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Günther Cloerkes: Soziologie der Behinderten. Eine Einführung

Rezensiert von Prof. Dr. Jörg Michael Kastl, 12.11.2007

Cover Günther Cloerkes: Soziologie der Behinderten. Eine Einführung ISBN 978-3-8253-8334-3

Günther Cloerkes: Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. Universitätsverlag Winter (Heidelberg) 2007. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. 473 Seiten. ISBN 978-3-8253-8334-3. 25,00 EUR.
Reihe: Edition S.

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Ein bewährtes Lehrbuch in 3. Auflage

Dass Teilgebiete der Soziologie überhaupt über Lehrbücher verfügen, ist nach wie vor nicht selbstverständlich; dass sich solche Lehrbücher bewähren und in mehreren Auflagen fortgeschrieben werden, ist noch weniger selbstverständlich. Günther Cloerkes trägt mit der dritten Auflage seines Lehrbuches zusammen mit seinen zwei Koautoren Kai Felkendorff und Reinhard Markowetz Veränderungen der Sozialgesetzgebung, einer Reihe von neueren fachlichen Diskussionen und institutionellen Veränderungen bei der Integration (und Inklusion) behinderter Menschen Rechnung; das Literaturverzeichnis wurde auf den neusten Stand gebracht. Alles in allem ist das ganze Buch - trotz einiger Straffungen in anderen Kapiteln - um etwa einen Zentimeter "gewachsen".

Soziologie der Behinderten

Die "Soziologie der Behinderten" ist eine in Deutschland seit Anfang der 70er-Jahre etablierte Querschnittsdisziplin der Soziologie, institutionell meist angebunden an sonder-/heilpädagogische bzw. rehabilitationswissenschaftlichen Fakultäten. So sehr sie (deswegen?) in ihrem "Stammfach", der Soziologie, ein eher randständiges Dasein genießt, so wichtig ist ihre Rolle im Gefüge der Disziplinen, die sich fachlich und professionell mit Behinderungen auseinander setzen. Die Soziologie der Behinderten hat eine sozusagen unbemerkte Erfolgsgeschichte hinter sich gebracht, insofern sie nicht nur zu einer Verbreitung soziologischer Denkweisen in den Nachbardisziplinen geführt, sondern auch die (sozial)politische Diskussion erheblich beeinflusst hat. Es ist heute selbstverständlich in der Ausbildung von Sonder- und HeilpädagogInnen einen soziologischen Klassiker wie Goffman zu lesen und von einem "sozialen Modell" oder der "sozialen Konstruktion" von Behinderung zu sprechen. Auch in sozialpolitischen, -rechtlichen und -administrativen Kontexten wird "Behinderung" mittlerweile selbstverständlich (auch) als ein Partizipationsproblem verstanden (ICF, SGB IX). Dies sind alles Denkweisen, die man bereits in den einschlägigen Veröffentlichungen des Faches der frühen 70er Jahre findet.

Autor und Koautoren

  • Günther Cloerkes, seit 1981 Inhaber der Professur für "Soziologie der Behinderten" an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, ist Nachfolger von Walther Thimm, auf dessen Initiative die Fachbezeichnung des Buchtitels in Heidelberg kreiert wurde, und der 1972 einen nach wie vor lesenswerten Sammelband unter dem selben Namen herausgegeben hatte. Cloerkes als Vertreter der zweiten Generation der deutschen Behindertensoziologie blieb es in einer Art Brückenfunktion zwischen der ersten Generation und der aktuellen fachlichen Situation vorbehalten, das erste und bisher einzige Lehrbuch in diesem Feld vorzulegen. Cloerkes knüpft, allerdings ohne jede dogmatische Neigung, an die Tradition eines symbolischen Interaktionismus an und beschäftigt sich seit seiner Studienzeit mit ebenso klassischen wie nach wie vor systematisch zentralen Themen der Behindertensoziologie: Begriffe und Modelle von Behinderung, soziale Reaktionen auf behinderte Menschen und deren Auswirkungen auf die Identität der Betroffenen sowohl in einer mikrosoziologisch-sozialpsychologischer Dimension sowie im gesellschaftlichen und interkulturellen Vergleich, Familie und Freizeit von Menschen mit Behinderungen u.a.m.
  • Kai Felkendorff arbeitet am Departement Forschung und Entwicklung der Pädagogischen Hochschule Zürich disziplinär in Sonderpädagogik und Soziologie und thematisch u.a. zu Fragen der (gesellschaftlichen und wissenschaftlichen) Definition, Klassifikation und Messung von Behinderung.
  • Reinhard Markowetz ist Professor für Heil- und Inklusionspädagogik an der Katholischen Fachhochschule Freiburg. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen vor allem auf den Bereichen von Freizeit und beruflicher Teilhabe behinderter Menschen.

