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Andreas Hinz (Hrsg.): Schwere Mehrfachbehinderung und Integration

Rezensiert von Dr. Elke Schön, 20.05.2008

Cover Andreas Hinz (Hrsg.): Schwere Mehrfachbehinderung und Integration ISBN 978-3-89896-285-8

Andreas Hinz (Hrsg.): Schwere Mehrfachbehinderung und Integration. Herausforderungen, Erfahrungen, Perspektiven. Athena-Verlag e.K. (Oberhausen) 2007. 256 Seiten. ISBN 978-3-89896-285-8. 15,00 EUR. CH: 26,50 sFr.
In Kooperation mit der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V.

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Thema

Um Menschen, die in Deutschland unter Bedingungen schwerer Mehrfachbehinderung leben müssen, nicht länger von Subjektstatus, Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe auszuschließen und damit in ihren Menschen- und Gleichstellungsrechten zu beschneiden, ist politische Aufmerksamkeit und politisches Handeln besonders herausgefordert. Erfahrungen mit innovativen Konzepten, neuen Unterstützungsstrukturen und Umgestaltungsversuchen belegen, dass Partizipation auch für diese Personengruppe ohne Einschränkungen in allen Lebensbereichen möglich ist. Solche Gegenentwürfe sind richtungsweisend und bedürfen der flächendeckenden Umsetzung. Nur so lässt sich institutionalisierter Segregation entgegen wirken.

Unter dem Paradigmenwechsel und dem Schlüsselbegriff "Inklusion" hat heute auch im deutschsprachigen Diskurs die in Bezug auf die Personengruppe lange vernachlässigte Debatte um Fragen nach den Bedürfnissen und Interessen Betroffener, sowie nach den für Prozesse ihrer gleichberechtigten Teilhabe / Beteiligung erforderlichen Strukturen, Lernprozessen und Orientierungen an Gewicht gewonnen.

Anliegen der Herausgeber

Mit dem vorliegenden Band soll der Fachdiskurs aus (integrations)pädagogischer Perspektive zur Unterstützung gleichberechtigter Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit schwerer Mehrfachbehinderung angeregt und verstärkt werden. Den Schwerpunkt haben die Herausgeber – das sind die Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. und Andreas Hinz, Professor für Rehabilitationspädagogik an der Universität Halle-Wittenberg – dabei auf die allgemeinen Schulen gelegt: Dort gilt es, bereits erprobte Möglichkeiten gleichberechtigter Teilhabe bildungspolitisch konsequent und flächendeckend zu gestalten. Ebenso ist den Herausgebenden ein Anliegen, Impulse für "integrative" und "inklusive" Entwicklungen in anderen Lebensbereichen zu geben.

Zielgruppen

Mit seiner Fokussierung auf den Fachdiskurs scheint der Band vor allem an Pädagogen / Pädagoginnen und jene, die sich fachspezifisch oder in Politik und Planung mit Fragen von Inklusion und Teilhabe befassen, gerichtet zu sein. Gelesen werden kann er aus meiner Sicht aber auch von Betroffenen, die selbst mit einer schweren Behinderung leben, sowie von Angehörigen und allen, die in Initiativen um Verbesserungen und Umsetzung von Teilhabe-Rechten ringen. Allerdings ist der Band nicht in "leichter Sprache" verfasst.

Aufbau und Inhalt im Überblick

Die 6,5 Seiten umfassende Einleitung des Sammelbandes wurde von Maren Müller-Erichsen und Theo Frühauf, beide von der Bundesvereinigung Lebenshilfe, verfasst (Seiten 8 – 14). Hier finden sich: eine Begründung für die Herausgabe des Bandes, eine Beschreibung der ausgemachten Personengruppen und Ausführungen zur politisch vorfindbaren Wirklichkeit von Kindern und Jugendlichen mit schwerer Mehrfachbehinderung am Beispiel "Schule".

