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Dirk Baecker: Wirtschaftssoziologie

Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 26.04.2008

Cover Dirk Baecker: Wirtschaftssoziologie ISBN 978-3-933127-36-5

Dirk Baecker: Wirtschaftssoziologie. transcript (Bielefeld) 2006. 184 Seiten. ISBN 978-3-933127-36-5. 15,00 EUR.
Reihe: Einsichten.

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Thema

Dirk Baecker konstruiert eine Wirtschaftssoziologie. Sie reicht von den (wirtschaftssoziologischen) Klassikern Emile Durkheim, Georg Simmel, Gabriel Tarde, Max Weber und Marcel Mauss über die allgemeine soziologische Theorie (Niklas Luhmanns Systemtheorie, Harrison C. Whites Netzwerktheorie und Talcott Parsons Handlungstheorie) zur aktuellen wirtschaftssoziologischen Forschung.

Hintergrund/Vorgeschichte

Die Wirtschaftssoziologie ist wieder "in". Nachdem sie während der vorletzten Jahrhundertwende der Soziologie zu ihrer Geltung verholfen hatte, stand sie viele Jahrzehnte im Schatten ihres Konkurrenten, der Wirtschaftswissenschaften. Durch die erstarkte Rolle der Kapitalmärkte, durch neue technische Möglichkeiten, mit deren Hilfe Milliarden Dollars /Euros mit der Aussicht auf Gewinne blitzschnell um den Globus herumgeschickt werden, durch den wirtschaftlichen Erfolg der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), durch Krisenerscheinungen wie die gegenwärtige Finanzierungskrise, durch den Wertverlust des Dollars etc., schliesslich auch dadurch, dass die Wirtschaftswissenschaften alle Fragen bereits "doppelt und dreifach" (Baecker, 2006, S. 5) beantwortet haben, erfährt die Wirtschaftssoziologie eine ungeahnte Renaissance. Diese findet nach Ansicht Baeckers derzeit vor allem im Bereich der Forschung "auf den Gebieten des Konsums, der Finanzmärkte und der Unternehmensorganisation" (ebd.) statt, weniger auf dem Gebiet "einer eigenständigen soziologischen Theorie der Wirtschaft" (ebd.). Grund genug für Baecker, eine neue Einführung in die Wirtschaftssoziologie zu verfassen.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in die vier großen Kapitel

  1. "Knappheit",
  2. "Geld",
  3. "Märkte" und
  4. "Gesellschaft"

aufgeteilt. In diesen Kapiteln finden wir eine Beschreibung der Wirtschaft als "eine von der Gesellschaft insgesamt getragene soziale Konstruktion" (ebd., S. 7). Baecker möchte herausfinden, "mithilfe welcher Organisationen es der Wirtschaft gelingt, sich tagtäglich in ihrem eigenen Geflecht zurechtzufinden" (ebd.). Für viele LeserInnen wird diese Ausgangsposition eine Überraschung sein, kennen sie doch eher die vertraute, oftmals wertende Gegenüberstellung von "Geld und Geist" (mit den Extrempolen "unaufhaltsamer Fortschritt hin zu immer größerem Wohlstand" versus "immer weiter zunehmende Ausbeutung und Entfremdung des Menschen") und die daraus abzuleitenden politischen Handlungsmaxime. Baeckers Ansatz hingegen, die Wirtschaftssoziologie aufzubereiten und ihr einen "geschlossenen Theorierahmen" zur Verfügung zu stellen, beruht auf einer einzigen Annahme, nämlich "… dass die Wirtschaft in der Gesellschaft die Funktion der Knappheitskommunikation" erfüllt (ebd., S. 6).