Inhalte

  • Zwei Kapitel, in denen es um die Begriffe und Modelle von "Behinderung" geht, leiten das Buch ein. Gegenüber der zweiten Auflage  wurde insbesondere eine Darstellung des mittlerweile veränderten Modells von Behinderung der WHO im Kontext der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) aufgenommen.
  • Auch im folgenden Kapitel "Behinderung als soziales Problem" wurde eine Reihe von Aktualisierungen insbesondere der statistischen Daten zur Beschulung behinderter Kinder und Jugendlicher vorgenommen. Dem Leser und der Leserin wird hier anschaulich verdeutlicht, dass die Frage nach der "Definition" von "Behinderung" und "Behinderten" nicht nur eine theoretische Frage ist, sondern - besonders augenfällig an den Sonderschulstatistiken - die Antworten darauf bedeutsame Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Behinderung haben - und in der Folge auf das Leben und die Lebensmöglichkeiten von behinderten Menschen.
  • Eine umfassende Erweiterung und Umgestaltung hat das daran anschließende   Kapitel "Institutionalisierung von Behinderung" erfahren. Darin zeigen Günther  Cloerkes und Kai Felkendorff die rechtliche und institutionelle Dimension der "Definition" von Behinderung und der Gewährleistung von Teilhabechancen und Lebensmöglichkeiten für behinderte Menschen auf. Die Neufassung des Kapitels trägt dem rasanten (sozial-)rechtlichen und institutionellen Wandel in diesem Bereich Rechnung. Es wird ein umfassender Überblick über den Stand der Sozialgesetzgebung und ihrer Folgeprobleme in Deutschland gegeben; die Grundzüge der Sozialpolitik für behinderte Menschen ab 1970 werden charakterisiert; an der Leistungssystematik des SGB IX entlang werden im folgenden dann in einer sehr dichten, ebenso strukturierten wie detailreichen Darstellung zentrale, für die Lebensmöglichkeiten behinderter Menschen relevante Institutionen in den unterschiedlichen Teilhabebereichen (Arbeit, Wohnen, Bildung, Mobilität, Freizeit, politische Teilhabe) vorgestellt.
  • In einem im Vergleich dazu sehr knappen  Kapitel "Behinderung und sozio-ökonomische Bedingungen" werden zentrale Befunde zum Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Behinderung vorgestellt, bevor in den beiden Folgekapiteln "Einstellung und Verhalten gegenüber behinderten Menschen" und "Behinderung als Stigma" Günther Cloerkes in beeindruckender Differenziertheit Konzepte und Forschungsbefunde zur Frage der "sozialen Reaktionen" im Umgang mit Behinderung entfaltet. Das Spektrum reicht dabei von einer mikrosoziologischen Analyse von Einstellungen und Interaktionsparadoxa bis zur kulturvergleichenden Untersuchung, von der an Goffman und den symbolischen Interaktionismus anknüpfenden Auseinandersetzung mit elementaren Stigmatisierungsprozessen und ihrer Konsequenzen für die Identität der Betroffenen bis zu Fragen der gesellschaftlichen Veränderung und Veränderbarkeit solcher sozialer Reaktionsmuster. Hier liegt, weit über die Vermittlung von Lehrbuchwissen hinausgehend, ein originärer Beitrag von Cloerkes zur Konturierung der Disziplin vor. Dabei nimmt Cloerkes Bewährtes aus der soziologischen Diskussion (Goffman u.a.) und Forschungslage, aber auch aus sozialpsychologischen Nachbardisziplinen auf und synthetisiert es, ohne deswegen den soziologischen Fokus aus den Augen zu verlieren.
  • Die Frage der Veränderung und Veränderbarkeit sozialer Reaktionsmuster gegenüber behinderten Menschen greift auch das siebte Kapitel "Inklusion und soziale Integration von Menschen mit Behinderungen" des Koautors Reinhard Markowetz auf. Das Kapitel wurde gegenüber der zweiten Auflage um eine (zu Recht kritische) Auseinandersetzung mit dem in den letzten Jahren in die disziplinäre und interdisziplinäre Diskussion Begriff der "Inklusion" angereichert. Von der Sache her naheliegend, nimmt das Kapitel in dieser (und anderer) Hinsicht insbesondere auch sonder- und heilpädagogische Ansätze auf und setzt sich mit ihnen kritisch auseinander. Daran schließt sich ein Überblick über verschiedene Formen, Kontexte und Institutionalisierungen von "Integration" an (Überschneidungen und Doppelungen gegenüber Kapitel 3 lasen sich dabei nicht immer vermeiden).
  • Integrations- (und Inklusion)fragen werden dann in den beiden folgenden Kapiteln beispielhaft an zwei, gerade auch für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen wichtigen Lebensbereichen vertieft: der Familie ("Familien mit behinderten Kindern") und der Freizeit ("Freizeit behinderter Menschen", Autor: Reinhard Markowetz). 
  • Ein Kapitel, das sich mit Fragen des professionellen und beruflichen Profils von Sonderschullehrern ("Sonderschullehrer und Menschenbild") auseinander setzt, schließt das Lehrbuch ab.

