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Martin Rothland: Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf. Modelle, Befunde, Interventionen

Rezensiert von Prof. Dr. Harald Uhlendorff, 10.10.2007

Cover Martin Rothland: Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf. Modelle, Befunde, Interventionen ISBN 978-3-531-15281-3

Martin Rothland: Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf. Modelle, Befunde, Interventionen. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2007. ISBN 978-3-531-15281-3. 19,90 EUR.

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Absicht und Zielgruppe

Martin Rothland möchte mit seinem "Studienbuch" einen aktuellen Überblick zum Thema "Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf" geben. Seines Erachtens fehlt es an einer Publikation, die als Einführung oder Lehrbuch einen Überblick über zentrale Modelle, neuere Forschungsbefunde bzw. Präventions- und Interventionsansätze für eine breite Leserschaft bietet.

Inhalt

Beruf: Lehrer - Arbeitsplatz: Schule - Charakteristika der Arbeitstätigkeit und Bedingungen der Berufssituation. Martin Rothland und Ewald Terhart besprechen in diesem Kapitel strukturelle Merkmale des Lehrerberufs und potentiell belastende Bedingungen der Berufsausübung. Dabei gehen sie u.a. auf die prinzipielle Grenzenlosigkeit der Aufgabenstellung, auf die Schwebelage zwischen Reglementierung und pädagogischer Freiheit und auf die "erzwungene" Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Schülern ein. Abschließend diskutieren sie die hohen, diffusen und manchmal widersprüchlichen Erwartungen an Lehrer - bei gleichzeitigem Negativ-Image.

Abschnitt "Modelle, Konzepte und Befunde der Lehrerbelastungsforschung"

