Wolfgang Ilg, Martin Weingardt (Hrsg.): Übergänge in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen
Rezensiert von Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt, 21.09.2007

Wolfgang Ilg, Martin Weingardt (Hrsg.): Übergänge in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen. Empirische Studien zu den Nahtstellen von Jugendarbeit, Schule und Freizeit.
Juventa Verlag
(Weinheim) 2007.
232 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2126-4.
21,00 EUR.
CH: 36,90 sFr.
Reihe: Edition ProjektArbeit.
Thema
Dass rund 7% der 15- bis 24jährigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen einer kirchlich-konfessionellen Jugendgruppe angehören, ist seit der 13. SHELL-Jugendstudie (2000) bekannt. Bekannt ist auch, dass sich solche religiös unterlegte Jugendverbandsarbeit eher an junge Menschen aus Mittelschichts- und/oder bildungsnahen Haushalten richtet und Hauptschülerinnen und -schüler nur unterdurchschnittlich erreicht werden. Die Aktualität dieses Befundes unterstreichen auch die Resultate und Darlegungen des vorliegenden Bandes "Übergänge in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen. Empirische Studien zu den Nahtstellen von Jugendarbeit, Schule und Freizeit"; abschließende Antworten, dieses Exklusionsdilemma zu lösen, verspricht die Publikation nicht, wesentliche Hinweise zur Klärung zu geben, aber schon.
Herausgeber
Die Textsammlung verantworten als Herausgeber zwei Kenner der Szene: Wolfgang Ilg, Pfarrer und Dipl.-Psychologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen und Martin Weingardt, Dipl.-Pädagoge und Lehrer, lehrt als Professor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg Erziehungswissenschaften. Beide sind in der Vergangenheit durch Forschungsvorhaben und Publikationen zu Aspekten von (kirchlicher) Jugend(verbands)arbeit in Erscheinung getreten.
Inhalt
Die Publikation knüpft direkt an ein vom Evangelischen Jugendwerk in Württemberg (www.ejwue.de) aufgelegtes Programm, das 2001 bis 2006 unter dem Titel "_puls" (Peer-groups und lebensweltorientierte Szenen) innovative Formen der gruppenorientierten Jugendverbandsarbeit erproben sollte und von der Landesstiftung Baden-Württemberg finanziert wurde (LINK: http://www.ejwue.de/puls-projekt/). Das Evangelische Jugendwerk in Württemberg zählt mit seinen 51 Bezirksjugendwerken, weiteren Stadtjugendwerken und dem CVJM zu den größten kirchlichen Jugendverbänden in Deutschland und repräsentiert nach eigenen Angaben rund 120.000 junge Menschen, 23.000 freiwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und 280 Hauptamtliche. Ein Verband dieser Größe muss ein nachhaltiges Interesse daran haben, zeitgemäße und junge Menschen erreichende (wirksame) Strukturen zu entwickeln. Insoweit reflektieren die Aufsätze der Edition Aspekte der wissenschaftlichen Begleitung und Beforschung des Vorhabens als Versuch einer insoweit mittelbaren Einflussnahme auf die Entwicklung der alltäglichen Verbandswirklichkeit.
Dem Band liegt eine klare Dreigliederung zugrunde:
- Zunächst führen Wolfgang Ilg und Martin Weingardt unter Verweis auf die einschlägige Literatur und Forschungslage in die Thematik ein (S. 11 - 26), ergänzen diese Hinführung - hilfreich - um präzise Erläuterungen und Hinweise zur (Forschungs-) Methodik, die in Forschungsfragen eher ungeübten Praktikerinnen und Praktikern den Zugang sehr erleichtern dürften.
