Michael Florian, Frank Hillebrandt (Hrsg.): Pierre Bourdieu
Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 26.04.2008
Michael Florian, Frank Hillebrandt (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Neue Perspektiven für die Soziologie der Wirtschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2006. 242 Seiten. ISBN 978-3-531-15052-9. 36,90 EUR.
Thema
Seit Beginn der 1980er Jahre erfährt die Soziologie der Wirtschaft - ausgehend von den USA – eine bemerkenswerte Wiederbelebung. Ihr theoretischer Kern besteht – bei aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit der einzelnen Ansätze – darin, "ökonomische Phänomene wie zum Beispiel die Entstehung, den Wandel und die Wirkungsweise ökonomischer Institutionen, die Genese und Dynamik von Märkten und Tauschprozessen, die Verwendung von Geld und Bildung von Preisen sowie die Entwicklung ökonomischer Präferenzen, Strategien und Entscheidungen als sozial konstruiert zu erklären" (Florian/Hillebrandt, 2006, S.8; Hervorh. d. Herausgeber). Diese und andere Entwicklungen bilden den Hintergrund für das vorliegende Buch, in dem die Frage gestellt wird, welche neuen Perspektiven die praxistheoretischen Arbeiten von Pierre Bourdieu für die Soziologie der Wirtschaft zu bieten haben (ebd., S. 9).
Entstehungshintergrund
Dieser Sammelband ist als Ergebnisdokumentation der Fachtagung "Pierre Bourdieu: Neue Perspektiven für die Soziologie der Wirtschaft" entstanden. Diese Tagung fand Anfang Dezember 2005 an der Technischen Universität Hamburg-Harburg statt. Die Initiative für die Tagung entstand im Rahmen des DFG-geförderten interdisziplinären Forschungsprojektes "Modellierung sozialer Organisationsformen in Verteilter Künstlicher Intelligenz und Soziologie" (FL 336/1-3) im Schwerpunktprogramm 1077 "Sozionik" (von 1999-2006), welches sich mit den Möglichkeiten einer Weiterentwicklung der Praxistheorie Pierre Bourdieus – insbesondere im Bereich der Organisations- und Wirtschaftssoziologie – befasst hat (ebd., S. 7).
Aufbau und Inhalt
Neben der Einleitung beinhaltet das Buch insgesamt neun Aufsätze. Der erste Aufsatz stammt von Pierre Bourdieu ("Das Recht und die Umgehung des Rechts"); alle weiteren wurden von – an Universitäten in Deutschland beschäftigten ProfessorInnnen, wissenschaftlichen AssistentInnen/MitarbeiterInnen, einem Oberingenieur und einem Forschungsstipendiaten verfasst.
- Der erstmals in deutscher Sprache vorliegende Artikel von Pierre Bourdieu beinhaltet eine empirische Untersuchung zum strategischen Umgang mit und der Umgehung von rechtlichen Vorschriften, die in Frankreich bei der Genehmigung von Bauvorhaben eingehalten werden müssen. Anhand von dokumentierten Interviews wird die "praktische Logik des strategischen Gebrauchs formaler bürokratischer Regeln aufgedeckt" (ebd., S. 13). Die Herausgeber ergänzen in ihrer Einleitung: "Am Beispiel der rechtlichen Regulierung ökonomischer Prozesse wird die zentrale Idee einer Soziologie der Praxis, dass die Logik der Praxis nicht deduktiv aus einer theoretischen Logik abgeleitet werden kann, in eine praktische Forschungsstrategie zur Untersuchung der modernen Ökonomie überführt" (ebd.).
Alle übrigen Artikel sind theoretischer Natur (und damit ein Tatbestand, der Pierre Bourdieu wohl eher wenig gefallen hätte und den soeben zitierten Satz der Herausgeber ad absurdum führt!)! Aber davon weiter unten im Fazit mehr.
- Rainer Diaz-Bone stellt verschiedene Anschlüsse an bzw. Perspektiven nach Bourdieu in der französischen Wirtschaftssoziologie her.
- Michael Florian beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit der Bedeutung des Bourdieu«schen Beitrags für die Wirtschaftssoziologie.
- Sophie Mützel vergleicht den Bourdieu«schen Ansatz mit netzwerkanalytischen Arbeiten.
- Andrea Maurer arbeitet in einem empfehlenswerten Artikel die Grundfragen und -probleme einer Soziologie der Wirtschaft heraus. Das Ergebnis dieser Arbeit macht sie zum Ausgangspunkt einer "Bourdieukonstruktion" (ebd, S. 129), dessen Beitrag für die Ausarbeitung der Wirtschaftssoziologie anschliessend abgewogen wird.
- Frank Hillebrandt untersucht anhand der Praxistheorie Bourdieus "eine der wichtigsten sozialen Mechanismen des Felds der Wirtschaft" (ebd., S. 147): den Tausch.
- Bettina Fley geht am Beispiel der Transportwirtschaft der Frage nach, welchen Beitrag die Theorie Bourdieus zu einer Wirtschaftssoziologie des Wettbewerbs (ebd., S. 170) leisten kann.
- Jürgen Mackert beschäftigt sich mit Bourdieus Kapitalismuskritik, die dieser als Kritik des Neoliberalismus formulierte.
- Ute Volkmann und Uwe Schimank beschliessen den Band mit einem Beitrag, in dem – mit Hilfe von Luhmann und Bourdieu – schrittweise ein "theoretisch stimmiges Konzept kapitalistischer Gesellschaften" (ebd., S. 224) erarbeitet wird.
Zielgruppen
Studierende und Lehrende der Geisteswissenschaften, insbesondere der Soziologie
Diskussion
Autoren wie Karl Marx und Max Weber, Erving Goffman und vor allem auch Pierre Bourdieu begründeten und demonstrierten mit ihren Arbeiten die konstitutive Bedeutung empirischer Untersuchungen für die Theoriebildung. Lothar Hack erläutert diesen Sachverhalt am Beispiel des Kapitalismus wie folgt: "So wie sich das Verhältnis von Kapital und Arbeit (von totem Kapital und lebendigem Arbeitsvermögen) nicht zureichend als Text (auch nicht als "Kontext") konzeptionalisieren ließ und lässt, so wenig lassen sich kapitalistische Technisierungsprozesse und Organisationsformen auf Texte reduzieren" (Hack 2007, S. 470).
Für mich stellt dieses Buch eine verpasste Chance dar, den Anforderungen Bourdieus gerecht zu werden. Ganz sicher liegt es nicht an den vielen qualifizierten VerfasserInnen, dass hier die "empirische Bodenhaftung" fehlt. Geisteswissenschaft in Deutschland ist leider nach wie vor an stark theorielastigen Qualitätsanforderungen orientiert, die von maßgeblichen finanziellen Förderern wie der DFG vorgegeben werden.
Fazit
Für Bourdieu-Anhänger ein Muss. Für Studierende der Soziologie ein Kann. Für jene, die sich für "gute" Geisteswissenschaften interessieren, ein Buch, welches getrost liegen gelassen werden kann – zumal der vom Verlag verlangte Preis völlig überzogen ist.
Verwendete Literatur
- Hack, Lothar (unter Mitarbeit von Irmgard Hack): Wie Globalisierung gemacht wird. Ein Vergleich der Organisationsformen und Konzernstrategien von General Electric und Thomson/Thales, Berlin 2007
Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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Zitiervorschlag
Joachim Thönnessen. Rezension vom 26.04.2008 zu:
Michael Florian, Frank Hillebrandt (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Neue Perspektiven für die Soziologie der Wirtschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2006.
ISBN 978-3-531-15052-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4991.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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