Es folgen fünf inhaltlich gegliederte Kapitel mit mehr oder weniger umfassenden Beiträgen zahlreicher Autorinnen und Autoren:

  1. Das erste Kapitel "Grundlegende Beiträge zum Gemeinsamen Leben und Lernen mit Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung" enthält vier fundierende, die Thematik reflektierende Beiträge von Andreas Hinz, Klaus Dörner, Nina Hömberg, Kerstin Ziemen und Gertrud Köck (Seiten 15 – 92).
  2. Im nächsten Kapitel "Einzelbeispiele in der Praxis" gibt es vier Beiträge der Autorinnen Jacqueline Erk, Renate Hetzner, Dorothea Willkomm, Hedwig Matt: Anhand einzelner Biografien werden Erfahrungen aus der Praxis von Integrationskindergarten, Integrationsklasse, integrativem Kinderladen, sowie Schritte integrativer Schulentwicklung einer Grundschule aufgezeigt (Seiten 93 – 124).
  3. Im Kapitel "Aspekte des Gemeinsamen Lebens mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit schwerer Mehrfachbehinderung" wird in sechs Beiträgen auf recht unterschiedliche Aspekte wie beispielsweise eine "willkommen heißende Diagnostik", "Freizeitassistenz", "Assistenz im Bereich des Wohnens" und "kompetenzorientierte Planung" eingegangen (Seiten 125 – 172). Verfasst wurden die Beiträge von den Autorinnen und Autoren: Jo Jerg, Ines Boban, Nina Hömberg, Reinhard Markowetz, Monika Seifert, Claudia Niedermair und Elisabeth Tschann.
  4. Das Kapitel "Persönliche Zukunftsplanung und Unterstützerkreise als Kernelemente des Lebens mit Unterstützung" enthält drei Beiträge von Ines Boban, Bernadette Bros-Spähn, Mathias Kluge, die aus dem Bereich inklusiver Schulpädagogik neue Herangehensweisen vorstellen (Seiten 173 – 194). Zwei dieser Beiträge sind Erfahrungsberichte betroffener Eltern.
  5. Im Kapitel "Notwendige Entwicklungen für integrative Perspektiven für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit schwerer Mehrfachbehinderung" werden in sechs Beiträgen von Jo Jerg, Simone Seitz, Michael Schwager und Barbara Brokamp, Reinhard Markowetz, Monika Seifert, Stefan Doose  Perspektiven für Integration / Inklusion in den Bereichen Kindergarten, Schule, Freizeit, Wohnen und Arbeit erörtert (Seiten 195 – 254).

Abschließend findet sich ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren (Seiten 255 – 256).

Kritisch anzumerken ist: Leider sind die Kapitelüberschriften nur im Inhaltsverzeichnis, nicht aber im fortlaufenden Text zu finden. Das erschwert die Übersicht. In der Einleitung fehlt eine kurze inhaltliche Vorstellung der einzelnen Kapitel und ihrer verschiedenen Beiträge. Eine abschließende Bilanzierung der Herausgebenden wäre von Interesse gewesen.

Inhalt

  • Maren Müller-Erichsen und Theo Frühauf führen einleitend mit Nachdruck in die immer noch ausstehende Umsetzung der Rechte auf Selbstbestimmung und Teilhabe für die Personengruppen der Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung ein. Bereits im Grundsatzprogramm der Bundesvereinigung Lebenshilfe aus dem Jahre 1990 finde sich der Schlüsselsatz: "Besonders viel bleibt zu tun für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung. (…)". Diese Aussage sei heute immer noch so aktuell wie damals. Zwar haben die Betroffenen heute einen realen Rechtsanspruch auf Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, auf Selbstbestimmung und auf Wahlmöglichkeiten, aber dessen Einlösung habe nach wie vor noch nicht statt gefunden. Deshalb hat die Bundesvereinigung erneut die Initiative ergriffen und es sich zur Schwerpunktaufgabe gemacht, zur Realisierung der neuen Leitideen im Lebensalltag der Personengruppe beizutragen, sowie "ein gemeinsames Leben von Menschen mit hohem Hilfebedarf und Menschen ohne Hilfebedarf zu ermöglichen". Anhand weniger vorliegender Daten zeigen Müller-Erichsen und Frühauf beispielhaft auf, dass in unseren Bundesländern das Recht von Kindern und Jugendlichen mit schwerer Mehrfachbehinderung auf den Besuch einer allgemeinen Schule in höchst unterschiedlichem Ausmaß eingelöst wird. Der bildungspolitische Gestaltungswillen oder eben -unwillen der einzelnen Landesregierungen lasse sich mit den jeweiligen Quoten "integrativer Beschulung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf" belegen. Allerdings übersteige in allen Bundesländern die Nachfrage nach gemeinsamem Unterricht die Anzahl der dafür mit den erforderlichen Rahmenbedingungen ausgestatteten Schulplätze. Da alle Bundesländer inzwischen Ressourcenvorbehalte verankerten, verschärfe sich dadurch der Zugang zu allgemeinen Schulen besonders für Kinder und Jugendliche mit schwerer Mehrfachbehinderung. Nach Bewertung von Müller-Erichsen und Frühauf haben gerade materielle und pädagogische Standards und Rahmenbedingungen eine wichtige Schlüsselfunktion für den Erfolg oder Misserfolg von gemeinsamem schulischem Lernen in allgemeinen Schulen.