  • Belastung, Beanspruchung und Stress im Lehrerberuf - Theorien und Modelle. Rolf van Dick und Sebastian Stegmann gehen der Frage nach, wie sich berufliche Belastungen jenseits alltagssprachlicher Begriffe wissenschaftlich fassen lassen. Dazu stellen sie verschiedene Modelle vor: (1) das Rahmenmodell der Belastung und Beanspruchung (Rudow), (2) das transaktionale Stressmodell (Lazarus), (3) das Job Characteristics Model (Hackman & Oldham) und (5) das Modell zur Handlungsregulation (Oesterreich). Abschließend wird ein Vergleich dieser Modelle hinsichtlich unterschiedlicher Dimensionen (z.B. einzelne Person vs. ganze Schule; primäre vs. sekundäre vs. tertiäre Prävention) angeregt.
  • Ergebnisse der Lehrerbelastungsforschung:  Orientierung im Forschungsdschungel.  Andreas Krause und Cosima Dorsemagen erläutern fünf Paradigmen der Lehrerbelastungsforschung, die den Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten: (1) Gesellschaftliche Veränderungen (z.B. Autoritätsverlust, Medienkonsum); (2) Generelle Merkmale des Lehrerberufs (z.B. Gratifikationskrise, nach oben offener Arbeitsauftrag); (3) Arbeitssituation an einem Schultyp (z.B. besondere Belastungen an Hauptschulen); (4) Arbeitssituation an der einzelnen Schule (bedeutsame Unterschiede zwischen einzelnen Schulen gleichen Typs); (5) Bedeutung der Lehrerpersönlichkeit. Anschließend wird ein nachvollziehbares Raster zur Einordnung empirischer Untersuchungen erarbeitet. Anhand des Rasters werden  zentrale Fragestellungen und Ergebnisse der Lehrerbelastungsforschung ausführlich vorgestellt. M.E. ist mit diesem Beitrag eine wirklich hilfreiche Strukturierung der Lehrerbelastungsforschung gelungen. 
  • Beanspruchungsmuster im Lehrerberuf - Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus der Potsdamer Lehrerstudie. Uwe Schaarschmidt und Ulf Klieschke haben Ergebnisse und Schlussfolgerungen der aus vielen Veröffentlichungen und Medienberichten bekannten Potsdamer Lehrerstudie kurz und prägnant zusammengestellt. Zunächst definieren die Autoren vier unterschiedliche Beanspruchungsmuster (Muster Gesundheit, Muster Schonung, Risikomuster Selbstüberforderung, Risikomuster Resignation). Die beiden Risikomuster sind bei Lehrern, insbesondere bei Lehrerinnen, häufiger zu finden als in anderen Berufen. Vergleicht man verschiedene Regionen in Deutschland und verschiedene Schulformen können keine deutlichen Unterschiede aufgedeckt werden. Als besonders belastend erleben Lehrer das Verhalten schwieriger Schüler, große Klassen und hohe Stundenzahlen. Aus Sicht der Autoren kann die berufliche Beanspruchungssituation von Lehrern positiv beeinflusst werden, wenn auf folgende Aufgabenfelder fokussiert wird: Einflussnahme auf die Rahmenbedingungen des Berufs; Gestaltung der Arbeitsbedingungen vor Ort; verbesserte Rekrutierung und Vorbereitung des Lehrernachwuchses; Entwicklungsbemühungen der Lehrer selbst.
  • Psychische Belastungen im Unterricht. Andreas Krause und Cosima Dorsemagen betonen das konkrete Unterrichtsgeschehen in seiner Auswirkung auf Lehrerbelastungen. Sie stellen dazu ein Verfahren vor (RHIA = Regulationshindernisse in der Arbeit), mit dem das aufgabenbezogene Belastungsniveau im Unterricht objektivierend, d.h. unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung der Lehrkräfte, bestimmt werden soll. 
  • Burnout - Kritische Diskussion eines vielseitigen Phänomens. Nadia Sosnowsky gibt in ihrem sehr anregend formulierten Beitrag zunächst einen Überblick über die Erfolgsgeschichte des Burnout-Begriffs. Anschließend wendet sie sich ausführlich den großen, immer noch nicht gelösten Problemen mit dem umstrittenen Konstrukt zu. Sie fragt z.B., ob ein ausgebrannter Lehrer zu Beginn seines beruflichen Weges wirklich entflammt gewesen sein muss und macht auf die unbefriedigende Forschung zum sog. Burnout-Prozess aufmerksam. Auch die Frage, ob es sich bei Burnout um ein allgemeinpsychologisches Phänomen oder um eine psychische Störung handelt, ist weiterhin unbeantwortet. Letzteres würde vermutlich mit einer größeren Gefahr von Stigmatisierungen einhergehen.
  • Psychische und psychosomatische Erkrankungen von Lehrerinnen und Lehrern - Konzepte, Diagnosen, Präventions- und BehandlungsansätzeAndreas Hillert beschreibt die Situation, der ein psychisch erkrankter Mensch gegenübersteht, aus verschiedenen Perspektiven (subjektives Erleben, von außen betrachtet, biologisch-medizinische Ebene). Nach einer kurzen Erläuterung psychiatrischer Diagnosesysteme geht er auf aktuelle bio-psycho-soziale Krankheitsmodelle ein und beschreibt häufig vorkommende psychische Störungen (Depression, Angststörungen, Suchterkrankungen, Essstörungen, Psychosen, Persönlichkeitsstörungen und die Sonderrolle von Burnout). Er fragt dann, ob Lehrer tatsächlich besonders gefährdet sind und geht zum Schluss kurz auf Behandlung und Prophylaxe ein.
  • Innere Kündigung und vorzeitige Pensionierung von Lehrpersonen. Nach Peter Jehle und Edgar Schmitz geht einer inneren Kündigung meistens die subjektive Wahrnehmung eines gestörten Gleichgewichts gegenseitiger informeller Verpflichtungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern voraus. Die innere Kündigung ist dann der Versuch, dieses Gleichgewicht wieder herzustellen. Die Autoren stellen ein Messinstrument zur inneren Kündigung vor, bieten Erklärungsansätze, stellen Rahmenbedingungen der inneren Kündigung im Lehrerberuf vor (z.B. das Führungsverhalten der Schulleiter) und bieten Ansatzpunkte für Präventionsmöglichkeiten (z.B. soziales Klima an der Schule, Vision für die Schule, Identifikationsmöglichkeiten). Eher am Rande werden Dienstunfähigkeit und vorzeitige Pensionierung hinsichtlich ihrer Verbreitung und zugrunde liegender Krankheiten besprochen.
  • Zufriedenheit trotz beruflicher Beanspruchungen? Anmerkungen zu den Befunden der Lehrerbelastungsforschung. Axel Gehrmann berichtet von den guten Gründen, den Lehrerberuf auszuüben. Er betont, dass zwei Drittel der Lehrerschaft dauerhaft Zufriedenheit aus ihrem Beruf gewinnt. Bis zu einem Drittel der Lehrer gelingt das allerdings nicht. Der Autor argumentiert, dass die letztgenannten vermutlich falsch rekrutiert wurden. Als eine Risikogruppe benennt er familial ungebundene Lehrerinnen jenseits des 50. Lebensjahres, nicht aber die vermeintlich durch Familie und Beruf "doppelt belasteten" Lehrerinnen. 

