Michaela Amering, Margit Schmolke: Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit
Rezensiert von Ilja Ruhl, 29.07.2007

Michaela Amering, Margit Schmolke: Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. Psychiatrie Verlag GmbH (Bonn) 2007. 301 Seiten. ISBN 978-3-88414-421-3. 24,90 EUR. CH: 43,70 sFr.
Die Autorinnen
- Univ.-Prof. Dr. Michaela Amering ist Oberärztin an der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie und Evaluationsforschung, Universitätsklinik für Psychiatrie, Wien. Sie ist u.a. Vorstandsmitglied der Sektion "Public Policy and Psychiatry" des Weltverbandes für Psychiatrie. Ihr Forschungsinteresse gilt insbesondere den internationalen Entwicklungen der Betroffenenbewegung. Sie ist Autorin und Mitherausgeberin zahlreicher Publikationen u.a. "Stimmenhören, Medizinische, psychologische und anthropologische Aspekte"
- Dr. Margit Schmolke ist Psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin. Sie ist u.a. im Vorstand der Sektion "Prävention und Psychiatrie" des Weltverbandes für Psychiatrie. Ihre Doktorarbeit behandelt das Thema "Gesundheitsressourcen im Lebensalltag schizophrener Menschen" und ist als Buch im Psychiatrie-Verlag erschienen.
Thema
Recovery ist ein nicht neuer, aber in Deutschland noch nicht sehr verbreiteter Begriff. Er beschreibt ein Modell, dessen zentraler Gedanke Hoffnung ist. Der Fokus liegt dabei nicht auf den Symptomen und ihre Abwesenheit als Definitionsgrundlage für Gesundung (die lange Zeit insbesondere bei der Schizophrenie angezweifelt wurde), sondern auf der individuellen Einschätzung ihrer Situation durch die Betroffenen selbst. Die Recoveryforschung zielt deshalb darauf ab, durch Erkenntnisse über einzelne Genesungsverläufe Faktoren zu finden, die zu Recovery führen. Sie bedient sich dabei überwiegend qualitativer Methoden und bindet zunehmend Betroffene aktiv in den Forschungsprozess ein, d.h. sie bleiben nicht Forschungsobjekt, sondern werden zu handelnden Akteuren.
Herausforderungen und Hindernisse
Die Autorinnen hinterfragen in diesem Kapitel klassische, oft noch vorherrschende Denktraditionen in Bezug auf die Krankheit Schizophrenie. So wird z.B. die von vielen PraktikerInnen oft angeführte fehlende Krankheitseinsicht als eine perspektivische Einengung der professionell Handelnden auf ihr Krankheitskonzept enthüllt. Krankheitseinsicht ist bei vielen Betroffenen sehr wohl vorhanden, nur die Vorstellungen, wie es zu dieser Krankheit gekommen ist, wie die eigene Erkrankung zu definieren ist etc. weichen von den klassisch-medizinischen Modellen ab.
Ein Anliegen der Autorinnen ist der verantwortungsvolle Umgang mit Prognosen seitens der psychiatrisch Tätigen. Amering und Schmolke führen hierzu an, dass die Prognose nicht durch direkt krankheitsbezogene Faktoren besonders entscheidend beeinflusst wird, sondern durch die soziale Integration und Stabilität in der ersten Erkrankungsphase, die es positiv zu beeinflussen gilt.
Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels ist die Darstellung des State of the art in der Behandlungs- und Versorgungsforschung.
Vom Patienten zum Bürger
Die Belastung Betroffener durch Stigmatisierung und Diskriminierung wird von immer mehr ExpertInnen als z.T. höher eingeschätzt, als jene durch die Erkrankung und ihre Symptomatik.