In ihren "grundlegenden" Beiträgen des Bandes gehen Andreas Hinz, Klaus Dörner, Nina Hömberg, Kerstin Ziemen und Gertrud Köck wesentlichen Fragestellungen in der Thematik nach. Ich möchte diese deshalb hier aufgreifen:

  • Andreas Hinz gelingt in seinem Beitrag die Problematisierung der immer noch vorherrschenden Defizitorientierung in der Pädagogik, wenn es um die Belange und Interessendurchsetzung der Personengruppe "Kinder und Jugendliche mit schwerer Behinderung" geht. Anhand von zwei Phasenmodellen (dem Modell pädagogischer Förderung in der Schule von Alfred Sander und dem 3-Stufen-Modell von Valerie Bradley), die er ausführlich vorstellt, reflektiert er die Bedeutsamkeit eines Ansatzes kompetenzbezogener Orientierung. Er verwendet für die Personengruppe die Begrifflichkeit "Menschen mit elementaren Unterstützungsbedürfnissen" – so auch der Titel seines Beitrags, obwohl er grundsätzlich – so sein Hinweis – Kategorisierungen von Gruppen ablehne, weil damit gewöhnlich immer teilende Zuschreibungen und klischeehafte Wahrnehmungen verbunden seien. Trotz der Fragwürdigkeit solch einer ebenfalls letztlich zuschreibenden Begrifflichkeit sei deren Verwendung einfach notwendig, um bestehende Segregation, sowie die Notwendigkeit der Durchsetzung inklusiver Strukturen und Sichtweisen in allen Lebensbereichen sichtbar zu machen. Hinz  setzt in Abgrenzung zum Begriff der "Integration" am Verständnis der "Inklusion" an. Dieses Verständnis entstand bereits in den 1980er Jahren im englischsprachigen Diskurs: Herausgearbeitet wurde damals bereits, dass insbesondere Hindernisse und Barrieren der Umwelt in den Blick zu nehmen sind. Um Zugang und Teilhabe an Allem für Alle zu ermöglichen, ist an der Beseitigung dieser Hindernisse und Barrieren zu arbeiten. Hinz weist u.a. auf den international erprobten Index für Inklusion hin, der im Fall "Schule" ein Konzept biete, mit dem, das zeigen weltweite Praxiserfahrungen, sämtliche Barrieren für Lernen und Teilhabe weggeräumt werden könn(t)en.
  • Klaus Dörner geht es in seinem Beitrag "Verantwortung vom Letzten her. Der innere Impuls des Sorgens um den anderen" um die grundlegende Fragerichtung nach der Erschließung einer heute "eher verschütteten Verantwortungsressource", der Verantwortung vom anderen her, die auf einen "zuwachse". Zur Klärung beginnt er bei der Frage, wie die Gesellschaft heutzutage mit ihren "schwächsten" Mitgliedern, "den Letzten", umgeht und welche gesellschaftliche Kultur sich in diesem Umgang offenbare: Die Sorge um "die Letzten" wird an soziale Institutionen abgegeben, "die Schwächsten" werden "immer noch am systematischsten" in Sondereinrichtungen verbannt. Dörner stellt fest, dass sich in dieser sozialen Konstellation neue Muster der Macht in den Institutionen herausgebildet haben. "Die Letzten" werden in ihren Selbstbestimmungsrechten heute in besonders diffiziler Weise instrumentalisiert. Um dem Dilemma "zwischen Nutzenethik und Pflichtethik" zu entkommen, sucht Dörner in der europäischen Denkkultur nach vernachlässigten Quellen der Rechtfertigung und Begründung für moralisches, verantwortliches Handeln. Er wird fündig bei den alten Griechen, in der Bibel und