Abschnitt "Belastungsbewältigung, Prävention und Intervention"

  • Wie gehen Lehrkräfte mit Belastungen um? Belastungsregulierung zwischen Entwicklungsbedarf und Änderungsresistenz. Bernhard Sieland klärt zunächst die Wechselwirkungen zwischen Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Berufs- und Privatleben. Dann stellt er einem unprofessionellen Umgang mit Beanspruchungen eine professionelle Umgangsweise gegenüber. Abschließend bespricht er ausführlich das Lüneburger Modell zur Entwicklungs- und Belastungsregulation, das u.a. aus virtuellen Angeboten besteht (http://www. lehrerforum.uni-lueneburg.de).
  • Arbeitszeit an Schulen: Welches Modell passt in unsere Zeit? Kriterien zur Gestaltung schulischer Arbeitsbedingungen. Cosima Dorsemagen, Patrick Lacroix und Andreas Krause erarbeiten in ihrem anregenden und weiterführenden Beitrag 14 Kriterien zur Bewertung von Arbeitszeit an Schulen (z.B. Qualität der pädagogischen Arbeit, Arbeitszeitgerechtigkeit, Sozialklima im Kollegium, Begrenzung des Arbeitszeitvolumens, Transparenz nach außen). Anschließend werden Ergebnisse einer Lehrerbefragung zum Thema Arbeitszeit präsentiert. Danach gibt es kein klares Votum für ein bestimmtes Arbeitszeitmodell. Deutlich wird aber, dass bei der Erprobung neuer Arbeitszeitmodelle die oben genannten Kriterien differenziert berücksichtigt werden sollten.
  • Soziale Unterstützung - Bedeutung und Bedingungen im Berufsalltag von Lehrerinnen und Lehrern. Martin Rothland gibt eine breite Einführung in die Forschung zur sozialen Unterstützung und weist dabei auf interessante Wechselwirkungen zwischen Belastungen und sozialer Integration hin. Er fokussiert dann auf die soziale Unterstützung im Lehrerberuf und stellt abschließend ein empirisch fundiertes Modell verschiedener Kooperationsstufen in Lehrerkollegien vor.
  • Stressbezogene Interventionen zur Prävention von psychischen Störungen im Lehrerberuf - AGIL "Arbeit und Gesundheit im Lehrerberuf" als Beispiel einer Intervention zur Verhaltensprävention. Dirk Lehr, Nadia Sosnowsky und Andreas Hillert betonen zunächst die gesundheitsfördernden Funktionen von Arbeit und wenden sich dann dem Zusammenhang zwischen Stress und psychischen Störungen zu (Vulnerabilitäts-Stress-Modell). Nach einem Überblick über verschiedene  Elemente von Stressbewältigungstrainings stellen die Autoren ein eigenes, in Module gegliedertes, gruppenspezifisches Training zur Stressbewältigung und Gesundheitsförderung für Lehrer vor (AGIL): In einem Basismodul werden Entstehung und Auswirkungen von Stress vermittelt und erste Entlastungswege aufgezeigt. Im Kognitionsmodul wird spezifisch auf Grübeln und auf hilfreiche Gedanken fokussiert. Im Problemlösemodul wird systematisches Problemlösen u.a. mit Hilfe von Rollenspielen eingeübt. Im Modul zu Erholung und Kraftquellen werden soziale Unterstützung und verschieden Erholungsmöglichkeiten thematisiert. Im Achtsamkeitsmodul geht es um die Förderung einer bewussten und aufmerksamen Wahrnehmung gegenüber dem augenblicklichen körperlichen und psychischen Zustand, wodurch Belastungsgrenzen früher erkannt werden sollen. AGIL wurde inzwischen positiv evaluiert. Das Verfahren wird im vorliegenden Aufsatz sehr überzeugend dargestellt und als Psychotherapeut und Fachwissenschaftler hoffe ich darauf, dass entsprechende Arbeitsunterlagen bald veröffentlicht werden.
  • Ressourcenorientiertes Selbstmanagement für Lehrkräfte - Das Zürcher Ressourcenmodell ZRM. Maja Storch, Frank Krause und Yvonne Küttel wollen Lehrkräfte bei  "ihren Selbstmanagement-Aufgaben lustvoll und nachhaltig unterstützen". Dabei fokussieren sie auf die Arbeit mit dem Unbewussten und auf Embodiment, d.h. auf den Bezug zwischen Geist und Körper. Abschließend begründen sie, weshalb sie das ZRM-Training zur Burnoutprohylaxe für geeignet halten.

