Dirk Villányi, Matthias D. Witte u.a. (Hrsg.): Globale Jugend und Jugendkulturen
Rezensiert von Prof. Dr. Stephan Quensel, 11.02.2008

Dirk Villányi, Matthias D. Witte, Uwe Sander (Hrsg.): Globale Jugend und Jugendkulturen. Aufwachsen im Zeitalter der Globalisierung.
Juventa Verlag
(Weinheim ) 2007.
420 Seiten.
ISBN 978-3-7799-1746-5.
28,00 EUR.
CH: 49,00 sFr.
Reihe: Jugendforschung.
Überblick
Die Jugendsoziologie untersucht die Rolle der Jugend in und für die Gesellschaft. Doch: Welche Gesellschaft? Im historischen Rückblick kann man, grob vereinfacht, drei Phasen unterscheiden: Einen Beginn mit der frühen Jugendbewegung des Wandervogels und der boy scouts im Anfang des 20. Jhd. noch im nationalstaatlichen Rahmen (W: Ferchhoff : "Geschichte globaler Jugend und Jugendkulturen"). Nach dem zweiten Weltkrieg erreichte dann die studentische Protestbewegung 1967/68 erstmals eine weltweite Ausstrahlungskraft. Und seit den 80er Jahren entwickelt sich, medial unterstützt, die postmodern eingefärbte Doppelbewegung einer übergreifenden konsumorientierten Jugendkultur einerseits, sowie eine zweite Welle eines globalisierungskritischen Protests gegen Ungleichheit andererseits. Diesem bisher nur wenig analysierten "dialektischen" Wechselprozess von Globalisierung und Jugendkultur widmen sich im vorliegenden Sammelband 31 AutorInnen in 26 zumeist recht kurzgefassten Beiträgen.
Grundlinien
Die Vielfalt dieser Beiträge kreist im Grunde um zwei methodologisch und theoretisch zentrale Fragestellungen: Unter welcher Perspektive kann man sich diesem Phänomen "Jugend" nähern. Und wie lässt sich dieser "dialektische" Prozess konzeptuell einfangen.
Methodisch geht es zunächst darum, "den auf den Binnenraum des Nationalstaates begrenzten Blick eines methodologischen Nationalismus" zu Gunsten eines "methodologischen Kosmopolitismus" aufzugeben (U.Beck/E.Beck-Gernsheim: "Generation global und die Falle des methodologischen Nationalismus"). Ein Unterfangen, das freilich dann leicht an seine Grenzen stößt, wenn man international die höchst unterschiedlichen Ausgangsbedingungen einer "globalen Jugend" in Brasilien, Deutschland, Indien und Japan vergleicht: Insgesamt zeigt sich dann, "dass es aus strukturellen Gründen, aus Gründen kultureller Differenzen und aus Gründen sich verändernder Sozialintegration nicht zur Ausbildung einer globalen Jugend oder globalen Jugendgestalt kommt" (M. Junge: "Globale Jugend?" S. 133). Auch die zweite methodologisch relevante Perspektive wird von Beck/Beck-Gernsheim (S.56) angeschnitten: Soll man bei der Analyse die "sozialwissenschaftliche Beobachterperspektive" oder doch die "Akteursperspektive" der Jugendlichen übernehmen? Eine Frage, die dann an Gewicht gewinnt, wenn es darum geht, die Bedeutung der Eigeninitiative der Jugendlichen hervorzuheben oder gar sich "mit einem wachsenden Teil der Jugendforscherinnen und -forscher als Anwalt der Jugendlichen zu verstehen, um deren Sichtweisen und Interessen in Gesellschaft und Politik zur Geltung zu bringen"(D. Villányi: "No link, no future!" S.399).
Konzeptionell besteht die Aufgabe zunächst darin, "Jugend" sowohl als eigenständige Phase mit einer eigenen (Teil-)Kultur, und nicht nur als Durchgangs-Moratorium hin zum Erwachsenen-Sein zu erfassen. Aber auch darin, sie als "Generation" im Sinne von Karl Mannheim zu verstehen, die in sehr unterschiedlicher Weise den gleichen Einflüssen dieser Globalisierung ausgesetzt ist - der globalen Medien- und Internet-Wirklichkeit, der konsumorientierten McDonalisierung (Ritsert), wie auch der Erfahrung, als "Globalisierungs-Verlierer" (Blossfeld) mit einer wachsenden Ungleichheit umgehen zu müssen (A. Schäfer : "Jugend im Wandel der Arbeitsgesellschaft"). Konzeptionell äußert sich diese "Dialektik" zwischen einer auf Vereinheitlichung drängenden, markt- und medienträchtigen Globalisierung und einer widerständigen Eigenverarbeitung in drei relevanten Bereichen besonders eindrücklich:
Zunächst zerbröselt sie in einem Prozess der Glokalisierung (Robertson) in eine Vielfalt konkurrierender Jugendstile und "Szenen", in denen zum Beispiel ""mondial" vorfindbare Jugendkulturen, wie etwa HipHop, national und dann noch einmal lokal gebrochen werden. So entstehen lokale Subspezies von Jugendkulturen (… ) hybride Konstruktionen, die durch globale Medieneinflüsse einerseits und lokale Kulturenszenen andererseits bestimmt sind" (S.Ganguin/U.Sander : "Jugend und Medien im Zeitalter der Globalisierung"S, 160f).