- Im zweiten Abschnitt werden die Resultate von vier Einzelstudien im Rahmen des "_puls"-Programmes präsentiert: Burkhard vom Schwemm und Wolfgang Ilg präsentieren empirische Perspektiven des "TenSing"-Projekts, einem seit 1986 vom Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM) realisierten Konzept der (musisch-kulturellen) Jugendarbeit mit Musik, bei dem das Endprodukt weniger wichtig ist als die Beteiligung junger Menschen (S. 29 - 55); Burkhard von Schwemm, von Haus aus Sozialpädagoge, ist beim CVJM als Sekretär tätig, Referent für die "TenSing"-Arbeit und war Projektreferent bei "_puls". - Auch die Arbeitsform "TeenDance", ein Projekt für tanzbegeisterte 11- bis 18jährige, verortet sich im musisch-kulturellen Bereich; über die Untersuchung mit Schwerpunkten zu den Themen Handlungsorientierung und Beteiligung, religiöse Orientierung und Integration nicht-christlicher Jugendlicher in einen konfessionellen Jugendverband berichten Wolfgang Ilg und die Diplom-Sozialpädagogin Anita Ackermann, die als Jugendreferentin in Hemmingen tätig ist und ehrenamtlich im "TeenDance"-Projekt mitwirkt (S. 57 - 79). - Neue Formen von verbandlicher Jugendarbeit an der Nahtstelle von außerschulischer Jugendarbeit und Schule hat Martin Weingardt am Beispiel der Ausbildung zu Schülermentoren und Trainees untersucht; die Ergebnisse einschließlich Überlegungen zur Gestaltung des Übergangs aus der Schule in den Verband hinein präsentiert er in einer weiteren Studie (S. 115 - 169). - Damit stehen drei eher innovative Konzepte einem eher tradierten Zugang gegenüber, den in einer weiteren Untersuchung Anja Bedke, Achim Großer und Wolfgang Ilg vorstellen: Sie gehen in einer Koppelung von quantitativen und qualitativen Erhebungsverfahren der Frage nach, inwieweit Übergänge aus Ferienfreizeiten (Gruppenreisen, Fahrten) zu den Inhalten und Formen verbandlicher Jugendarbeit nach Abschluss und im Anschluss an die Freizeit gelingen und welche impliziten wie expliziten Erwartungen an Jugendverbände seitens der Teilnehmerinnen und Teilnehmer solcher Freizeiten formuliert werden (S. 81 - 113). Anja Bedke (Dipl.-Sozialpädagogin) arbeitete 2003 bis 2006 im "_puls"-Projekt mit, Achim Großer (Diakon und Erlebnispädagoge) war dort Projektreferent. - Eine von Wolfgang Ilg vorgenommene Sekundäranalyse zu den Wirkungen konfessioneller Jugendarbeit auf die Persönlichkeitsentwicklung und Lebensgestaltung Jugendlicher rundet den empirischen Teil ab (S. 171 - 200).
- Es interessiert natürlich sehr, welche Schlussfolgerungen die Autoren aus den Befunden ziehen. Dieser Abschnitt fällt denn doch im Verhältnis zu dem gelungenen empirischen Teil deutlicher knapper aus. Reinhold Krebs (Gemeindediakon und seit 1992 in der ejw in der Entwicklung und Entfaltung offener Angebote tätig), der seit 2001 für das "_puls"-Vorhaben als Projektleiter verantwortlich zeichnete, diskutiert zunächst (S. 203 - 213), was Jugendarbeit aus den Untersuchungen lernen könnte und benennt als Stichworte unter anderem: Handlungsorientierung, weitgehende Einbindung der Gruppe bei Zurücknahme der Leiterinnen und Leiter, Aktivgruppenkonzept und Feedback-Strukturen, Akzeptanz von Cliquenstrukturen und Einbindung in das Gruppenkonzept, neue und flexiblere Zeitstrukturen statt fester Gruppentermine, Öffnung für Nicht-Christen bei Aufrechterhaltung einer "religiös-pädagogischen Selbstsicherheit" sowie eine dialogisch-experimentelle Vermittlung von Glaube statt Unterricht und Lehre. Hieran anschließend formulieren Ilg und Weingardt ihre Bilanz (S. 215 - 229) im Blick auf Jugendverbände als Lebensorten, die - empirisch dokumentiert - nachhaltig zur Bildung persönlicher Kompetenzen beitragen; die im Kontext von "_puls" entwickelten Angebote stellten "Hilfen zur Selbstvergewisserung durch Überprüfung und Neuausrichtung eigener Werte, Standpunkte und Alltagspraktiken" dar und "Räume, in denen die Entdeckung und Entfaltung eigener Handlungsmöglichkeiten und neuer Beziehungs- und Gemeinschaftsformen geschehen kann" (S. 220). Abschließend benennen sie vier Fragestellungen im Blick auf die Perspektiven: 1. welche Konsequenzen sich für Ausbildungskonzepte von freiwillig Tätigen ergeben, 2. welche Bedeutung die Jugendgruppenpädagogik als Brücke im Blick auf die Öffnung des Zugangs bislang eher ausgeschlossener Zielgruppen zur Gruppenarbeit hat, 3. wie die internen Übergangs- und Partizipationsmöglichkeiten optimiert werden können und 4. welche Schnittstellen sich zwischen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen in der Kooperation etwa mit Schule ergeben können (weshalb sich auch an dieser Stelle ergänzend die Heranziehung die Kooperationspraxis reflektierender Literatur empfiehlt, z. B. Ulrich Deinet und Maria Icking [Hg.]: Jugendhilfe und Schule, Opladen 2006 vgl. die Rezension oder Manuel Fuchs: Jugendarbeit und Schule in Kooperation, Konstanz 2005, vgl. die Rezension).