der feministischen Moralphilosophie, leider greift er in diesem Kontext nicht den feministischen politischen Diskurs um Werte des Sorgens für andere auf. Dann gelangt er auf die Ebene sozialer Alltagsbeziehungen und zu seiner "Anthropologie des Helfens" (seinem "kategorischen Imperativ"). Hier arbeitet er heraus, dass in eine "aktiv-asymmetrische Dimension" sozialer Beziehung eine "passiv-asymmetrische Dimension" einzubetten ist. Nur wenn in ungleichen Beziehungen der Schwächere zum "befehlenden" Aktionszentrum ernannt wird, lasse sich verhindern, dass eine Beziehung "allzu gewalttätig endet". In seinen Ausführungen greift Dörner auf seine reichhaltigen Erfahrungen, die er als Leiter der psychiatrischen Klinik Gütersloh machte, zurück.
  • Nina Hömberg  stellt in ihrem grundlegenden Beitrag recht komprimiert die Ergebnisse eines wissenschaftlich begleiteten Landesschulversuchs in Berlin vor (1990 bis 2000). Berichtet wird über den Verlauf "integrativer" Prozesse, die Praxis-Entwicklung und Erfolge einer beispielhaften Schulentwicklung, die insgesamt eine zeitliche Phase von 10 Jahren umfassten. Interessant erscheint mir Hömbergs Resümee: Der Schulversuch verlief sehr erfolgreich und mit positiver Bilanz, dennoch wurden auch Aussonderungs- und Abgrenzungstendenzen beobachtet. Diesen Widerspruch führt sie darauf zurück, dass das gemeinsame Lernen der Kinder innerhalb eines aussondernden Systems etabliert worden sei. Hömberg schließt ihren Beitrag mit der Vermutung, dass sich erst mit einem gesellschaftlichen und politischen Bekenntnis zu inklusiven Lebensformen derartige Widersprüche dauerhaft beeinflussen lassen. In ihrem zweiten Beitrag "Gute Verständigung im Gemeinsamen Unterricht" (3. Kapitel, Seiten 146 – 150) verdeutlicht sie, dass für gemeinsame Prozesse der Kommunikation in integrativen Schulklassen vor allem gemeinsame Verständigungsleistungen notwendig sind. Den Peer Groups der Schülerinnen und Schüler kommt in diesen Prozessen eine im Fachdiskurs sicher noch zu wenig beachtete Bedeutung zu.
  • In Abkehr von "Betreuung" soll heute "Assistenz" Machtverhältnisse im Interesse der Betroffenen umkehren. Kerstin Ziemen und Gertrud Köck richten in ihrem Beitrag den Blick auf die Verhältnisse im sozialen Raum, unter denen Assistenz statt findet. Sie fragen danach, wie Assistenzmodelle im Interesse von Menschen, die unter schwierigsten Bedingungen leben, zu gestalten sind, damit aus der beabsichtigten Assistenz nicht doch wieder heimlich, still und leise "Betreuung", fremdbestimmte Behandlung und Bevormundung werden. Am Beispiel eines Jugendlichen wird ein Assistenzmodell des Projektes OASE 3 vorgestellt. Deutlich wird darüber, welchen Stellenwert Dialog, Kommunikation, Kooperation und Beziehung hier haben. Vor dem Hintergrund der Gefahr unreflektierter, auf bloße "Techniken" reduzierter Assistenz-Verfahren arbeiten Ziemen und Köck  heraus, wie wichtig ein "qualitativer Umbruch", Prozesse, die zu reflektieren sind, die Methode der Feldanalyse gerade bei Assistenzmodellen in Institutionen sind. Dieser Beitrag lässt sich auch als Herausforderung verstehen, einmal kritisch gängige Praxen in Institutionen zu beleuchten.