Das Kapitel widmet sich deshalb ausführlich der aktuellen Stigma- und Einstellungsforschung. Die Autorinnen hinterfragen in diesem Zusammenhang u.a. auch Teilziele von Anti-Stigma-Kampagnen, wie der Versuch, das medizinische Modell mit der entsprechenden Compliance bezüglich der psychopharmakologischen Therapie zu etablieren. Sie stellen diesem Ansatz Studien gegenüber, die zu dem Schluss kommen, dass Betroffene mit einem individuellen Krankheitsmodell und einer kritischeren Haltung gegenüber Psychopharmaka eine höhere Lebensqualität haben als solche, die das medizinische Modell favorisieren (S. 70).
Das Engagement des Weltverbandes für Psychiatrie
Dieses Kapitel hat in meiner Wahrnehmung eher exkursiven Charakter. Es macht aber in seiner Darstellung der Bemühungen der WPA, Betroffene und deren Sicht in das Programm "Institutionelles Programm einer Psychiatrie für die Person" einzubinden, Hoffung. In der Vergangenheit hat sich die WPA z.B. beim Anti-Stigma-Programm zumindest in Deutschland nicht besonders dadurch hervorgetan, Psychiatrie-Erfahrene organisatorisch einzubeziehen oder finanziell auszustatten, sondern zeigte m.W. eher Arroganz und Ignoranz gegenüber den psychisch erkrankten Menschen und deren Wunsch an einer (auch kritischen) Mitarbeit.
Recovery - Grundlagen und Konzepte
Hier zeigt sich bei der inhaltlichen Beschreibung des Begriffs, dass die Schwierigkeit einer definitorischen Eingrenzung auch ein Gewinn sein kann. Die Autorinnen versuchen gar nicht erst, eine verkürzte Begriffsbestimmung zu konzipieren, sondern zeigen anhand verschiedener Übersetzungen für den Begriff "Recovery", dass sich dahinter ein Modell verbirgt, das verschiedene Ansätze integriert. Die Autorinnen stellen einige Recoveryprogramme vor und gehen ausführlich auf die Frage ein, welche Bedeutung Resilienz für Recovery hat. Es werden vielfältige Studien zur Resilienz ausführlich beschrieben und Implikationen für verschiedene Bereiche abgeleitet (z.B. Familientherapie, Prävention, Gesundheitsförderung und klinische Praxis).
Persönliche Erfahrungen als Evidenz und Basis der Modellentwicklung
Die Revoverybewegung wird maßgeblich von Betroffenen gestaltet, die eigene Programme zur Verwirklichung von Recovery entwickelt haben. Die Autorinnen erläutern Konzepte verschiedener Programme aus den USA, den Niederlanden und aus Österreich. In diesem Abschnitt finden sich auch viele praktische Anregungen und konkrete Tipps für Profis, wie sie ihr bisheriges Leitbild und ihren Umgang mit den KlientInnen/PatientInnen in Hinblick auf Recovery hinterfragen können.
Kliniker, Forscher und Nutzer machen Vorschläge für Forschung und Praxis
In diesem Kapitel wird der Frage nachgegangen, wie Recovery sinnvoll beforscht werden kann und warum hierzu die aktive Einbindung der Betroffenen notwendig ist. Dabei bleiben Amering und Schmolke nicht an der Oberfläche, sondern geben den LeserInnen klare Richtlinien zur praktischen Umsetzung an die Hand. Das Recoverykonzept sieht in den psychoseerfahrenen Menschen die auch in anderen Zusammenhängen oft zitierten "ExpertInnen in eigener Sache". Die aktive Teilnahme im Forschungsprozess wird schlüssig u.a. damit begründet, dass die Bereitschaft eben dieser ExpertInnen sich dem Forschenden zu öffnen, dann steigt, wenn die Kommunikation auf gleicher Augenhöhe stattfindet. Favorisiert wird dabei die Qualitative Sozialforschung. Neben der Darstellung der Studiendurchführung werden auch deren Ergebnisse detailliert erläutert.
