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Klaus Hurrelmann: Einführung in die Sozialisations­theorie

Rezensiert von Prof. Dr. Daniel Oberholzer, 16.06.2008

Cover Klaus Hurrelmann: Einführung in die Sozialisations­theorie ISBN 978-3-407-25440-5

Klaus Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2006. 9., unveränderte Auflage. 328 Seiten. ISBN 978-3-407-25440-5. D: 17,90 EUR, A: 18,40 EUR, CH: 32,50 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-407-25740-6 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Thema

Beim Buch Einführung in die Sozialisationstheorie von Klaus Hurrelmann handelt es sich bereits um die neunte, seit 2002 unveränderte Auflage. Erschienen ist es in der Reihe Beltz Studium, die von Jürgen Oelkers und Klaus Hurrelmann selber herausgegeben wird. Die erneute Auflage des Buches verweist auf seinen Nutzen für das Studium in den Humanwissenschaften und seine grosse Popularität bei vielen Studierenden und Dozierenden.

Überblick

Die Einführung in die Sozialisationstheorie besteht überblickend aus drei Teilen.

  1. In einem ersten Teil stellt Klaus Hurrelmann seine Konzeption einer Sozialisationstheorie und sein Modell der menschlichen Sozialisation vor. Dieses Modell geht von einer aktiven Auseinandersetzung jedes Menschen mit sich und seinen Umwelten aus, wobei mit und in diesen Auseinandersetzungen Entwicklungen angestossen und realisiert werden, welche die beteiligten Menschen wie ihre Umwelten gleichermassen betreffen.
  2. Seine Konzeption baut auf Theoriekombinationen auf. Das heisst Hurrelmann bezieht sich bei der Entwicklung seines Konzepts und seiner Modelle auf eine Vielzahl von Theorien und theoretischen Konzepten und Ansätzen. Diese Bezugssysteme, welche nach Hurrelmann grundlegend oder bedeutend für seine theoretische Konzeption sind, werden in einem zweiten Teil vorgestellt.
  3. In einem dritten Hauptteil stellt Hurrelmann theoretisch-praktische Erkenntnisse aus ausgewählten Praxisfeldern und Sozialisationsinstanzen vor. Es sind dies die Familie, die Bildungs- und Erziehungssysteme und das soziokulturelle Umfeld. Seine Arbeit abschliessend stellt Hurrelmann eine Bewältigungskonzeption vor, welche sich auf seine Konzeption von Sozialisation bezieht.

Inhalt

Hurrelmann gibt in einem ersten Schritt einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Sozialisationsforschung und Sozialisationstheorie und erläutert in sieben Thesen die erkenntnisleitenden Annahmen, die er seinem Modell von Sozialisation zugrunde legt. Dieses Modell geht davon aus, dass sich jeder Mensch sein Leben lang aktiv mit sich und seinen Umwelten auseinander setzt und in diesem Prozess seine Persönlichkeit entwickelt und (im gesellschaftlich gewünschten Fall) zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt wird. Unterschieden wird in diesem Modell zwischen zwei Realitäten und einer produktiven Vermittlungs-, Verarbeitungs- und Bewältigungsinstanz von Entwicklungsaufgaben - der Persönlichkeit eines Menschen: Mit der inneren Realität ist das Gesamt der genetischen Veranlagung, der körperlichen Konstitution, der Intelligenz, des psychischen Temperaments und der Grundstrukturen der Persönlichkeit gemeint. Als äussere Realität werden wichtige sogenannte Sozialisationsinstanzen, wie die Familie, Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, soziale Organisationen oder auch die physikalische Umwelt verstanden. Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation werden in dieser Modellvorstellung kaum mehr strukturell auseinander gehalten oder quasi gleich(zeitig) gesetzt. Sozialisation als Prozess der Persönlichkeitsentwicklung in wechselseitiger Abhängigkeit von körperlichen und psychischen Grundstrukturen und den sozialen und physikalischen Grundstrukturen, wird als Prozess der produktiven Verarbeitung der beiden Realitäten konzipiert, welche wiederum von der Persönlichkeit eines Menschen geleistet wird und diese gleichzeitig hervor bringt / bringen soll. Hurrelmann benennt in der Folge zentrale Faktoren, welche für eine gelingende Verarbeitung innerer und äusserer Realität notwendig sind und verweist dabei zum einen auf das menschliche Gehirn, ein Konzept von Ich-Identität und zum anderen auf wichtige strukturspezifische Bedingungen in der äusseren Realität. Seine Ausführungen sind in Bezug auf sein Modell zwar verständlich. In Bezug auf die eigentlichen psychischen, physischen und immer persönlichen Verarbeitungsprozesse, wie auch in Bezug auf die sozialen Interaktionen bleibt er aber unscharf. Die Konzentration auf die von ihm gewählten Instanzen gesellschaftlicher Sozialisation lassen insbesondere lebensweltliche Zusammenhänge und Bedeutungen noch ausser acht. In dieser Form besteht die Gefahr, dass Persönlichkeit, obwohl anders geplant, im Endeffekt als Black Box angelegt wird, welche zwar beschrieben und erklärt, in ihrer Entwicklung und Funktion aber nicht verstanden werden kann.