Diskussion

Zentrale Themen der Lehrerbeanspruchung, wie die soziale Unterstützung im Kollegium, die Rolle der Schulleitung und Arbeitszeitprobleme kommen m. E. umfassend zur Sprache. Viele Ressourcen und Vulnerabilitäten werden prägnant und weiterführend auf den Lehrerberuf bezogen. Erfrischend sind die kritischen Stimmen von Andreas Hillert und Axel Gehrmann, die eine besondere Belastung von Lehrern ausdrücklich hinterfragen.

Zu einigen Themen aus dem Bereich der Lehrerbelastung hätte ich mir ausführlichere Informationen gewünscht, z.B. zum Autonomieerleben von Lehrern als Burnoutprävention und zu den Auswirkungen von Lehrerbelastungen auf die Schul- und Unterrichtsqualität. Hinsichtlich der Präventions- und Interventionsprogramme wäre ein kritischer Überblick über verschiedene aktuelle Programme mit ihren Stärken und Schwächen hilfreich gewesen. Dass solche Wunschlisten vor allem persönliche Vorlieben widerspiegeln, muss eigentlich nicht besonders betont werden. Angesichts der Reichhaltigkeit der Beiträge ist es dem Herausgeber, so wie er es sich vorgenommen hat, gut gelungen, für eine breite Leserschaft einen aktuellen Überblick über Modelle, Forschungsbefunde und Interventionen zur Lehrerbelastungsforschung anzubieten.

Fazit

Martin Rothland legt hier ein vielfältiges und anregungsreiches Herausgeberwerk zur Beanspruchung im Lehrerberuf vor. Trotz des erheblichen Umfangs des Buches (312 Seiten) sind Redundanzen weitgehend vermieden worden. Die meisten Texte sind gut als Einführungen geeignet (z.B. für Lehramtsstudenten) und mehrere davon sind auch für Fachwissenschaftler mit Gewinn zu lesen.

Rezension von
Prof. Dr. Harald Uhlendorff
Psychologischer Psychotherapeut
apl. Prof. am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Potsdam
Tätigkeitsfelder: Gleichaltrigenbeziehungen von Kindern und Jugendlichen, Erziehung in Schule und Familie, Entwicklung im höheren Erwachsenalter, psychische Belastungen im Beruf

Es gibt 10 Rezensionen von Harald Uhlendorff.

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Zitiervorschlag
Harald Uhlendorff. Rezension vom 10.10.2007 zu: Martin Rothland: Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf. Modelle, Befunde, Interventionen. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2007. ISBN 978-3-531-15281-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5053.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.


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