Wilfried Hosemann (Hrsg.): Potenziale und Grenzen systemischer Sozialarbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Heiko Kleve, 08.01.2008

Wilfried Hosemann (Hrsg.): Potenziale und Grenzen systemischer Sozialarbeit. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2006. 210 Seiten. ISBN 978-3-7841-1608-2. 16,00 EUR.
Thema
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Systemtheorie als eine bedeutende Bezugstheorie der Sozialen Arbeit etabliert. Sowohl in der Praxis als auch im Wissenschaftsdiskurs ist die systemische Sichtweise äußerst populär. Trotzdem ist häufig unklar, was denn gemeint ist, wenn von Systemtheorie oder von systemischer Sozialarbeit gesprochen wird. Denn, wie Niklas Luhmann treffend feststellt, ist „„Systemtheorie“ […] ein Sammelbegriff für sehr verschiedene Bedeutungen und sehr verschiedene Analyseebenen. Das Wort referiert keinen eindeutigen Sinn.“ [1]
In der Sozialen Arbeit haben sich bis heute insbesondere drei systemische Diskurse etabliert:
- ein systemischer Diskurs, der äußerst methoden- und mithin praxisorientiert ist und insbesondere aus der rasanten Verbreitung der systemischen Familientherapie resultiert;
- der Diskurs des so genannten systemischen Paradigmas der Züricher Schule der Sozialarbeitswissenschaft (prominente Vertreter sind vor allem Silvia Staub-Bernasconi, Werner Obrecht und Kaspar Geiser) und
- der Diskurs der systemisch-konstruktivistischen Sozialarbeitswissenschaft, in dem insbesondere die Systemtheorie Niklas Luhmanns und andere konstruktivistische Ansätze (etwa von Gregory Bateson, Paul Watzlawick, Heinz von Foerster oder Humberto Maturana) aufgegriffen werden.
Der hier rezensierte Sammelband ist eindeutig dem zuletzt genannten systemischen Diskurs zuzuordnen, den er hinsichtlich unterschiedlicher Kontexte und Konzepte der Sozialen Arbeit weiter führt und vertieft. Wie der Herausgeber im Vorwort schreibt, möchte das Buch „einladen, sich auf systemische Argumente einzulassen, deren Begründungen für praktisches Vorgehen zu prüfen und zu Diskussion anzuregen“ (S. 10). Die Beiträge sind jedoch nicht als Einführungen in das systemische Denken und Handeln in der Sozialen Arbeit gedacht. Vielmehr setzen sie bereits Vorwissen, erste Beschäftigungen mit dem systemisch-konstruktivistischen Ansatz voraus und bieten davon ausgehend Vertiefungen und weiterführende Argumentationslinien.
Herausgeber und AutorInnen
Wilfried Hosemann, der Herausgeber des Buches, ist Professor für Soziale Arbeit an der Universität Bamberg und ein seit Jahren aktiver Vertreter des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes in der Sozialen Arbeit. [2] Im Kontext seiner Lehr- und Forschungstätigkeit haben offenbar eine Reihe von Studierenden hervorragende Abschlussarbeiten verfasst, die die Basis der meisten Beiträge des Sammelbandes sind.
Es ist in diesem Zusammenhang besonders zu würdigen, dass ein Hochschullehrer seine inzwischen diplomierten und praktizierenden Absolventinnen und Absolventen einlädt, gemeinsam mit ihm ein Buch zu publizieren. Dies ist ein sehr gutes Beispiel für die gelungene Förderung von Studierenden und die Wertschätzung ihrer Forschungstätigkeit, die sich wahrlich nicht verstecken muss und gleichsam als ein Beweis für eine neue, auch wissenschaftlich selbstbewusste Sozialarbeitergeneration gelten kann. Die Autorinnen und Autoren sind allesamt Sozialarbeiter/innen und thematisieren zentrale Fragestellungen ihrer Profession und Disziplin.
Aufbau
Der Band ist in drei Teile gegliedert.
1. „Kontexte systemischer Sozialer Arbeit“
Nach der Einleitung des Herausgebers geht es zunächst um „Kontexte systemischer Sozialer Arbeit“.
- Wilfried Hosemann, Wilfried Gensner und Eva Bathelemes geben einen ersten disziplin- und professionstheoretischen Überblick hinsichtlich der „Perspektiven systemischer Interpretationen Sozialer Arbeit“. Dabei bieten sie eine Reihe sehr hilfreicher Unterscheidungen an, die es erlauben, die komplexe Praxis der Sozialen Arbeit theoretisch angemessen zu reflektieren.