Mögliche Erklärungsansätze, die ein solches Verstehen ermöglichen könnten, legt Hurrelmann in einem zweiten Schritt dar, indem er auf die zentralen theoretischen Bezugssysteme eingeht, welche für sein Modell und seine Theorie eine Bedeutung haben und die in Teilen für diese grundlegend sind. In lockerer Folge stellt er ganz unterschiedliche Persönlichkeitstheorien, Lerntheorien, Entwicklungstheorien sowie Systemtheorien, Handlungstheorien und Gesellschaftstheorien vor. Obwohl Gehirn und genetische Anlage in der Konzeption Hurrelmanns eine zentrale Rolle einnehmen, fehlen theoretische Konzepte und Erkenntnisse aus diesen Wissenschaftsbereichen.

Die ausgewählten Theorien und Ansätze werden zum einen zusammenfassend dargestellt, was ob der Komplexität einzelner Bezugssysteme bereits eine grosse Herausforderung und Leistung darstellt, und werden in den meisten Fällen auf ihre Bedeutung für die Konzeption Hurrelmanns von Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung untersucht und bewertet. Nicht immer deutlich wird dabei, welche Aspekte / Teile der Bezugssysteme für die eigene Konzeption genutzt werden und aus welchen Gründen andere Aspekte unbeachtet bleiben. Dadurch kann der Eindruck von Beliebigkeit entstehen, respektive des opportunistischen Auswählens von Theorieteilen zur Untermauerung der eigenen Vorstellungen.

Hurrelmann ist sich dieser Problematik bewusst und setzt sich deshalb in einem eigenen Kapitel mit den Möglichkeiten von sogenannten Theoriekombinationen zur Bildung neuer Theorien auseinander. Seine Einschätzung ist, dass die Theoriekombination für seine Arbeit eine ausreichende Arbeitsform darstellt, weil der Bedarf an Integration von verschiedenen wissenschaftlichen Modulen und ihrer jeweiligen Perspektivität für den Gegenstandsbereich "Sozialisation" gedeckt werden könne (vgl. Hurrellmann, 2006, 126). Diese Einschätzung könnte mindestens auf dem Hintergrund divergierender theoretischer Ansätze und Erkenntnisse, inkommensurabler Bezugssysteme und Forschungstraditionen noch weiter kritisch reflektiert werden.

In drei weiteren Teilschritten stellt Hurrelmann in der Folge ausgewählte Sozialisationsinstanzen vor. Es sind dies die Familie, die Erziehungs- und Bildungssysteme und das soziokulturelle Umfeld. Damit folgt er der von ihm entwickelten Systematik der primären, sekundären und tertiären Sozialisationsinstanzen. Im Gegensatz zu seinen theoriebezogenen Ausführungen geht Hurrelmann in seinen Ausführungen nun sehr praxis- und alltagsbezogen (lebensweltbezogen) auf die verschiedenen Systeme ein. So arbeitet er für die Familie tradierte und die sich verändernden grundlegenden gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutungsstrukturen heraus und geht sehr differenziert auf die Struktur und die Funktion der zu realisierenden Aktivitäten-, Beziehungs- und Rollenmuster im System ein. Schwerpunkte liegen auf der Familienstruktur und der Persönlichkeitsentwicklung, auf der Auseinandersetzung mit Sozialisations- und Erziehungsstilen und auf der familialen Lebenslage und Sozialisation. Dabei geht er unter anderem auf die Familie als soziales Beziehungsgefüge, die spezifischen Rollen von Müttern und Vätern oder auf die Interaktionen mit deren Kindern ein und setzt sich mit den grundlegenden gesellschaftlichen, gemeinschaftlichen und (inter-) kulturellen Veränderungen der letzten Jahre und möglichen Entwicklungen auseinander.