Der Begriff der Knappheit fungiert in der ökonomischen Theorie als Grundkonzept. In unserem Alltagsverständnis neigen wir dazu, die Knappheit als ein "naturgegebenes" Phänomen anzusehen. Das – so Alois Hahn in einem frühen Aufsatz zur Knappheit - "gilt jedenfalls für die Knappheit der Güter, die als anthropologische Konstante für die Universalität des "Wirtschaftens" verantwortlich gemacht wird... (Hahn 1987, S. 119). Knappheit – so Hahn – ist ein Konzept, welches im strengen Sinne nicht Wirtschaft fundiert, sondern durch sie erst begründet wird. So lässt sich die Tatsache erklären, dass wirtschaftliches Handeln unentwegt neue Formen von Knappheit produziert (ein Beispiel aus jüngerer Zeit sind die  sog. "Eco-Computer" - stromsparende PC's).

In seinem ersten Kapitel führt Baecker diese Grundannahmen weiter aus: "Die Funktion der Wirtschaft in der Gesellschaft besteht nicht nur darin, Knappheitssituationen zu bewältigen, sondern darüberhinaus auch darin, diese Knappheit so einzuführen und zu kommunizieren, dass sie bewältigt werden kann" (Baecker, 2006, S. 9).

In wichtigen Bereichen unseres täglichen Lebens handeln, beeinflussen, begehren wir mit dem Geld und durch das Geld; jeder – so Heinemann (1987, S. 322), der "besser" leben will, muss intensiver mit dem Geld leben und sich auf jene Welt und Gesellschaft einstellen, die den Geldgebrauch ermöglicht und erzwingt. Baecker betrachtet Geld in seinem zweiten Kapitel "systemkonform" als dasjenige Kommunikationsmedium der Wirtschaft, "…das es nicht nur ermöglicht, sondern darüberhinaus auf eine Art und Weise erlebt werden kann und muss, die wirtschaftsaffin ist, also in ein Kalkül des Umgangs mit Knappheit, mit Angebot und Nachfrage an Gütern und Dienstleistungen umgesetzt werden kann" (Baecker, 2006, S. 9).

Adam Smith's Formel von der "unsichtbaren Hand" ist zum Inbegriff der Vorstellung einer spontanen sozialen Ordnung geworden, in der das Zusammenspiel individueller eigeninteressierter Bestrebungen zur Förderung der Wohlfahrt aller Beteiligten gerät (Vanberg 1987, S. 263). Diese Vorstellung ist in der Idee des Marktes als eines Systems dezentraler, spontaner Kooperation zum paradigmatischen Kern der ökonomischen Theorietradition geworden (ebd.). Für Baecker beschäftigen Märkte sich mit den Strukturen, in denen die Kommunikation von Knappheit innerhalb der Wirtschaft stattfindet (Baecker, 2006, S. 10). Soziologen wie er beschreiben diese Strukturen als soziale Strukturen der wechselseitigen Beobachtung von Konkurrenten. Er fragt nach dem Anteil, den die Märkte an einer zu ihnen passenden Konstitution von andernorts konstituierten Bedürfnissen haben (nicht also danach, dass diese andernorts konstituierten Bedürfnisse auf Märkten mehr oder minder vollkommen zum Austausch gebracht werden).

Im vierten Kapitel "Gesellschaft" wird ein besonderes Merkmal der Herangehensweise Baeckers deutlich: die objektiv-neutrale Haltung eines beschreibenden Beobachters. Ein Satz mag dies verdeutlichen: "Tatsächlich zeigt die historische Erfahrung, dass sich im Sozialismus der Markt und im Liberalismus die Differenz der Organisationen unter der Hand wieder durchsetzen, die politisch ausgeblendet werden, indem im Sozialismus der Markt ausgeschaltet und im Liberalismus die Bedeutung der Organisation verkannt wird" (ebd., S. 125). Vor diesem Hintergrund geraten die das Buch abschliessenden Betrachtungen des Begriffsverständnisses von "Kapitalismus" (vgl. dazu auch: Brenner 1987) zu einer deutlichen Abgrenzung von jenen Vermutungen, die Verteilungsmuster von Überfluss und Knappheit als Resultat einer Klassenherrschaft zu bezeichnen. Stattdessen plädiert Baecker mit Luhmann und Habermas dafür, die Analyse der Wirtschaft nicht auf dem Produktionsbegriff, sondern auf dem Kommunikationsbegriff zu begründen.