- „Inklusion/Exklusion“ wird im zweiten Beitrag von Wilfried Hosemann als „[e]ine Schlüsseldiskussion zum Verständnis der Sozialen Arbeit“ vorgestellt. Hier wird der Diskurs zu diesem Thema, der ausgehend von Dirk Baeckers [3] These eines Funktionssystems der Sozialen Arbeit in den letzten knapp 15 Jahren diskutiert wurde, nachgezeichnet und hinsichtlich einiger neuer Perspektiven vertieft.
2. „Konzepte systemischer Sozialer Arbeit“
Im zweiten Teil des Buches werden unterschiedliche „Konzepte systemischer Sozialer Arbeit“ präsentiert.
- Matthias Gensner bespricht die zentrale systemtheoretische Unterscheidung von System und Umwelt am Beispiel von Interaktionssystemen. Dabei wird sehr anschaulich, welches Potenzial die systemische Interaktionstheorie Luhmanns hat, um die komplexen Phänomene innerhalb sozialarbeiterischer Hilfeprozesse zu reflektieren und besser nachzuvollziehen.
- Im folgenden Beitrag beschäftigt sich Stefan Käs mit „Zeit – [als] ein[en] bedeutende[n] Faktor der systemischen Praxis“. Verdienstvoll ist hier, dass mit der Zeit ein Aspekt eingeblendet wird, der in praktischen und theoretischen Diskursen zur Sozialen Arbeit unterbelichtet ist. Erstaunlich ist dabei jedoch, dass sehr wichtige Vorarbeiten zu diesem Thema (insbesondere von Theodor M. Bardmann und Anette Gerhard [4]) nicht rezipiert werden.
- „Perspektiven zur Beobachtung von Erfolg in der Sozialen Arbeit“ werden von Marco Heß entwickelt. Gerade angesichts der These, dass Erfolg im Sinne der zielgerichteten Veränderung psychischer und sozialer Systeme ein unwahrscheinliches Unterfangen ist, gebührt den Ausführungen des Autors große Aufmerksamkeit. Denn er differenziert diese These und zeigt, wie aus systemtheoretischer Sicht Erfolg in der Sozialen Arbeit diskutiert werden kann.
- Die andere Seite des Erfolges sind sicherlich die „dysfunktionalen Folgen Sozialer Arbeit“, die Christine Nopper und Nina Taudte beobachten. Ihnen geht es darum, die nicht intendierten Effekte Sozialer Arbeit in den Blick zu bringen und zu fragen, wie es möglich ist, angemessen auf diese zu reagieren.
- Ein konkretes Projektbeispiel, wie eine Soziale Arbeit erfolgreich sein kann und ihre nicht intendierten Effekte aushebelt, wird von Andrea Hofmann diskutiert. Sie versteht die „Lokale Agenda 21“ als „Anschlussstelle[…] von Ideen der Nachhaltigkeit für die Sozialer Arbeit“. Dabei wird der Begriff der „Nachhaltigkeit“ aus der ökologischen Debatte entnommen und für die Soziale Arbeit fruchtbar gemacht.
3. „Externe Beobachtungen“ einer systemtheoretischen Sozialen Arbeit
Der dritte Teil des Buches erweitert die Perspektive. Hier geht es nicht nur um „interne“, sondern auch um „externe Beobachtungen“ einer systemtheoretischen Sozialen Arbeit.
- Claudia Sellmaier diskutiert „Systemische Implikationen zum Menschen und seiner Position in der Sozialen Arbeit“. Sie nimmt sich damit einem Thema an, das oft zu Missverständnissen führt. Auch wenn die Systemtheorie Luhmanns den Menschen zur Umwelt sozialer Systeme erklärt, negiert dies nicht seine Bedeutung für die Konstitution dieser Systeme – im Gegenteil: Diese Bedeutung wird noch radikalisiert.
