Tilmann Holzer: Die Geburt der Drogenpolitik aus dem Geist der Rassenhygiene
Rezensiert von Prof. Dr. Stephan Quensel, 22.12.2007
Tilmann Holzer: Die Geburt der Drogenpolitik aus dem Geist der Rassenhygiene. Deutsche Drogenpolitik von 1933 bis 1972. Books on Demand GmbH (Norderstedt) 2007. 591 Seiten. ISBN 978-3-8334-9014-9. 49,90 EUR.
Zur Geschichte der Drogenpolitik
Die aktuelle Form der Drogenpolitik mit ihren vier Säulen einer dominierenden Repression, der Therapie, der noch immer zaghaften harm-reduction und einer zunehmenden Sucht-Prävention ist ein spätes Produkt des 20. Jahrhunderts, das erst seit den 70ger Jahren deutlich an Fahrt gewann. Dies legt die Frage danach nahe, wie denn dieser Bruch mit der Situation vor der Weimarer Zeit eigentlich zu erklären sei: Entwickelte sich da ein neues Drogen-"Problem" oder nahm man nur einen schon lange bestehenden Drogen-"Konsum" endlich als Problem wahr? Welche Rolle spielte dabei die staatliche Politik; reagierte sie nur, schärfte sie unseren Blick oder produzierte sie gar das Drogen-Übel, das sie zu bekämpfen auszog?
Eine auf solche Fragen ausgerichtete historisch-politologische Analyse kann verdeckte Wurzeln unserer gegenwärtigen Drogenpolitik offen legen. Sie könnte uns zugleich auch daran erinnern, dass eine solche Drogenpolitik ein Ideologie-schwangeres, doch deswegen prinzipiell auch veränderbares "Menschenwerk" ist, das die Art des Drogen-Problems entscheidend positiv wie negativ einfärben und mitgestalten kann.
Veröffentlichungen im Umfeld des Themas
In seiner Analyse der nationalsozialistischen Wurzeln, die bis in die gegenwärtige Drogenpolitik hineinreichen, folgt Holzer einer allgemeineren kritisch-historischen Perspektive, die auch Manfred Kappeler in seinem Buch "Der schreckliche Traum vom vollkommenen Menschen. Rassenhygiene und Eugenik in der Sozialen Arbeit" (Schüren-Verlag, 2000) und Immanuel Baumann: in "Dem Verbrechen auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland 1880 bis 1980". Wallstein Verlag 2006, vgl. die Rezension) ansprechen.
Unter speziell drogenpolitischer Perspektive füllt Holzer die Lücke zwischen Annika Hoffmanns "Drogenrepublik Weimar? Betäubungsmittelgesetz - Konsum und Kontrolle in Bremen - Medizinische Debatten" (LIT Verlag Münster 2005) und Sebastian Scheerers: "Die Genese der Betäubungsmittelgesetze in der Bundesrepublik Deutschland und in den Niederlanden" (Göttingen 1982).
Zum Inhalt
Für seine Fragestellung, wie sich diese "Drogenpolitik" - als "maßgebende Zuweisung von Werten im Umgang mit Drogen innerhalb einer Gesellschaft" (S.22) - entwickelt hat, nutzt Holzer eine sehr gründliche Aktenanalyse, die er durch zeitgenössische Sekundärliteratur und fünfzehn "Zeitzeugen" für die Zeit nach 1945 ergänzt. Dabei beschreibt er nach einem kurzen Blick auf die Weimarer Zeit zunächst auf 250 Seiten die Zeit des Nationalsozialismus und sodann in entsprechender Länge die "Kontinuität und Diskontinuität in der Westdeutschen Drogenpolitik", die er mit einem sehr kurzen Blick auf die nahezu drogenfreie Situation in der ehemaligen DDR abschließt.
Noch in der Weimarer Zeit gab es weder ein Drogen-Problem noch einschlägige Kriminalstatistiken oder Rauschgiftlageberichte oder gar eine Sucht-Prävention oder besondere drogenpolitische Organisationen und Aktivitäten. Sieht man einmal ab von den Teilnahme- und Melde-Verpflichtungen aus der erst 1920 auf Druck der Alliierten erfolgten Ratifizierung der Internationalen Opiumabkommen. Auf deren Basis wurde dann auch im selben Jahr noch ein erstes Opiumgesetz erlassen, in das man 1929 schließlich auch Cannabis einfügte. Diese "grundsätzliche inhaltliche Befolgung des (internationalen) Drogenkontrollregimes" wurde trotz des frühen Austritts aus dem Völkerbund auch nach 1933 beibehalten (64), so dass "die wesentlichen Neuerungen auf ideologischer Ebene zu suchen" seien; "Das spezifisch Nationalsozialistische an der Drogenpolitik nach 1933 liegt in ihrer rassenhygienischen Fundierung und Anleitung begründet"(66).
