Dorothee Klecha, Dietrich Borchardt: Psychiatrische Versorgung und Rehabilitation
Rezensiert von Ilja Ruhl, 22.09.2007
Dorothee Klecha, Dietrich Borchardt: Psychiatrische Versorgung und Rehabilitation. Ein Praxisleitfaden. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2007. 214 Seiten. ISBN 978-3-7841-1653-2. 17,50 EUR. CH: 31,60 sFr.
Autorin und Autor
- Dorothee Klecha studierte Psychologie und Medizin an der Universität Göttingen und ist an der Universitätsklinik Freiburg seit 2003 als Oberärztin tätig und leitet dort die Spezialstation für psychotische Störungen.
- Dietrich Borchardt ist Dipl.-Psychologe, Sozialpädagoge und Psychologischer Psychotherapeut. Er leitet den Sozialpsychiatrischen Dienst Freiburg und ist als externer Mitarbeiter des Klinikums der Universität Freiburg in der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie tätig.
Thema
Das psychiatrische und psychosoziale Hilfsangebot für Menschen mit einer psychischen Erkrankung bzw. Störung ist in Deutschland verhältnismäßig gut ausgebaut und sehr ausdifferenziert. Hierin liegt zum einen ein großer Vorteil, bietet es doch eine Vielzahl individueller Hilfen für die betroffenen Menschen. Andererseits ist die Versorgungslandschaft für den Laien, aber auch für viele MitarbeiterInnen aus dem psychiatrischen und sogenannten komplementären Bereich in seiner Vielfältigkeit oft kaum zu überschauen. Hinzu kommen Fragen bzgl. Zugangsvoraussetzungen und der Kostenträgerschaft einzelner Angebote. In der Praxis ist die Suche nach einer "passgenauen" Hilfe deshalb schwierig und nicht selten auch langwierig. Der Praxisleitfaden "Psychiatrische Versorgung und Rehabilitation" versucht, durch eine strukturierte Darstellung die verschiedenen Pfade der Versorgungs- und Rehabilitationslandschaft auszuleuchten.
Aufbau und Inhalt
- Zu Beginn ihres Praxisleitfadens gehen die Autoren der Frage nach, welche KlientInnen überhaupt der Rehabilitation und/oder der psychosozialen Hilfe bedürfen. Hier werden verschiedene Verlaufsformen und Schweregrade psychischer Erkrankungen erötert und die Hilfeleistungen strukturiert dargestellt (Kurative Medizin, Rehabilitation, Integration).
- Erhebung des Hilfebedarfs und Erstellung von Hilfeplänen. In diesem Kapitel wird ein knapper Überblick über die gängigsten Formen von Hilfeplänen gegeben. Eine detaillierte Darstellung der mannigfaltigen Instrumente, die in den einzelnen Regionen Verwendung finden, ist kaum möglich, viele sind aber an den Metzlerbogen oder den Integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplan (IBRP) angelehnt, womit die Autoren die gebräuchlichsten Verfahren vorstellen. Hier vermisse ich die Angabe eines direkten Links zur Internetseite des IBRP (www.ibrp-online.de).
- Die internationale Klassifikation der Funkionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Die kompakte inhaltliche Vermittlung des ICF, der als universales Instrument verstanden wird und u.a. auch die Kontext- bzw. Umweltfaktoren integriert, wird in diesem Kapitel überwiegend mithilfe von übersichtlichen Tabellen gelöst.
- Versorgungsstrukturen für Menschen mit psychischen Erkrankungen. In diesem Kapitel wird ein erster - und m.E. gut nachvollziehbarer - Überblick über die Versorgungslandschaft, mit ihren verschiedenen Formen der Hilfeleistungen und den entsprechenden Kostenträgern gegeben. Die jeweils zugrundeliegenden Gesetze werden ebenfalls anschaulich vermittelt.
- Leistungen und Strukturen der personenbezogenen ambulanten Versorgung. In diesem sehr umfangreichen Kapitel stellen die Autoren die verschiedenen ambulanten Formen der Hilfen für psychisch kranke Menschen vor. Die einzelnen Angebote werden anhand des Schemas "Zielgruppe", "Leistungen", "Beachte" und "Zugang" erläutert. Den Ausgangspunkt bilden dabei die Behandlung und Beratung durch Haus- und Fachartzpraxis, Institutsambulanzen oder PsychotherapeutInnen. Weitere Bereiche auf die der Leitfaden detailliert eingeht, sind die Alltagsbewältigung z.B. durch psychiatrische Pflege oder das ambulant betreute Wohnen sowie die Möglichkeiten zur Teilhabe am Arbeitsleben.
- Leistungen und Strukturen der personenbezogenen stationären Versorgung. Die Darstellung der statioären (psychiatrischen) Versorgung umfasst die medizininische Rehabilitation und die Einrichtungen zur medizinisch-beruflichen bzw. beruflichen Rehabilitation. Den Abschluss dieses Kapitels bilden Angebote des stationären Wohnens.
- Versorgungsangebote für spezielle Gruppen. Hier werden jene Personengruppen berücksichtigt, mit den MitarbeiterInnen im Rahmen der Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen (z.B. mit Suchterkrankung und/oder Wohnungslose) immer wieder auch Kontakt haben und solche, für die sich spezialisierte Versorgungsstrukturen entwickelt haben (Gerontopsychiatrie)
- Ausblick und Fallbeispiele. Der Ausblick befasst sich in erster Linie mit der Bedeutung des personenzentrierten Ansatzes für die Qualität psychiatrischer Versorgung in Deutschland. In diesem Zusammenhang finden besonders die regionale wie auch inhaltliche Vernetzung Beachtung. Die Fallbeispiele, auf die bei der Darstellung der Versorgungsstrukturen häufig verwiesen wird, illustrieren anhand dreier Menschen mit unterschiedlich schweren Krankheitsverläufen die vielfältigen Möglichkeiten "passgenauer" Hilfen im Versorgungsangebot.