Zielgruppen
Vorrangig dient die Veröffentlichung ehrenamtlich und beruflich in der Jugendverbandsarbeit insgesamt Tätigen (und nicht nur auf die evangelische Jugend und ihre Verbände speziell beschränkt). Auch stellt sie sich als Orientierungshilfe für Studierende der (Sozial-) Pädagogik dar, die sich in Jugendverbänden einbringen wollen (und denen sich alle vergleichbare Fragen so oder so ähnlich stellen). Für Forschung dürfte der Band auch im Zusammenhang mit den von den Herausgebern ins Netz gestellten Fragebögen und (freilich nur spärlichen) weiteren Informationen interessant sein (die unter www.uebergaenge-bildungsarbeit.de abgerufen werden können).
Fazit
Die von Ilg und Weingardt in ihrem abschießenden Beitrag (und wohl auch weit über die evangelische Jugend hinaus vollkommen zutreffend) formulierten Fragestellungen (siehe oben) verweisen auf das auch nach Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse weiter offene Grundsatzthema: Auch diese Resultate aus der das Projekt begleitenden Forschung verweisen auf die (lange bekannten) Defizite konfessioneller Kinder- und Jugendarbeit mit ihrer de facto exkludierenden Wirkung aufgrund manifester Mittelschichts- und Bildungsorientierung; insbesondere Kinder und Jugendliche mit niedrigeren Bildungsperspektiven stellen sich als Zielgruppe dar, die mit den tradierten (und wohl auch mit innovativeren) Instrumenten nur schwer zu erreichen sind. Hier machen die referierten Befunde wenig Hoffnung auf schnelle Besserung. Einen Anspruch, hierauf eine "abschließende" Antwort geben zu wollen, haben die Herausgeber freilich gar nicht erst formuliert. Die Textsammlung bietet allerdings reichlich Material, vor Ort (und auch außerhalb Baden-Württembergs) Antworten in je lokal gestrickten Konzepten zu entwickeln.
Die Autorenkombination von Fachkräften der Praxis und Wissenschaftler (Ilg fungiert stets als Co-Autor) bei der Präsentation von drei der der vier Einzelstudien unterstützt den Anspruch der Sammlung, praxisnah zu argumentieren und praxisdienlich zu sein. Vielleicht auch deshalb sind die Texte - trotz der ihnen eigenen Datenfülle - animativ formuliert. Jedenfalls bereiten sie die wesentlichen Resultate der Untersuchungen aus der Begleitforschung in einer für Praktikerinnen und Praktiker durchaus alltäglich nutzbaren Weise auf und binden die Befunde vergleichbarer Untersuchungen sinnvoll ein.
Auch bettet sich die Publikation hilfreich in die (wieder) aufkeimende Debatte zu den Wirkungen der Kinder- und Jugendarbeit ein (siehe zum Beispiel die von Werner Lindner herausgegebene und im Druck befindliche Sammlung: Kinder- und Jugendarbeit wirkt, VS-Verlag Wiesbaden, angekündigt für den Herbst 2007).
In Bezug auf die Schlussfolgerungen bleibt der Band - wie schon gesagt - offen, die konkreten Handlungsperspektiven allgemein. Dies aber kann auch als weiterer Zug des animativen Charakters der Sammlung selbst gelesen werden und insoweit als eine diskrete Zurücknahme der Wissenschaft gegenüber der Dignität der Praxis.
Rezension von
Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt
Professur für Grundlagen und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg
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