Nach einem kurzen Überblick über die vor allem von der Psychiatrie getragenen Vorläufer einer Rassenhygiene (86) beschreibt Holzer zunächst die komplex polykratische Struktur der NS-Gesundheitspolitik, in der zuerst die ehemaligen Verbände der Alkoholgegner "gleichgeschaltet" wurden, um sie sodann unter einer neue Drogen-Perspektive in eine umfassende staatliche "Reichsarbeitsgemeinschaft für Rauschgiftbekämpfung" einzugliedern.
Im Rahmen einer "explizit rassenhygienischen Gesetzgebung" - Sterilisierungs-, Gewohnheitsverbrecher- und Ehegesundheits-Gesetz - wie auch im Bereich der neu geschaffenen "Reichzentrale zur Bekämpfung von Rauschgiftvergehen" spielte zwar der Alkoholismus (und der Tabakmissbrauch) eine gewisse Rolle, doch "erfuhren Heroin und Cannabis im Nationalsozialismus kaum Aufmerksamkeit, weder von Konsumenten noch von staatlicher Seite" (189), während das neu entdeckte und ausgiebig verwendete Pervitin (heute auch: Crystal, Speed) "die strenge Orientierung an der Leitidee Rassenhygiene zugunsten der in diesem Falle konkurrierenden Idee "Leistungssteigerung" verdrängte" (216). Auch im Bereich der zwangsweise untergebrachten "kriminellen Geisteskranken" gab es "keine systematische Ermordung von in Heil und Pflegeanstalten untergebrachten Drogenabhängigen, mit Ausnahme der jüdischen Patienten" (274).
Nach Kriegsende wurde vor allem auf Betreiben der Amerikaner die Drogenkontrolle u.a. mit der Einrichtung der Bundesopiumstelle im Jahre 1951 rasch reorganisiert (296f), wofür "die im Nationalsozialismus bereits aktiven Personen mehr oder weniger schnell wieder in ihre vorherigen, oder funktional äquivalente, Ämter" mitsamt ihren Ideen zurückkehren konnten (299). Holzer belegt dies mit ausführlich recherchierten Beispielen aus der Politik, der Justiz, Gerichtsmedizin, Kriminalpolizei, Bundesopiumstelle und Psychiatrie. Auch die Arbeit der auf Prävention ausgerichteten ehemaligen "Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren" konnte schon drei Jahre nach Kriegsende von der "Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren" (DHS) fortgeführt werden (336): "Zusammenfassend konnte über alle Subsysteme eine allgemeine, doch immer wieder von Diskontinuitäten zerschnittene, Beständigkeit rassenhygienischer Ideen und der zugehörigen Praktiken empirisch belegt werden", die, mit Ausnahme der Psychiatrie, allerdings relativ rasch durch den generationellen Elitenaustausch abnahm (351).
Das eigentliche Drogen-"Problem" entwickelte sich - nach einer fast 25-jährigen Stagnation, in der die bekannt gewordenen Zahlen kaum die zuvor auffindbaren geringen Zahlen überstiegen - erst ab 1970, um von dieser Zeit an kontinuierlich anzusteigen. Dies veranlasst Holzer - nach Darstellung der statistisch erfassbaren Entwicklungstendenzen - auf "die jugendliche Drogensubkultur als unbeabsichtigtes Ergebnis der Kulturrevolution von 1968" zurückzugreifen (370), zumal "die staatlichen Rahmenbedingungen, insbesondere die Gesetzeslage, sich bis 1972 nicht wesentlich verändert" hatten (357). Er behandelt hierfür die diversen US-amerikanisch beeinflussten Musikszenen und untersucht die Ausbildung der unterschiedlichen Märkte für illegale Drogen, um zusammenfassend festzustellen: "Insgesamt war die innerhalb weniger Jahre vollzogene Erschließung eines neuen Marktes für illegale Drogen in der BRD Ergebnis einer kulturell stimulierten Nachfrage, deren Dynamik durch materiellen Wohlstand, globalen Jugendtourismus und die Ablehrung durch die Elterngeneration eine deutliche Verstärkung und symbolhafte Aufladung erfuhr. Gemeinsam mit dem oft negierten Faktor, dass für viele jungen Menschen ihre Erfahrungen mit illegalen Drogen (…) in der Summe eine positive Erfahrung war, und so die ursprünglich möglicherweise anders geartete Konsummotivation neu und dauerhaft begründete" (444). Die sich daraus ergebende "Herausforderung für den Gesetzgeber lag in der bewussten, öffentlichen und politisch begründeten Normverletzung, also der Hinterfragung der Legitimität der Norm an sich" (445).