Die 19 Beiträge der Folgekapitel sind, so auch der Anspruch des Bandes, "erfahrungswissenschaftlich orientiert und praxisreflexiv angelegt, mit biografischen Bezügen und konzeptionellen Ausblicken" (Zitat aus dem Klappentext). Sie liefern mit dieser Herangehensweise ein breites Spektrum sich ergänzender Befunde dazu, wie Menschen, die unter Bedingungen schwerer Mehrfachbehinderung leben, über inklusive Prozesse gleichberechtigte Teilhabe in Kindergärten, allgemeinen Schulen, Freizeitangeboten, Wohnmodellen und an anderen Lebensorten eröffnet werden kann. Die Beiträge alle einzeln vorzustellen würde den Rahmen meiner Rezension sprengen. Ich möchte deshalb nur kurz einige ausgewählte Beiträge erwähnen.

  • Besonders nahe gehen in ihrer Eindringlichkeit jene Beiträge, die ganz individuelle biografische Stationen einzelner Kinder und Jugendlicher auf der Ebene subjektiver Perspektiven nachzeichnen: So berichtet beispielsweise Renate Hetzner, Lehrerin, von ihrer Begegnung mit Stefanie, die nach dem Besuch einer integrativen Gruppe eines Kinderhauses bei ihr im Rahmen eines Schulversuches eine Integrationsklasse besuchte, und deren Weg dann doch nach Grundschule und Sekundarstufe I der Oberschule in eine Sonderschule führte. Als junge Erwachsene lebt sie heute "aufbewahrt" in einem Wohnheim und besucht eine Fördergruppe (nachzulesen auf den Seiten 98 – 104).
    Dorothea Willkomm schildert am bisherigen Lebenslauf ihrer Tochter Emily, dass "fast jeder Schritt mit heftigen Kämpfen verbunden" gewesen sei, um Emilys Aussonderung zu verhindern. Nach einer glücklich verbrachten Zeit in einem integrativen Kinderladen entstand das Problem, eine aufnahmebereite Schule zu finden. Erst als 10-Jährige konnte Emily in eine allgemeine Schule aufgenommen werden. Heute arbeitet sie professionell in einer Theatergruppe, habe im Berufsleben "das große Los gezogen". Nach der Ablösung vom Elternhaus begegneten Emily im Lebensbereich "Wohnen" hingegen Barrieren: Sie verbrachte zunächst eine unglückliche Lebensphase in einem Heim. Heute lebt sie – aus Sicht der Mutter "anscheinend zufrieden" – in einer Wohngruppe mitten in der Stadt (nachzulesen auf den Seiten 105 – 112).
    Hedwig Matt, Sonderpädagogin, zeigt an der schulischen Biografie von Sertan auf, dass nach Ablauf der Grundschulzeit und gemeinsamem Unterricht in einer Integrationsklasse, in der beide Seiten viel voneinander lernen konnten, keine Oberschule bereit war, Sertan zu übernehmen. Sertan musste in eine "Schule für Geistigbehinderte" wechseln (nachzulesen auf den Seiten 113 – 124).
    Positiv kann hingegen Bernadette Bros-Spähn vom biografischen Verlauf ihrer Tochter Melanie berichten. Melanie hat während ihres Besuchs einer allgemeinen Schule vom neu eingeführten Instrument "persönliche Zukunftsplanung innerhalb eines Unterstützerkreises" bei ihrer Suche nach Lebens- und Berufsperspektiven profitieren können. Dort standen ihre Persönlichkeit, ihre Fähigkeiten im Vordergrund, nicht ihre schwere Beeinträchtigung. So gelangte sie dahin, ihren Neigungen entsprechend, auf drei Kombi-Arbeitsplätzen Praktika machen zu können: auf einem Abenteuerspielplatz, einem Pferdehof, in einem Kindergarten. Finanziert wird das über Eingliederungshilfe als Alternative zur Arbeit in einer Tagesförderstelle (nachzulesen auf den Seiten 181 – 187).
  • Das Schlüsselelement inklusiver Pädagogik "Persönliche Zukunftsplanung innerhalb von Unterstützerkreisen" wird im Beitrag von Ines Boban  sehr praxisnah am Beispiel "Schule" vorgestellt (Seiten 173 – 180). Boban macht deutlich, dass dieses Element eben gerade nicht als verbesserte Form von "Hilfeplanung" zu verstehen ist, sondern eine grundsätzlich andere prozesshaft angelegte Herangehensweise an existenzielle Lebensfragen beinhaltet. Kinder und Jugendliche mit Behinderung nehmen in diesem Prozess eine zentrale, aktive Rolle ein. Ihre Zukunftsträume werden von Unterstützerkreisen mit einer "chancenorientierten Grundhaltung" und einer Einbindung des Gemeinwesens begleitet.

