Esther Rosenboom: Die familiengerichtliche Praxis in Hamburg [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Brigitta Goldberg, 09.05.2009
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Esther Rosenboom: Die familiengerichtliche Praxis in Hamburg bei Gefährdung des Kindeswohls durch Gewalt und Vernachlässigung nach §§ 1666, 1666a BGB. Eine qualitative Untersuchung.
Gieseking Verlag Verlag Ernst und Werner Gieseking GmbH
(Bielefeld) 2006.
232 Seiten.
ISBN 978-3-7694-0997-0.
58,00 EUR.
Reihe: Schriften zum deutschen, europäischen und vergleichenden Zivil-, Handels- und Prozessrecht - Band 235.
Thema
Das Thema Kindeswohlgefährdung steht seit einigen Jahren stark in der Diskussion, sowohl in der Fachpraxis von Jugendhilfe und Familiengerichten als auch in der Öffentlichkeit. Zumeist liegt der Schwerpunkt der Debatte auf der Arbeit der Jugendhilfe (insbes. der Jugendämter) oder auch bei der Verantwortungsgemeinschaft von Jugendhilfe und Familiengerichten. Die hier vorliegende Publikation legt dagegen den Schwerpunkt auf die Arbeit der Familiengerichte, die individuell sehr unterschiedlich gehandhabt wird.
Autorin und Entstehungshintergrund
Die Publikation entstand im Rahmen einer Dissertation, für die die Autorin (studierte Juristin) ein Stipendium des Deutschen Jugendinstituts erhielt. Rosenboom führte am Amtsgericht Hamburg-Mitte (Familiengericht) eine qualitative Studie durch. Die Untersuchung basiert in großen Teilen auf den Praxiserfahrungen aus einem 9-monatigen Praktikum der Autorin an diesem Gericht, während dem sie an mündlichen Verhandlungen teilnahm, sich mit Gerichtsakten auseinander setzte sowie Expertengespräche mit Familienrichtern durchführte.
Aufbau und Inhalte
Die Publikation ist in sechs große Teile gegliedert.
Nach einer Einleitung werden im ersten Teil „Tatbestand, Rechtsfolge und Verfahren der §§ 1666, 1666a BGB“ erläutert.
Der zweite Teil ist der Gewalt- und Vernachlässigungsforschung gewidmet, hier schildert die Autorin die verschiedenen Formen von Gewalt und Vernachlässigung, wobei sie auch auf die Bindungsforschung eingeht.
Im dritten
Teil (dem Hauptteil der Publikation) wird die
familiengerichtliche Praxis im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen
geschildert. Dafür werden fünf verschieden gelagerte
exemplarische Fälle des Familiengerichts Hamburg-Mitte
vorgestellt und anschließend unter Einbeziehung der Ergebnisse
von Experteninterviews bewertet. Diese exemplarischen Fälle
wurden aus insgesamt 197 der Autorin zur Verfügung stehenden
Fällen ausgewählt, da sie unterschiedliche Gefährdungslagen
sowie verschiedene Aspekte der Aufgabenwahrnehmung durch das
Familiengericht aufzeigen. Für die Bewertung der Fälle
führte Rosenboom zunächst leitfadengestützte
Experteninterviews mit 20 Familienrichtern des Amtsgerichts
Hamburg-Mitte. Ergänzend wurden Expertengespräche mit
externen Familienrichtern geführt, die Auskunft gaben zum
„Kerpener Modell“ und „Cochemer Modell“, zwei
Modellvorhaben interdisziplinärer Kooperation in
familiengerichtlichen Verfahren. Schließlich wurden
Fachgespräche mit Fachkräften des Jugendamtes Hamburg und
Mitarbeitern der Behörde für Soziales und Familie geführt.
Der dritte Teil endet mit Ausführungen zu alternativen
Verfahrensregelungen, die z. T. durch das am 12. Juli 2008 in
Kraft getretene Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher
Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls bereits umgesetzt
wurden, beispielsweise die richterliche Erörterung der
Kindeswohlgefährdung mit den Eltern (jetzt § 50f FGG).