Zielgruppen
So vielfältig wie der Inhalt dieses Buches ist, so unterschiedlich sind seine möglichen Zielgruppen. Von Interesse ist es sicherlich für Betroffene, die Recovery für sich entdecken und nutzen wollen. Insbesondere Selbsthilfegruppen könnten ihrer Arbeit eine neue oder zusätzliche Ausrichtung auf Basis des Recoveryansatzes geben. Eine weitere Hauptzielgruppe sind Profis aus dem psychiatrischen und psychosozialen Hilfebereich. Sie profitieren von den vielen praxisrelevanten Elementen und den zum Umdenken einladenden Anregungen. Als Einschränkung sei aber auch erwähnt, dass eine Übertragung vieler Hinweise auf KlientInnen z.B. mit einer Persönlichkeitsstörung nicht unproblematisch ist. Auch wenn diese Störungsgruppe gelegentlich angesprochen wird, so fokussieren die Autorinnen überwiegend auf Menschen, die an einer Schizophrenie erkrankt sind.
Zu wünschen ist auch, dass "Recovery" viele StudentInnen der Sozialarbeit/-pädagogik als LeserInnen gewinnen kann, in der Hoffnung dass sie dieses Konzept in den Sozialdiensten der Kliniken und im so genannten komplementären Bereich zukünftig integrieren.
Last but not least bietet das Buch für SozialwissenschaftlerInnen mit Interesse an der Versorgungsforschung eine kleine Einführung in die Methoden der Recoveryforschung und einen umfangreichen und aktuellen Literaturüberblick.
Diskussion
Recovery, das macht das Buch deutlich, ist ein Ansatz, auf den man sich einlassen können muss. Dies gilt für Betroffene ebenso wie für die Profis aus dem psychiatrischen Bereich. Der Text kann m.E. auch als ein Plädoyer für die Rückkehr bzw. Wiederbelebung des sozialpsychiatrischen Ansatzes gelesen werden, der in der Vergangenheit durch die biologische Psychiatrie immer mehr verdrängt worden ist. Die Autorinnen machen sich stark für eine soziale Psychiatrie ohne sich sozialer Romantik zu bedienen. Sie argumentieren stattdessen in weiten Teilen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Dann wieder zeigen sie sich erfrischend ehrlich und scheuen sich auch nicht vor Kritik an der eigenen Zunft und ihren Protagonisten (S. 34).
Sehr beeindruckt hat mich auch die differenzierte und trotzdem so verständliche Darstellung des Themas Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie (S. 44 ff).
Gewöhnungsbedürftig ist dagegen die fast ausschließliche Verwendung der weiblichen Form bei der Beschreibung von Personengruppen, weil sie bei der Vorstellung von Studienergebnissen gelegentlich zu dem Missverständnis führt, dass diese sich allein auf die Frauen innerhalb der untersuchten Gruppe beziehen. Warum diese Systematik ausgerechnet in einer Kapitelüberschrift (S. 198) wieder durchbrochen wird, bleibt rätselhaft.
Kritik ist m.E. auch am Aufbau des Buches zu üben, der an einigen Stellen Stringenz vermissen lässt, was gelegentlich inhaltliche Wiederholungen begünstigt.
Fazit
"Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit" ist ein wichtiges Buch, weil es für einen - zumindest in Deutschland - noch wenig beachteten Ansatz wirbt. Die Autorinnen stützen sich dabei auf eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien, beschränken sich aber nicht auf sie, sondern reichern ihren Text mit praktischen Tipps, Beispielen und Handlungsvorschlägen an. "Recovery" lädt zum Nach- und Umdenken ein, zum Hinterfragen eigener Leitbilder und Denkmuster. Es eignet sich gleichermaßen für Menschen mit Psychoseerfahrung wie für MitarbeiterInnen des psychiatrischen Bereichs. Im Idealfall begünstigt es die Begegnung zwischen Profis und Betroffenen auf gleicher Augenhöhe.
Rezension von
Ilja Ruhl
Soziologe M.A.
Website
Mailformular
Es gibt 24 Rezensionen von Ilja Ruhl.