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Katrin Mohr: Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat

Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 25.07.2007

Cover Katrin Mohr: Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat ISBN 978-3-531-15280-6

Katrin Mohr: Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat. Arbeitslosensicherung und Sozialhilfe in Großbritannien und Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2007. 271 Seiten. ISBN 978-3-531-15280-6. 29,90 EUR.

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Autorin

Katrin Mohr ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet zurzeit als sozialpolitische Referentin der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag. Zuvor war sie Doktorandin am Graduiertenkolleg "Die Zukunft des Europäischen Sozialmodells" in Göttingen. Neben ihrer vorliegenden Doktorarbeit zur Arbeitsmarkt- und Soziahilfepolitik in Großbritannien und Deutschland sind von ihr mehrere wissenschaftliche Ausätze und Zeitungsartikel zu sozialpolitischen Fragen erschienen.

Thema und Hintergrund

"Exklusion" ist seit den 1980er Jahren zu dem Begriff zur Beschreibung sozialer Ausgrenzung avanciert. Von Frankreich ausgehend ist dieses Konzept von der Europäischen Union aufgegriffen worden und hat sich mittlerweile in alle Mitgliedsstaaten verbreitet. Längst wird in Europa "Politik im Namen der Anti-Exklusion" gemacht: Unter dem Leitbild des "aktivierenden Sozialstaats" werden seit den 1990er Jahren überall in Europa die Erwerbslosensicherungssysteme umgebaut. Doch das Konzept der Exklusion ist höchst umstritten, verbergen sich dahinter doch sehr unterschiedliche Vorstellungen und Positionen, was Exklusion ist und wie sie zustande kommt. Deshalb geht Katrin Mohr in ihrer Studie der Frage nach, welche Mechanismen der Inklusion und Exklusion die Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe in Deutschland und Großbritannien aufweisen. Welche Auswirkungen haben die tief greifenden sozialpolitischen "Reformen" der letzten Jahre darauf?