Leider nehmen nicht alle Beiträge den von Andreas Hinz grundlegend eingeführten Begriff der "Inklusion" und dessen Ansatz und Intention derart zum Ausgangspunkt ihrer Ausführungen. Manche der Autoren und Autorinnen scheinen noch sehr dem "Integrations"begriff und -gedanken verhaftet zu sein. In ihren Beiträgen werden auf eher unreflektiert erscheinende Weise beide Begrifflichkeiten recht undifferenziert verwendet. Es finden sich aber eben auch die Beiträge, die thematisch und begrifflich äußerst konsequent "Inklusion" als Leitidee und / oder Zielperspektive unter ihrer jeweiligen Fragestellung behandeln.

  • So beispielsweise die zwei Beiträge von Monika Seifert: In ihrem Beitrag "Assistenz im Bereich des Wohnens" stellt sie Ergebnisse einer qualitativen Studie zur Lebenssituation von Frauen und Männern, "die als geistig behindert bezeichnet werden" und in Heimen leben vor (Seiten 162 – 167). In der Evaluation der Wirkung von Unterstützungsleistungen wurde eine Diskrepanz zwischen fachlichem Anspruch und Heimrealität transparent. Die Kernbereiche von Lebensqualität waren unzureichend berücksichtigt worden. Vor diesem Hintergrund plädiert Seifert für einen grundlegenden Wandel des Systems der Behindertenhilfe: weg von der institutionellen Orientierung, hin zur personenzentrierten Orientierung, und damit weg von "Betreuung", hin zu individuellen Unterstützungsarrangements im Sinne von Ansätzen des "supported living" und des "person-centered-planning". Wie professionelle Arbeit unter der Zielperspektive "Inklusion" neu auszurichten ist und welcher strukturellen Veränderungen es dazu bedarf, entwickelt Seifert detailliert in ihrem zweiten Beitrag. Ihre Ausführungen veranschaulichen, wie sich Wohnformen umsetzen lassen, die der Personengruppe ein Höchstmaß an Individualität und soziale Inklusion ermöglichen (Seiten 235 – 245).

Fazit

Die Inhalte der Beiträge sind zwar nicht ganz neu, sie wurden größtenteils von den Autorinnen und Autoren bereits anderweitig publiziert. Verdienst des Bandes ist die Zusammenschau der Beiträge unter der Klammer, wie gleichberechtigte Teilhabe von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die in Deutschland unter Bedingungen schwerer Mehrfachbehinderung leben müssen, endlich umgesetzt werden kann. Hierzu bietet der Band mit seinen informativen und innovativen Beiträgen und der Stellung, die darin gegen Ausgrenzung der Personengruppe bezogen wird, eine beachtenswerte thematische Breite. Im Laufe des Lesens der vielen Beiträge kristallisiert sich klar heraus, dass unter "inklusiver" Perspektive an bestehenden Umweltbarrieren zu arbeiten ist und hier drängender politischer Handlungsbedarf besteht. Wünschenswert wäre aus meiner Sicht gewesen, wenn der Begriff der "Inklusion" auch in den Titel des Bandes Eingang gefunden hätte, sich alle Beiträge dieser Perspektive inhaltlich und begrifflich konsequenter angeschlossen hätten.

Rezension von
Dr. Elke Schön
Sozialwissenschaftlerin
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Zitiervorschlag
Elke Schön. Rezension vom 20.05.2008 zu: Andreas Hinz (Hrsg.): Schwere Mehrfachbehinderung und Integration. Herausforderungen, Erfahrungen, Perspektiven. Athena-Verlag e.K. (Oberhausen) 2007. ISBN 978-3-89896-285-8. In Kooperation mit der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5032.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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