- Anhang. Eine tabellarische Übersicht skizziert nochmals in kompakter Form die wichtigsten Leistungen und ist besonders durch die Seitenverweise besonders hilfreich beim schnellen Nachschlagen. Außerdem ist im Anhang eine Vielzahl von Musteranträgen abgedruckt.
Zielgruppen
Das Buch von Klecha und Borchardt wendet sich in erster Linie an LeserInnen, die in der beruflichen Praxis mit der Suche nach den richtigen Hilfen in der Versorgungslandschaft befasst sind. Hierzu zählen MitarbeiterInnen von Sozialdiensten an (psychiatrischen) Krankenhäusern, beim sozialpsychiatrischen Dienst oder im stationären und ambulant betreuten Wohnen. Aber auch Ärzte werden sich über diesen übersichtlichen Ratgeber freuen können, sind diese doch oft in die Antragsverfahren involviert. Auch wenn der Praxisleitfaden (nomen est omen) erst in der konkreten Arbeit mit KlientInnen seine eigentlichen Nutzwert entfalten kann, so wird er auch StudentInnen z.B. der Sozialpädagogik die Einarbeitung in die Versorgungsstrukturen erleichtern. Einige psychiatrische Grundbegriffe werden aber bei den LeserInnen vorausgesetzt (so z.B. "persistierende Positivsymptome", S. 17).
Diskussion
Die Möglichkeiten der Versorgung psychisch erkrankter Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen und der Medizin sind so vielfältig wie verwirrend. Hilfen, die vordergründig geeignet scheinen, werden durch Zugangsvoraussetzungen eingeschränkt oder kommen aufgrund von z.B. Nachrangigkeit nicht immer in Frage. Wegen der inhaltlich sehr differenzierten Ausgestaltung der Angebote sind besonders die Unterschiede in den Details für die Auswahl geeigneter Leistungen von großer Bedeutung.
Der Praxisleitfaden "Psychiatrische Versorgung und Rehabilitation" macht hier erfolgreich den Spagat zwischen umfassender Information und sehr guter Übersichtlichkeit. Insbesondere die Gliederung bei der Darstellung der einzelnen Hilfen in "Zielgruppe", "Leistungen", "Beachte" und "Zugang" erleichtern deren rasche Einordnung und Auswahl. Die Autoren beschränken sich dabei nicht auf nüchterne Ausführungen, sondern streuen dort, wo es sinnvoll ist, auch Kritik ein und benennen noch bestehende Defizite des Hilfesystems, so z.B. die unzureichende Implementierung der Soziotherapie (S. 65).
Des Weiteren werden zu vielen Themen Studienergebnisse kurz referiert und jene, die evidenzbasiert sind, besonders gekennzeichnet. Zweiteres vielleicht sogar ein Novum in der Literatur, die sich eher an sozialarbeiterisches und pädagogisches Personal richtet - und hoffentlich ein Ansatz der NachahmerInnen findet. So wird z.B. der Diskussion um "Place and Train" vs. "Train and Place" Raum gegeben (S. 140f).
Im Text finden sich nur wenige, kleine formale Fehler und Ungenauigkeiten (S. 175, 181, 67).
So ist ambulant betreutes Wohnen u.a. auch für einen psychisch erkrankten Menschen möglich, der in einer WG mit nicht betroffenen Menschen zusammenlebt (S. 81). Das Beispiel klingt zunächst etwas konstruiert, ist aber in Universitätsstädten durchaus nicht unüblich, wenn auch (leider) noch eher selten
Und obwohl das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis (S. 41) die Situation, wie sie in der Praxis zur Zeit vorzufinden ist, richtig beschreibt, so wäre doch zumindest ein Exkurs bezüglich des "Persönlichen Budgets" wünschenswert gewesen. Dessen Umsetzung hat zwar momentan eher Modellcharakter, die in diesem Zusammenhang prophezeiten Veränderungen hätten aber eine Erwähnung verdient. Ebenso vermisst habe ich im Kapitel zu den speziellen Gruppen die psychisch erkrankten Kinder und Jugendlichen, sowie eine Übersicht aller im Text genannten Internetlinks im Anhang.
Fazit
Klecha und Borchardt legen ein Buch vor, das die Suche nach einem geeigneten Versorgungs- bzw. Rehabilitationsangebot für psychisch erkrankte Menschen enorm erleichtert. Es eignet sich insbesondere dazu, mit den KlientInnen zusammen über verschiedene Optionen zu beraten und ist zugleich eine große Hilfe bei der Entscheidungsfindung.
Als besonders positiv ist außerdem hervorzuheben, dass die Autoren bei aller formalen Übersichtlichkeit die ihr Leitfaden bietet, nicht den kritischen Blick verlieren. Hoffentlich ein Buch, das es bis auf den Schreibtisch vieler im psychosozialen Bereich tätigen Menschen schafft und auch von Selbsthilfegruppen wahrgenommen wird.
Rezension von
Ilja Ruhl
Soziologe M.A.
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Es gibt 24 Rezensionen von Ilja Ruhl.
Zitiervorschlag
Ilja Ruhl. Rezension vom 22.09.2007 zu:
Dorothee Klecha, Dietrich Borchardt: Psychiatrische Versorgung und Rehabilitation. Ein Praxisleitfaden. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2007.
ISBN 978-3-7841-1653-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4885.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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