zumindest halte ich es für unangemessen, Trauernde mit dem Praxisteil, noch dazu auf eigene Faust, arbeiten lassen zu wollen (S. 68).
Inhaltlich schöpft das Buch Wesentliches aus dem Ansatz Canacakis“, bleibt jedoch keiner bestimmten Sichtweise verhaftet. Vielmehr stellen Tsiafouli und Sohr Bewährtes nach eigener Systematik zusammen.
Richtig in meinen Augen ist, dass der Autor und die Autorin - wie im Übrigen auch Canacakis - Trauer aus der „Todesnähe“ lösen und sie als „alltägliches“ Gefühl und zugleich ressourcenreiche Kraftquelle sehen. Und dass sie konsequenterweise Trauern nicht der Obhut von Therapeuten anempfehlen. De facto wird im Buchtext Trauer und Sterben so verzahnt, dass die Begriffe streckenweise in eins übergehen.
Dagegen werden meiner Meinung nach kommunikative Prozesse zu wenig einbezogen. Neben den psychologischen Grundlagen ist in der Begleitung aber auch ein Basiswissen um kommunikative Strategien notwendig, etwa die vier Botschaften einer Aussage nach Schulz v. Thun oder der kontrollierte Dialog nach Rogers. Hier ist der Inhalt des Buches sicher noch erweiterbar.
Zielgruppen
Meines Erachtens ist das Buch zunächst für einen Einsatzbereich zu empfehlen, aus dem es ja ursprünglich stammt: Für die Fortbildungsarbeit mit Angehörigen aus medizinisch-pflegerischen Berufen. Des Weiteren bietet das Buch beispielsweise in der Aus- und Weiterbildung von Hospizmitarbeiter/innen eine Grundlage für das Selbststudium (Teile A, C, D) und die praxisbezogene Gruppenarbeit unter fachkundiger Anleitung (Teil B). Insbesondere Dozent/innen werden Anregungen aus dem Buch ziehen können.
Student/innen und Leser/innen, die sich der wissenschaftlichen Seite der Trauerbegleitung nähern wollen, finden einen strukturierten Überblick über das Themengebiet.
Fazit: Lehrt das Buch die "Kunst des Trauerns"?
Es gehört zu der Eigenschaft von Künsten, dass sie selten aus Büchern erlernt werden. Nichtsdestotrotz bieten Tsiafouli und Sohr das Rüstzeug dafür, Sterbenden und Trauernden angemessener zu begegnen. Mehr kann man von solch einem dünnen Lehrbuch eigentlich auch nicht erwarten. Ob das Konzept aufgeht, obliegt nicht zuletzt dem verantwortungsvollen Geschick einer Dozentin oder eines Dozenten: Nämlich inwieweit den komprimierten Sachinformationen in praktischen Übungen Tiefe und Lebendigkeit verliehen wird.
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 21.05.2007 zu:
Evangelia Tsiafouli, Sven Sohr: Die Kunst des Trauerns. Trauer zulassen - Trauer verarbeiten - Trauernde begleiten. Roter-Faden-Verlag
(Bielefeld) 2007.
ISBN 978-3-9810420-2-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4822.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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