Aufbau und Inhalt

  1. Einleitend stellt die Autorin drei zentrale wohlfahrtsstaatliche Position (Kapitel 1) heraus: Die erste sieht den Sozialstaat als reines Gegenmittel zu sozialer Exklusion. Die neoliberalen SozialstaatskritikerInnen hingegen sehen in ihm einen "Jobkiller", da er das "freie Spiel" der Marktkräfte und somit die Anpassung an flexible Arbeitsmärkte verhindere. Die VertreterInnen des "Dritten Weges", die Position der erneuerten Sozialdemokratie in Europa, verkürzen Exklusion auf den Ausschluss vom Arbeitsmarkt. Allen drei Positionen wirft Mohr vor, "ein einseitiges und unterkomplexes Bild des Wohlfahrtsstaates gemein" (16) zu haben. Sie nähmen die ambivalente "Rolle wohlfahrtsstaatlicher Institutionen in Prozessen sozialer Exklusion" (21) und die "Kehrseite wohlfahrtsstaatlicher Inklusion" nicht wahr.
  2. Der Exklusionsbegriff (Kapitel 2)) unterstellt, dass "die herkömmlichen Kategorien zur Analyse sozialer Ungleichheiten und Benachteiligungen" (27) nicht mehr ausreichen. Soziale Exklusion umschreibt neue Formen gesellschaftlicher Spaltung und sozialer Ungleichheit, die sich "vor dem Hintergrund wohlfahrtsstaatlicher Sicherung als neue soziale Frage stellen" (35). Ursachlich für die Prozesse der Exklusion sind, so Mohr, die Umbrüche in der Erwerbsarbeit, die Veränderungen der sozialen Nahbeziehungen und Lebensformen sowie die Restrukturierung sozialer Sicherungssysteme. Die Autorin plädiert im Anschluss an den Soziologen Martin Kronauer für einen Exklusionsbegriff, der nicht von einem vollständigen gesellschaftlichen Ausschluss ausgeht, sondern die Gleichzeitigkeit des "Drinnen" und "Draußen" betont. Exklusion sei dynamisch und prozesshaft zu verstehen - nicht als Zustand. Sie sei nicht allein auf den Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt zu verkürzen, sondern thematisiere den multiplen Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe.
  3. Mohr zeigt die Ambivalenzen wohlfahrtsstaatlicher Vergesellschaftung (Kapitel 3) auf. Denn der Wohlfahrtsstaat ist nicht allein "Inklusionsinstanz, sondern ist ebenso Instanz der Kommodifizierung der Arbeitskraft, der sozialen Kontrolle und Disziplinierung sowie der Stratifizierung" (49). Wohlfahrtsstaatliche Institutionen strukturieren soziale Exklusion, indem sie Zugangsbarrieren bilden (a), in vielen Fällen nicht geeignet sind, Armut zu verhindern (b) und Inklusions- und. Exklusionskarrieren bewirken (c).
  4. Entlang dieser drei Dimensionen analysiert sie nach der Beschreibung der Sozialmodelle Großbritanniens und Deutschlands (Kapitel 4) die institutionellen Strukturierungslogiken der Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe in beiden Länder.
  5. Zunächst untersucht sie die unterschiedlichen Mechanismen, die den Zugang zu Sozialleistungen (Kapital 5) regulieren: Zahlreiche aufenthaltsrechtliche Barrieren beschränken oder verhindern den Zugang von MigrantInnen zu Leistungen, da soziale Rechte exklusiv an die Staatsbürgerschaft gekoppelt sind (Mitgliedschaftsgrenzen). Die sozialrechtlichen Anspruchskriterien sind in beiden Ländern in den letzten Jahren verschärft worden und haben die Berechtigungsgrenzen nach oben gesetzt. Darüber hinaus bestehen faktische Zugangsgrenzen zu verschiedenen Sozialleistung aufgrund von "Löcher[n] im Netz sozialer Sicherung" (143): Zum einen führt die Zunahme prekärer Beschäftigung dazu, dass viele Menschen keinen Anspruch mehr an die Arbeitslosenversicherung erwerben. Zum anderen nehmen viele Menschen bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen nicht in Anspruch, obwohl sie Anrechte haben.
  6. Deshalb untersucht Mohr die Qualität sozialstaatlicher Unterstützung (Kapitel 6) hinsichtlich ihrer Leistungshöhe und des mit ihrem Bezug verbundenen Stigmas. "Zwar ist das deutsche Leistungssystem insgesamt erfolgreicher in der Armutsbekämpfung, hinsichtlich bedürftigkeitsgeprüfter Leistungen schneidet es aber deutlich schlechter ab als das britische." (179) In vielen Fällen ist es substantiell nicht geeignet, Armut zu verhindern. Der Bezug bedürftigkeitsgeprüfter Leistungen für Erwerbslose stigmatisiert die EmpfängerInnen in Deutschland weit mehr als im "liberalen" Großbritannien.
  7. In die Arbeitslosensicherung und Sozialhilfe sind institutionelle Inklusions- und Exklusionskarrieren (Kapital 7) eingebaut, die sich durch die in den 1990er Jahren vollzogenen Reformen im Namen der Aktivierung und Anti-Exklusion in beiden Ländern gewandelt haben. Zwar ist in der britischen Arbeitslosensicherung der Abstieg bisher weitaus steiler gewesen als in deutschen, mit der Einführung von Hartz IV sind sich die Systeme aber ähnlicher geworden. In beiden Ländern haben sozialdemokratisch geführte Regierungen Aktivierungspolitiken mit work first-Orientierung eingeführt, deren oberstes Ziel es ist, Erwerblose möglichst schnell in marktförmige Beschäftigung zu bringen. Mohr kritisiert, dass dem ein verkürztes Verständnis von sozialer Inklusion zugrunde liege, welches die fatale Folge habe, dass gerade in den unteren Segmenten des Arbeitsmarktes der Konkurrenzdruck rapide erhöht wird. Weitere mögliche Auswirkungen dieser Aktivierungspolitiken sind, dass soziale Rechte einen unsicheren Status bekommen und der individualisierende Aktivierungsdiskurs die gesellschaftliche Akzeptanz sozialstaatlicher Unterstützung für Erwerbslose und Arme untergrabe.
  8. In ihrem Fazit (Kapitel 8) stellt die Autorin Überlegungen zu einer "Politik der Eingrenzung sozialer Ausgrenzung" (234) an, die sich am Leitbild eines "demokratischen Sozialstaats" orientiert, wie er von den Soziologen Stephan Lessenich und Möhring-Hesse entworfen wurde.

Fazit

Katrin Mohrs Analyse, die sich an ein wissenschaftliches Publikum richtet, trägt maßgeblich zur politischen Auseinandersetzung um die Reform des Sozialstaats bei. Indem sie danach fragt, wo sozialstaatliche Institutionen selbst ausgrenzungsverschärfend wirken und die Ambivalenzen wohlfahrtsstaatlicher Vergesellschaftung aufzeigt, ermöglicht sie einen "ehrlicheren" Blick auf die Reformdebatte des Sozialstaats unter dem Leitbild der "Aktivierung". Sie leistet einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte um den Wandel des Wohlfahrtsstaates und räumt mit einigen Mythen über das britische und deutsche Sozialhilfesystem auf. Ihre Untersuchung der Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe weist deutlich die Ähnlichkeiten des Reformkurses in Deutschland und Großbritannien nach. Darüber hinaus legt sie einen Grundstein für eine "Ungleichheitsforschung mit institutionellem Fokus", die hierzulande noch unterentwickelt, in anderen europäischen Ländern aber viel verbreiteter ist.

Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
Website

Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.

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ISSN 2190-9245