- Wie dies zu verstehen ist, zeigt der Beitrag. Dass die Systemtheorie ebenfalls eine Gender-Perspektive einnehmen kann, offenbart sich im Text von Saskia Weiß und Ralph Grevel. In „Frauen, Männer und Soziale Arbeit“ veranschaulichen sie das konstruktivistische Potenzial der systemischen Perspektive. Denn es wird deutlich, was es heißt, dass das Geschlecht eine gesellschaftliche Konstruktion ist, die im Kontext der Sozialen Arbeit hoch relevant ist. Im letzten Beitrag des Bandes wird eine Brücke geschlagen von der „Systemisch fundierte[n] Praxis“ zur „Lebensweltorientierung“.
- Wolfgang Geiling geht es um die Verbindungslinien dieser beiden im aktuellen Theorie- und Praxisdiskurs sehr wichtigen Ansätze. Hier zeigt sich besonders deutlich, welche Erkenntnisgewinne zu verzeichnen sind, wenn die Theoriegrenzen überwunden werden und Ansätze sich für andere Perspektiven öffnen.
Diskussion von Form und Inhalt
Das Buch kann als ein Zwischenresümee eines anhaltenden Diskurses verstanden werden: des Diskurses der systemisch-konstruktivistischen Theorie der Sozialen Arbeit. Die Leserinnen und Leser erhalten durch die Lektüre der einzelnen Beiträge sowohl einen Überblick hinsichtlich der zahlreichen Themen der Sozialen Arbeit, die lohnend aus einer systemtheoretischen Perspektive betrachtet werden können, als auch viele Anregungen für zukünftige Forschungen zu diesem Feld. Die Beiträge werden zwar unter drei Überschriften angeordnet und sollen sich damit bestimmten Themenbereichen fügen. In der Zusammenschau wirken die Problemstellungen der Texte aber dennoch eher beliebig. Das einzig Verbindende ist die systemtheoretische Perspektive - und diese wird nicht so sehr, wie der Titel des Buches auch suggeriert, bezüglich ihrer Grenzen betrachtet, sondern ausschließlich mit Blick auf die Potenziale dieses Ansatzes. Schließlich kann das Buch als ein gutes Beispiel dienen für das, was auch Luhmanns Intention bei der Entwicklung der Theorie selbstreferentieller Systeme war: dass sie auf nahezu jedes Phänomen unserer sozialen Welt angewandt werden kann und dass dabei hoch interessante Perspektiven und zahlreiche Erkenntnisgewinne produziert werden.
Zielgruppe
Das Buch spricht all jene, die bereits systemtheoretisches Vorwissen besitzen und tiefer in die zahlreichen Themenfelder einer systemisch-konstruktivistischen Sozialen Arbeit einsteigen möchten. Wer Ideen für eigene Arbeiten sucht, wer Anregungen haben und Beispiele betrachten möchte, wie systemtheoretische Texte für das Feld der Sozialen Arbeit komponiert werden könnten, der ist gut beraten, sich diesen Sammelband zuzulegen. Schließlich eignet sich das Buch auch sehr gut, um im Bachelorvertiefungs- oder im Masterstudium der Sozialen Arbeit, sich – bezogen auf die eigene Profession und Disziplin – mit den Möglichkeiten der konstruktivistischen Systemtheorie Luhmanns auseinanderzusetzen.
Fazit
Das Buch, das die Vielfalt des systemisch-konstruktivistischen Diskurses innerhalb der Sozialen Arbeit aufzeigt, ist ein gutes Beispiel für die Reichweite dieses Theorieansatzes. Trotz der eher beliebig wirkenden Zusammenstellung der Themen eignet sich der Sammelband als vertiefende Lektüre für all jene, die das Potenzial der systemisch-konstruktivistischen Sozialarbeitswissenschaft kennen und schätzen lernen wollen.
[1] Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. (Suhrkamp), 1984, S. 15.
[2] Siehe als Grundlagenwerk: Wilfried Hosemann, Wolfgang Geiling, Einführung in die systemische Soziale Arbeit, Freiburg/Br. (Lambertus) 2005.
[3] Dirk Baecker, Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft, in: Zeitschrift für Soziologie, 1994, Heft 2, S. 93-100.
[4] Theodor M. Bardmann, Zeit und systemische Praxis, in: Theodor M Bardmann, Unterscheide! Konstruktivistische Perspektiven in Theorie und Praxis, Aachen (Kersting) 1996, S. 47-75; siehe zusammenfassend dazu auch Heiko Kleve, Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft, Wiesbaden (VS Verlag), S. 235-257.
Rezension von
Prof. Dr. Heiko Kleve
Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft, Department für Management und Unternehmertum, Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU)
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