Zielgruppe

Gerade die zuletzt genannten Kapitel verweisen nochmals auf die Hauptzielgruppe des Lehrbuches, nämlich Studierende und generell Vertreter aller Disziplinen, die in irgendeiner Hinsicht mit Menschen mit Behinderungen zu tun haben (Sonder-, Heilpädagogik, Rehabilitationswissenschaft, Sozialpädagogik u.a.), die zentrale soziologische Zugangsweisen und Befunde kennen lernen wollen und zugleich Anregungen für die Weiterarbeit bekommen wollen. Darüber hinaus verfolgt das Lehrbuch, wie jedes Lehrbuch, aber auch den weitergehenden Anspruch, eine Aussage über einen erreichten spezifischen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu machen und richtet sich insofern auch an ein Fachpublikum.

Fachliche Einschätzungen

In einem unlängst veröffentlichten Plädoyer für mehr (System-)Theorie in der Behindertensoziologie von Ralf Wetzel heißt es im Zusammenhang einer eher skeptischen Aufarbeitung der aktuellen Diskussionslage: "Vorbei anscheinend auch die intensive soziologische Arbeit eines Günther Cloerkes  (2001), an dessen symbolischem Interaktionismus beachtlicherweise heute immer noch kaum ein Vorbeikommen ist, obwohl es kaum substanzielle Weiterentwicklungen gegeben hat." (Wetzel in Heilpädagogik 03/07: 65). Ob man sich nun der Forderung nach mehr Systemtheorie anschließen will oder nicht - diese Bemerkung eines der Nähe zum Symbolischen Interaktionismus unverdächtigen jüngeren Autors verweist doch auf eine erhebliche Integrationskraft des Lehrbuches von Günther Cloerkes.

Der Ausdruck "intensive soziologische Arbeit" bringt gerade den Gestus der zentralen Kapitel gut auf den Punkt. Cloerkes verbindet hier analytische Präzision und Detailkenntnis, theoretische Bezugnahme und empirische Gründlichkeit und realisiert damit mustergültig, was Robert Merton einmal als "Theorien mittlerer Reichweite" bezeichnet hat und worin für diesen das eigentliche Betätigungsfeld einer empirischen Wissenschaft zu suchen ist - weder Supertheorie, noch bloße "Erbsenzählerei", sondern begrifflich angeleitete empirische Erfahrungswissenschaft. Cloerkes ist theoretisch orientiert und reflektiert, aber er entfaltet kein Programm, keine Supertheorie, kein Paradigma, sondern bleibt auf dem Boden eines kritischen soziologischen Common Sense. Und das ist genau die Haltung, die man sich von einem Lehrbuch erwartet und von der man sich wünscht, dass sie an dessen Leserinnen und Leser vermittelt werden soll.