Zielgruppen

Das Buch wurde explizit als "Einführung" in die Wirtschaftssoziologie (z.B. Baecker, 2006, S. 41; S. 43) geschrieben. Zielgruppe sind - so ist zu vermuten -  Studierende der Soziologie (und verwandter Wissenschaften) in den ersten Semestern ihres Studiums.

Diskussion

Die fachliche Qualifikation des Autors ist unbestritten. Das Buch argumentiert auf hohem, leider auch auf sehr abstraktem Niveau. Immer wieder scheinen die Intelligenz und die Fähigkeit des Verfassers durch, hochkomplexe Sachverhalte zu beschreiben. Doch weil dieses Buch explizit als Einführung angekündigt wird (und sich an Studierende zu Beginn des Studiums richtet), schießt es über sein Ziel hinaus. Das vorliegende Buch ist keine Einführung für Studierende in den ersten Semestern. Dazu ist es viel zu abstrakt und zu schwierig lesbar.

Fazit

Das Buch wurde von einem hochintelligenten Menschen geschrieben, der es versteht, hochkomplexe Sachverhalte zu erfassen und dessen erklärtes Anliegen es ist, die Geschichte und den aktuellen Stand der Wirtschaftssoziologie in einem "geschlossenen Theorierahmen" unterzubringen. Dieses Ziel wird eindeutig erreicht und verdient Lob und Anerkennung.

Als Einführung in die Wirtschaftssoziologie ist dieses Buch nicht geeignet. Dazu ist es zu abstrakt. Ich habe mir daher erlaubt, einige Literatur aus dem hervorragenden Sonderheft der Kölner Zeitschrift zu zitieren (s.u.), die m.E. - gekoppelt mit Veröffentlichungen wie den Büchern von Lothar Hack oder dem aktuellen Band von Beckert/Diaz-Bone/Ganßmann (Hg.) – einer verständlichen (und nicht abschreckenden) Einführung in einige grundlegende Themen der Wirtschaftssoziologie näher kommen.

Literatur

  • Beckert,J./Diaz-Bone,R./Ganßmann,H. (Hg.): Märke als soziale Strukturen, Frankfurt/New York 2007;
  • Brenner, Y.S.: Interesseorientiertes Handeln in modernen Gesellschaften; in: Heinemann,K. (Hg.): Soziologie wirtschaftlichen Handelns; Sonderheft 2/1987 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1987, S. 73-96;
  • Carell, E.: Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 9. verb. Aufl., Heidelberg 1961;
  • Hack,L.: Wie Globalisierung gemacht wird. Ein Vergleich der Organisationsformen und Konzernstrategien von General Electric und Thomson, Berlin 2007 (unter Mitarbeit von I. Hack);
  • Hahn, A.: Soziologische Aspekte der Knappheit; in: Heinemann,K. (Hg.): Soziologie wirtschaftlichen Handelns; Sonderheft 2/1987 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1987, S. 119-132;
  • Heinemann, K.: Soziologie des Geldes; in: Heinemann,K. (Hg.): Soziologie wirtschaftlichen Handelns; Sonderheft 2/1987 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1987, S. 332-338;
  • Vanberg,V.: Markt, Organisation und Reziprozität; in: in: Heinemann,K. (Hg.): Soziologie wirtschaftlichen Handelns; Sonderheft 2/1987 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1987, S. 263-279.

Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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Es gibt 55 Rezensionen von Joachim Thönnessen.

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Zitiervorschlag
Joachim Thönnessen. Rezension vom 26.04.2008 zu: Dirk Baecker: Wirtschaftssoziologie. transcript (Bielefeld) 2006. ISBN 978-3-933127-36-5. Reihe: Einsichten. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4989.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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