Im Kapitel zur Sozialisation im Erziehungs- und Bildungssystem befasst sich Hurrelmann mit der Differenz und dem Verhältnis von familiärer und ausserfamiliärer Erziehung und Sozialisation und dem wachsenden Gewicht der organisierten Erziehung. In diesem Zusammenhang geht er sehr differenziert auf die Organisation und Sozialisationsinstanz Schule, auf ihre Akteure und ihre Interaktionen ein. Nach Hurrelmann sollten die Effekte von Bildungs- und Sozialisationsprozessen in Kindergarten und Schulen als in einen Menschen investiertes immaterielles "Kapital" verstanden werden (Hurrelmann 2006, 216). Seines Erachtens unterstreichen die Ergebnisse der Sozialisationsforschung die Notwendigkeit, Erziehungs- und Bildungsprozesse in organisierten Sozialisationsinstanzen vor allem danach auszurichten, dass ein hohes Mass an Selbstbestimmung der Persönlichkeit erreicht wird (Hurrelmann, 2006, 237).

In Bezug auf die Sozialisation im soziokulturellen Umfeld geht Hurrelmann auf die Bedeutung der Gleichaltrigengruppe und auf die Sozialisation in der Freizeit- und Wohnumwelt ein. Ein drittes Thema ist die Sozialisation in der Medienumwelt und abschliessend die politische Sozialisation und Wertorientierung. Hurrelmann ist der Meinung, dass gerade die Sozialisation im soziokulturellen Umfeld als sogenannte tertiäre Sozialisation immer mehr Bedeutung gewinnt und den aktuellen Entwicklungen entsprechend mehr Beachtung finden sollte.

Im letzten Kapitel stellt Hurrelmann ein Belastungs-Bewältigungs-Modell menschlicher Entwicklungsprozesse vor, welches sich auf seine Konzeption von Sozialisation beziehen lässt. Er zeigt Formen gelingender Bewältigung auf und setzt sich mit sogenannten Bewältigungsstörungen auseinander. Dabei entwickelt er auch ein erstes Arbeitskonzept, wie Menschen bei der produktiven Verarbeitung von Realität unterstützt und begleitet und unterstützt werden können. Gerade in diesem letzten Kapitel wird noch einmal sehr klar, dass Hurrelmann schlussendlich seinen Blick stark, vielleicht zu stark auf das sich entwickelnde Individuum legt, welches mehr oder weniger adäquat Entwicklungsaufgaben zu bewältigen hat. Funktion und Bedeutung von Umweltsystemen werden zwar als relevante Faktoren für die individuelle Entwicklung wahrgenommen. Als eigen- und mitständige Interaktions"partner" werden sie in den eigentlichen Interaktionen aber nur wenig deutlich.

Fazit

Hurrelmann entwickelt in seinem Buch einen eigenständigen Ansatz zur menschlichen Sozialisation, indem er unterschiedliche wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem Modell der Individuation und Sozialisation zusammen führt. Sein Modell ist insbesondere geeignet, die Struktur von Sozialisationsprozessen zu beschreiben und zu klären und bietet vielfältige Anschlusspunkte an eine Vielzahl von aktuellen Theorien und Erkenntnissen menschlicher Entwicklung im kulturellen und gesellschaftlichen Kontext. Er selber bezieht sich in seinen Ausführungen eher auf grundlegende, "etablierte" theoretische Bezugssysteme und weniger auf aktuelle Erkenntnisse aus den Humanwissenschaften. Dementsprechend ist das Buch weniger geeignet, menschliche Entwicklung auch in den vielfältigen Teilsystemen und –prozessen verständlich zu machen. Hierzu müssten die einzelnen Erklärungsansätze um aktuelle handlungstheoretische, systemtheoretische oder auch neurobiologische Erkenntnisse erweitert und vertieft werden.

Als Einstiegsliteratur in den Themenbereich und als erstes mentales Modell ist sein Ansatz aber sehr geeignet und das Buch empfehlenswert.

Rezension von
Prof. Dr. Daniel Oberholzer
Sonderpädagoge, Kinder- und Jugendpsychopathologe. Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Institut für Professionsforschung und kooperative Wissensbildung. Lehr- und Forschungsbereiche: Person- und interaktionsbezogene Dienstleistungen in der Sonderpädagogik, Entwicklung neuer Prozessgestaltungssysteme.
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Es gibt 6 Rezensionen von Daniel Oberholzer.

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ISSN 2190-9245