Während dieser Gesetzgeber bisher im Wesentlichen nur auf internationale Initiativen von außen reagierte, begann nun eine innenpolitisch motivierte Gesetzgebung (457), die anfangs noch überlegte, den Cannabis-Konsum zu entkriminalisieren (465ff), doch: "Expertenwissen war im Gesetzgebungsprozess, sowohl im ministeriellen als auch im parlamentarischen, nicht gefragt" (477).
Zwar habe sich der Geist der "Rassenhygiene als Wissenschaft und politische Praxis" mittlerweile vollständig diskreditiert (486), doch zeige sowohl die Dominanz des hegemonialen Abstinenzparadigmas wie die Diskussion um die "Methadonsubstitution als ärztlicher Kunstfehler" (487ff) und die auch vom Bundesverfassungsgericht herangezogene Argumentation mit der in der NS-Zeit so beliebten "Volksgesundheit "(491f) die noch immer fortdauernde "lange Kontinuität rassenhygienischen Gedankenguts in der Deutschen Drogenpolitik. Allerdings ohne (…) bewussten und reflektierten Anschluss an die rassenhygienische Diskussion aus der Zeit des Nationalsozialismus (491).
Fazit
Holzer bietet eine akribisch, fast detektivisch - u.a. mit 2.256 Anmerkungen - vorangetriebene historische Analyse der Jahre 1933 bis 1972, in denen zwar kaum ein eigentliches "Drogenproblem" bestand, doch die dazu passende Drogen-Politik ihre Ideologie und Organisation ungestört entfalten konnte. Er versteht diese Phase als eigenständigen Beginn einer auf Rassenhygiene und Volksgesundheit ausgerichteten nationalsozialistischen Drogen-Politik, die erst gegen Ende der 60ger Jahre - mit gewissen verbleibenden Restbeständen - von einem Jugend-bezogenem Präventions-Sorge-Paradigma abgelöst worden sei. Hier setzt der Historiker jeweils seine eigenen Akzente. Stützt man sich dagegen auf die oben angesprochenen sozialpädagogisch und kriminologisch orientierten Analysen, dann tritt über die Jahrzehnte hinweg seit Ende des 19. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit die Dominanz eines psychiatrisch-biologistischen Denkens stärker ins Bewusstsein, das im Nationalsozialismus dann - wie so viele andere Vorgänger (Jugendbewegung, Arbeiterkultur etc.) - lediglich an der sichtbaren Oberfläche spezifisch rassen-hygienisch eingefärbt wurde. Weswegen es auch heute noch in seiner - wiederum genetisch-neurologisch-psychiatrisch moderner formulierten - Grundhaltung fast ungebrochen fortdauern kann.
Als Soziologe und Politologe hätte man sich gerne auch eine etwas intensivere theoretische Analyse der Zusammenhänge zwischen dieser Ideologie, der darauf fußenden real wirksamen Drogenpolitik, dem Entstehen einer Drogen-nahen Jugendkultur mitsamt der darauf reagierenden und mit agierenden neuen Drogenpolitik gewünscht, die sich sicherlich nicht alleine aus der "Hinterfragung der Legitimität der Norm an sich" ergab. Die Arbeit Holzers könnte hierfür eine lange fehlende solide Grundlage bieten.
Rezension von
Prof. Dr. Stephan Quensel
Jurist und Kriminologe
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Zitiervorschlag
Stephan Quensel. Rezension vom 22.12.2007 zu:
Tilmann Holzer: Die Geburt der Drogenpolitik aus dem Geist der Rassenhygiene. Deutsche Drogenpolitik von 1933 bis 1972. Books on Demand GmbH
(Norderstedt) 2007.
ISBN 978-3-8334-9014-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4835.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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