Sodann zeigt sich auch auf der Ebene der - durch diese Kultureinflüsse geprägten - Identität, dass an Stelle traditioneller Sorge vor einer "Identitätsdiffusion des marginal man" heute neue "postmoderne hybride Identitätsformationen entstehen, in denen verstärkt Gegensätzliches zur Wirkung kommt und ausgehalten werden muss", was K. Hugger ("Verortung der Ortlosigkeit" S. 174) am Beispiel der Online-Communities von Migrantenjugendlichen in Deutschland gut belegen kann.
Schließlich folgt die Verarbeitung dieser Globalisierungseinflüsse zwei ganz unterschiedlichen Wegen: Einerseits als - national-kulturell variabler - kompensatorischer Konsum oder auch als "Konsumsucht" (E. Lange: "Jugendliche Konsummuster in Deutschland, Südkorea und Polen"; M.Harring/C. Palentien/C. Rohlfs: "Jugend Jugendkulturen und Gesundheit im Zeitalter der Globalisierung"). Und andererseits als wiederum höchst unterschiedlich ausgeformter Jugendprotest gegen die wachsende soziale Ungerechtigkeit "in den Ländern der Peripherie und in den Zentren der Weltwirtschaft" . Von der "extrem nationalistischen Jugendkultur in Russland" über die "Kinderbewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika", die sich "als aktive, d.h. denkende, empfindende und handelnden Subjekte verstanden wissen wollen" und die Jugendproteste in Frankreich 2006 und 2005 bis hin zur "transnationalen "linken" globalisierungskritischen Bewegung in Nordamerika und Westeuropa" (A.Schäfer/M. Witte: "Globaler Jugendprotest" S.213ff).
Was heißt Jugend-Kultur?
Entsprechend der "Tradition der Bielefelder Jugendforschung" (S.9) liegt das Schwergewicht der Beiträge im "kulturellen" Ansatz, wenn auch sozioökonomische Aspekte i.w.S. nicht ganz vernachlässigt werden: Neben dem erwähnten Aufsatz von Schäfer wird dieser Aspekt etwa von V.Uriona/R.Hoffmann für die argentinische Jugend angesprochen und von S.Tautz/A.Bähr/S.Wölte ("Globalisierung und kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen") näher ausgeführt.
Die übrigen Beiträge beleuchten zumeist Puzzle-artig einzelne kulturelle Momente, wie Kleidung, Musik, Sport, Tanzen, Religion, Lernen, Freundschaft und die Liebe "romantischer Pragmatiker" (C.Schuldt). Einen umfassenderen Ansatz, wie er etwa neben den frühen Arbeiten von Baake vor allem im englischen Centre of Contemporary Cultural Studies (CCCS) seit den frühen 80ern eingeschlagen wurde, sucht man dagegen vergebens, obwohl es doch eigentlich Zeit wäre, die dort versuchte Synthese zwischen soziostrukturellen und kulturell bestimmten Einflüssen nun auf einer "höheren", d.h. globalisierten Ebene, die ja durch beide Momente bestimmt wird, fortzuführen, wie dies etwa von J.Friedman ("Cultural Identity & Global Process" 1995) angestrebt wurde.
Überhaupt fällt auf, wie schwierig es ist, die von Beck/Beck-Gernsheim gerügte Ebene des "methodologischen Nationalismus" zu verlassen. Und zwar sowohl in den Literaturverzeichnissen, die weithin auf englischsprachige Literatur verzichten (sieht man einmal ab von den häufiger zitierten Arbeiten von Blossfeld und Robertson sowie den Hinweisen auf die Definitionsversuchen von Giddens), wie auch in der noch weithin fehlenden komparativen empirischen Forschung. Dies gilt übrigens auch für die von H.Kahlert zu recht monierten fehlenden "Konturen einer geschlechtskategorialen Jugendforschung im Zeitalter der Globalisierung" einerseits und die im Sammelband nicht angesprochene Dialektik eines Konfliktes der Generationen andererseits. Beide Ansätze könnten einer "postmodernen", d.h. auf Globalisierung angelegten Jugend-Kultur-Forschung praktisch wie vor allem aber auch theoretisch weiterführende Aspekte für die aufgeworfenen Fragen nach dem Wechselverhältnis zwischen Kultur, Ökonomie und Herrschaft nunmehr im Rahmen eines "methodologischen Kosmopolitismus" liefern.
Fazit
Als Sammelband ist dieses Buch gut konzipiert, insgesamt auch gut lesbar. Es bietet einen ersten Einblick in eine noch immer recht junge Globalisierungs-Diskussion, auf die wir uns in Zukunft praktisch, empirisch wie theoretisch sehr viel intensiver einlassen müssen, auch, um dem wieder auflebenden dumpfen Ausländer- und Islamisten-Lärm argumentativ begegnen zu können.
Rezension von
Prof. Dr. Stephan Quensel
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Zitiervorschlag
Stephan Quensel. Rezension vom 11.02.2008 zu:
Dirk Villányi, Matthias D. Witte, Uwe Sander (Hrsg.): Globale Jugend und Jugendkulturen. Aufwachsen im Zeitalter der Globalisierung. Juventa Verlag
(Weinheim ) 2007.
ISBN 978-3-7799-1746-5.
Reihe: Jugendforschung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4949.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.
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