Der von Wetzel erwähnte Umstand, dass es "keine substanzielle Weiterentwicklung" (z.B. des Behinderungsbegriffs, der Stigmatheorie usw.) gegeben habe, könnte schlicht damit zusammen hängen, dass es bei einer ganzen Reihe zentraler Themen aus sachlichen Gründen auch keiner konzeptuellen Weiterentwicklung bedurfte. Gerade wenn man manche Windungen angeblich aktueller Diskussionen verfolgt, kann man sich das fragen. Das gilt für die teilweise enervierenden Neuauflagen der Diskussionen um Behinderungsbegriffe (die dann im Ergebnis doch wieder sehr nahe bei den Cloerkeschen Bestimmungen landen bzw. deren Vorzüge erkennen lassen) ebenso wie für die Umkostümierung stigma- und etikettierungstheoretischer Erkenntnisse in konstruktivistische und andere Sprachspiele. Das gilt für die Frage, ob man als Soziologin oder Soziologe eigentlich wirklich einen "kulturalistischen" Paradigmenwechsel benötigt, um sich mit kultursoziologischen (kulturhistorischen wie kulturvergleichenden) Aspekten auch von Behinderung (wie jedes Themas!) zu beschäftigen, so wie Cloerkes das ganz selbstverständlich tut, einfach weil das auch (aber eben auch) zum fachlichen Profil von Soziologie gehört. Insofern ist das Lehrbuch auch ein heilsames Gegenmittel gegen eine gelegentlich grassierende "Paradigmitis" der deutschen Diskussion.

Dass das Lehrbuch in nunmehr dritter Auflage überarbeitet wird, spricht dafür, dass es sich um ein "work in progress" handelt, und das ist für ein Lehrbuch ebenfalls ein Gütekriterium. Insofern liegt es nahe, schon mal Wünsche für die vierte Auflage anzumelden, die mit ziemlicher Sicherheit kommen wird. So würde sich der Rezensent beispielsweise wünschen, dass das Kapitel über "soziale Ungleichheit und Behinderung" ein ähnliches Gewicht erhält wie die beiden Kernkapitel des Buches. Schön wäre auch ein zusätzliches Kapitel, das insbesondere die amerikanische Tradition der Disability Studies einbezieht, schon deswegen, weil es im Sinne des Lehrbuchs zeigen könnte, dass dort ein viel direkterer Konnex zu einer erfahrungswissenschaftlichen Soziologie besteht als in Europa. Andere Wünsche und Desiderate sind vorstellbar  -  dass sie nicht alle erfüllbar sind, wenn das Ganze nicht zusehends von einem Lehrbuch zu einem Handbuch werden soll, ist aber auch klar. Doch solche Wünsche zeigen, dass wir es hier sozusagen mit einem "lebendigen" Buch zu tun haben. Mehr kann man sich wiederum als Autor eigentlich nicht wünschen.

Fazit

Die "Soziologie der Behinderten" ist nach wie vor ein Muss für alle, die professionell und wissenschaftlich mit Fragen des Behindert-Seins und Behindert-Werdens befasst sind. Das Buch bleibt anregend und aktuell - und zwar sowohl in seinen in der dritten Auflage aktualisierten Teilen wie in den unverändert übernommenen Teilen.

Rezension von
Prof. Dr. Jörg Michael Kastl
Professor für Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Fakultät für Sonderpädagogik. Arbeitsgebiete: Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung, Rehabilitation/Teilhabe behinderter Menschen (Persönliches Budget, IFD); Berufs- und Professionssoziologie; Sozialrecht und Sozialpolitik (spez. Rehabilitation); Sozialisationsforschung und allgemeine Soziologie
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Es gibt 14 Rezensionen von Jörg Michael Kastl.

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Zitiervorschlag
Jörg Michael Kastl. Rezension vom 12.11.2007 zu: Günther Cloerkes: Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. Universitätsverlag Winter (Heidelberg) 2007. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. ISBN 978-3-8253-8334-3. Reihe: Edition S. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5104.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.


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