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Annemarie Rettenwander: Magersucht. Einsichten und Auswege

Rezensiert von Prof. Dr. Hans-Peter Michels, 01.11.2008

Cover Annemarie Rettenwander: Magersucht. Einsichten und Auswege ISBN 978-3-89574-619-2

Annemarie Rettenwander: Magersucht. Einsichten und Auswege. Was (ehemals) betroffene Frauen als hilfreich empfinden. Verlag Dr. Köster (Berlin) 2007. 224 Seiten. ISBN 978-3-89574-619-2. 19,80 EUR.

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Thema

Anorexie und Bulimie sind heute weit verbreitete Leiden, vor allem unter Mädchen und Frauen. Seit Jahrzehnten ist sehr viel über diese Phänomene geschrieben und geforscht worden, dennoch geben diese Beschwerden immer noch Rätsel auf. Als anerkannt in der Therapie gelten heute psychoanalytische,  tiefenpsychologische oder  kognitiv-behaviorale Ansätze. Auch hier scheinen noch wichtige Fragen ungeklärt zu sein und es müssen weiter Anstrengungen unternommen werden, will man erfolgreicher werden.

Im aktuellen wissenschaftlichen und therapeutischen Mainstream herrschen im allgemeinen folgende Annahmen vor: Diese Leiden werden als psychische Störungen bzw. Essstörungen konzeptualisiert, wobei die Kategorien und Kriterien der ICD 10 oder des DSM IV kurzerhand zugrunde gelegt werden. Mit der Bezugnahme auf diese Diagnosesysteme wird aber implizit eine medizinische Auffassung von  Krankheiten als voneinander abgegrenzte Einheiten übernommen, Die Kriterien dieser Entitäten sind besonders auf das Individuum bezogen und auf dessen Innerlichkeit. Damit wird ein Schauen von außen auf das Objekt intendiert.

Der Ansatz von Rettenwander

Die Autorin legt ihren Untersuchungen keine vorgefertigten Beobachtungskategorien zugrunde, sondern lässt die betroffenen Frauen zu Wort kommen. Wichtig sind die Erfahrungen der Frauen, ihre Sichtweisen und Begründungen. Diese Interviews sind deshalb besonders aufschlussreich, weil hier die betroffenen Frauen artikulieren, welche Hilfen positiv für sie waren, welche Einheiten in der Therapie sie weiter gebracht haben oder worin ihre zentralen Probleme bestanden.

Die Vorgehensweise von Annemarie Rettenwander ist bisher kaum in der Psychotherapieforschung praktiziert worden. Die Aussagen der Betroffenen werden selten so wichtig genommen, sondern man theoretisiert eher "über deren Köpfe hinweg" und nimmt damit einen Außenstandpunkt ein, um zu Erklärungen zu kommen. Die Untersuchte wird als Objekt konstituiert und wesentliche Dimensionen ihrer Subjektivität verkannt.

Die Autorin dagegen stellt im Rahmen ihrer Forschungen symmetrische Beziehungen her. Die Betroffenen werden als Personen ernst genommen, ihre Aussagen und Begründungen werden aufgenommen und nicht per Deutung oder Klassifizierung reduziert oder abgewertet.

Die Monographie der Psychotherapeutin Annemarie Rettenwander zur Magersucht ist ein parteiisches Plädoyer. Sie nimmt einen dezidiert feministischen Standpunkt ein, der die Verteilung von Macht und Einfluss in unserer Gesellschaft vor allem aufgrund des  Geschlechts bestimmt sieht. Das männliche Geschlecht ist das machtmächtigere. Diese Dominanz kann daher in allen möglichen sozialen Bereichen bis in die intimsten menschlichen Beziehungen nachgewiesen werden.

Bei emanzipatorisch sich verstehenden Wissenschaftlern wird diese Position immer wieder konträr diskutiert:  Bei manchen erhält die Geschlechterfrage in Studien oder  Analysen die Priorität. Andere hingegen sehen Klassen- und Schichtzugehörigkeit als relevanter für die Macht- und Chancenzuteilung in unserer Gesellschaft als die Geschlechtszugehörigkeit.

Die Autorin hat die Relevanz der Klassen- oder Schichtzugehörigkeit nicht ausreichend thematisiert. Sie zieht  sie daher auch nicht für eine Explikation der Interviews heran. Weiterhin kann sie z.B. den mit Macht ausgestatteten Mann nicht durch seine soziale Position bestimmt sehen und – um mit Bourdieu zu sprechen –  nicht dessen Ausstattung mit spezifischem ökonomischem, kulturellen und sozialen Kapital als Machtbedingungen erkennen.

Die einseitige Konstruktion von Machtverteilung aufgrund des Geschlechts verdeckt m. E. nach das positive, weiterführende Konzept der Autorin zum Verständnis von Anorexie und Bulimie: das Konzept der Lebensbewältigung. Hier werden die materiellen, sozialen Gegebenheiten und Restriktionen zur Erklärung für die Leiden der Menschen durchaus implizit angeführt.

Zielgruppen

Das Buch eignet sich für folgende Gruppen von Professionellen: PsychologInnen, PsychotherapeutInnen, SozialarbeiterInnen und ÄrztInnen.

Ich würde es zusätzlich  Betroffenen und Angehörigen empfehlen, da es die Selbstverständigung vertiefen, das (Einander-)Verstehen fördern kann.

Fazit

Indem Rettenwander keine Psychologie vom Außenstandpunkt betreibt und die Betroffenen zur Sprache kommen lässt, sie in ihren Aussagen ernst nimmt, gelingen ihr neue Einsichten.

Rezension von
Prof. Dr. Hans-Peter Michels
Dipl.-Psychol.

Es gibt 40 Rezensionen von Hans-Peter Michels.

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ISSN 2190-9245