Hervorgehoben seien einige wenige
Ergebnisse der Studie. Es zeigt sich, dass Familienrichter Anhörungen
von Kindern und Jugendlichen sehr unterschiedlich handhaben. Während
manche Richter Kinder jeden Alters anhören (oder zumindest in
Augenschein nehmen), hören andere Richter Kinder erst ab einem
Alter von drei oder sechs Jahren an, wieder andere hören Kinder
unter zwölf Jahren fast nie persönlich an. Ähnliche
Unterschiede gibt es bei der Einschaltung von Sachverständigen,
die von einzelnen Richtern aufgrund fehlender eigener Sachkunde in
(fast) allen Verfahren eingeschaltet werden (was zu einer
Verlängerung der Verfahrensdauer führt), während
andere Richter nur in besonders gelagerten Fällen Gutachten
einholen; eine kleine Gruppe von Richtern sind Gutachtern gegenüber
sogar so skeptisch eingestellt, dass sie nie oder nur sehr selten
Sachverständige bestellen. Weitere wesentliche Unterschiede
zeigten sich hinsichtlich der Wahrnehmung informeller Kontakte mit
dem Jugendamt vor und/oder während des gerichtlichen Verfahrens.
Während manche Richter informelle Kontakte in jedem
Verfahrensstadium wegen der Neutralitätspflicht generell
ablehnen, sind andere Richter sehr offen für informelle
Kontakte, um Missverständnisse möglichst frühzeitig
aufklären und so einen umfassenden Kindesschutz sicherstellen zu
können.
Die Publikation endet mit den Teilen 4 bis 6, in denen die Ergebnisse zusammengefasst werden, Vorschläge für eine Verbesserung erarbeitet werden sowie ein Ausblick auf die Zukunft vorgenommen wird.
Diskussion
Die Untersuchung basiert zwar auf einer inzwischen geänderten Fassung des § 1666 BGB und auch zum familiengerichtlichen Verfahren gibt es seit Juli 2008 einige geänderte bzw. neue Vorschriften (§§ 50a, 50e und 50f FGG sowie § 1696 Abs. 3 BGB). Dennoch sind die Erkenntnisse dieser Untersuchung auch heute noch bedeutsam, denn auch durch die neuen Vorschriften gibt es keine weitergehenden Vorgaben bzw. Standardisierungen für die Familienrichter. Solche Vorgaben sind wegen der richterlichen Unabhängigkeit auch kaum möglich. Gleichzeitig stimmt es jedoch bedenklich, wenn deutlich wird, wie sehr Ablauf und Ergebnisse der Kindesschutzverfahren von individuellen Einstellungen und Vorgehensweisen der Richter (und auch der Jugendamtsmitarbeiter) abhängig sind. Insofern kann Rosenboom nur zugestimmt werden, wenn sie die Einführung eines familiengerichtlichen Sonderdezernates in Hamburg, die Erarbeitung eines Leitfadens für Familienrichter sowie Fortbildungsveranstaltungen sowie eine bessere interdisziplinäre Kooperation fordert.
Fazit
Die vorliegende Publikation schließt eine Lücke in der vielfältigen Literatur zum Umgang mit Kindeswohlgefährdungen in der Praxis, indem sie den Fokus auf die Arbeit der Familiengerichte legt, die bislang noch viel zu selten wissenschaftlich untersucht wurden. Rosenboom legt interessante Ergebnisse vor, die bei den weiteren Überlegungen zur Verbesserung des Kindesschutzes in Fachpraxis und Politik unbedingt beachtet werden sollten.
Rezension von
Prof. Dr. Brigitta Goldberg
Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum
Website
Es gibt 7 Rezensionen von Brigitta Goldberg.
Zitiervorschlag
Brigitta Goldberg. Rezension vom 09.05.2009 zu:
Esther Rosenboom: Die familiengerichtliche Praxis in Hamburg bei Gefährdung des Kindeswohls durch Gewalt und Vernachlässigung nach §§ 1666, 1666a BGB. Eine qualitative Untersuchung. Gieseking Verlag Verlag Ernst und Werner Gieseking GmbH
(Bielefeld) 2006.
ISBN 978-3-7694-0997-0.
Reihe: Schriften zum deutschen, europäischen und vergleichenden Zivil-, Handels- und Prozessrecht - Band 235.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4850.php, Datum des Zugriffs 29.03.2023.
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